Krieg in Europa 2.0
Erlaubt die Geschichte der Jugoslawienkriege Vorhersagen für die Ukraine? Lassen sich Lehren ziehen? Parallelen und Unterschiede im Vergleich.
Krieg in Europa! Der Schreckensruf erscholl vor etwas mehr als dreißig Jahren schon einmal: Am 27. Juni 1991 rollten Panzer der Jugoslawischen Volksarmee an die Grenzübergänge des Landes mit Italien und Österreich. Das Ziel: Die jugoslawische Teilrepublik Slowenien an der Abspaltung hindern.
Ist es möglich aufgrund der Geschichte der Jugoslawienkriege etwas für die Ukraine vorherzusehen? Ein Vergleich.
Krieg in Europa! Der Schreckensruf erscholl vor etwas mehr als dreißig Jahren schon einmal: Am 27. Juni 1991 rollten Panzer der Jugoslawischen Volksarmee an die Grenzübergänge des Landes mit Italien und Österreich. Das Ziel: Die jugoslawische Teilrepublik Slowenien an der Abspaltung hindern.
Russland wollte die Ukraine rasch “enthaupten” und ein Marionettenregime einsetzen. Der Versuch scheiterte. Stattdessen führt die russische Armee jetzt Krieg im ganzen Land. Auch damals in Jugoslawien änderte sich in wenigen Tagen und Wochen das Kriegsziel: Erst versuchte die Armee, den Bundesstaat gewaltsam zusammenzuhalten. Als das nicht gelang, begann in Kroatien und bald darauf in Bosnien ein Krieg um die territoriale Konkursmasse der untergehenden Föderation. Am Ende, 1998/99, kämpfte eine “Befreiungsarmee” für die Unabhängigkeit des Kosovo. Die Ziele wechselten, der Krieg blieb.
Kriegsziele
Die Lehre: Wenn das Ziel nicht erreicht wird, herrscht noch lange kein Friede.
Keine Großmacht, auch nicht Russland, hatte am kriegerischen Zerfall Jugoslawiens ein Interesse, im Gegenteil: Die Mächte koordinierten ihre – lange Zeit vergeblichen – Friedensbemühungen untereinander. Im UN-Sicherheitsrat wurde um Einzelheiten hart gerungen, aber es kam immer wieder zu gemeinsamen Resolutionen. Heute sind die UN hingegen durch das russische Veto gelähmt. Die neue Weltmacht China schließt sich der Verurteilung der russischen Aggression nicht an. Moskau hat Atomwaffen und droht damit. Anders als vor 30 Jahren ist der Weltfrieden in Gefahr.
Die Lehre: Oberflächliche Parallelen wie die zwischen Putin und einem Slobodan Milošević, dem man nur rechtzeitig hätte militärisch entgegentreten sollen, führen in die Irre.
In Bosnien versuchte erst die serbische und dann auch die kroatische Seite, “ethnisch reine” Territorien zu schaffen. In der Ukraine dagegen hat die russische Armee das Ziel, das ganze Land zu unterwerfen und mindestens große Teile davon zu besetzen. Es geht um den Staat, nicht um das Volk. “Ethnische Säuberung” ist nicht geplant. Sie wäre in der Ukraine, die zwölfmal so groß ist wie Bosnien, auch nicht durchführbar.
Die Lehre: Flüchtlinge aufnehmen! Niemand muss fürchten, dass sie für immer bleiben.
Die bosnische Hauptstadt Sarajevo wurde von April 1992 bis September 1995 belagert. Das Ziel war aber nicht die Einnahme und die Vertreibung der Bevölkerung, wie in etlichen kleineren bosnischen Städten. Vielmehr diente die Stadt als Geisel oder als Pfand für späteren Gebietstausch. Für diesen Zweck musste Sarajevo nicht ausgehungert oder vollständig von Strom und Wasser abgeschnitten werden; nach zwei Monaten gänzlicher Abriegelung wurde die Stadt über eine Luftbrücke notdürftig und unregelmäßig versorgt.
Belagert werden auch etliche ukrainische Städte, die oft noch viel größer sind als Sarajevo – Mariupol etwa, mit ähnlich vielen Einwohnern wie die bosnische Hauptstadt, ist im Land nur die zehntgrößte. Anders als Sarajevo sollen die ukrainischen Städte eingenommen werden. Das kann bedeuten, dass die Lage dort noch schlimmer wird als damals – eben um die Übergabe zu erzwingen.
Die Lehre: Wichtiger als alles andere sind Versorgungskorridore.
Wird die Lage unerträglich, fehlen – wie in Mariupol und Charkiw schon jetzt – Medikamente. Sind Strom und Wasser abgestellt, mangelt es schließlich an Lebensmitteln, der Ruf nach Fluchtwegen wird lauter. Humanitäre Organisationen können helfen. Aber: “Man fühlt sich bei Evakuierungen nie besonders wohl, weil man damit de facto auch taktisch ins Kriegsgeschehen eingreift”, sagt Hansjörg Strohmeyer, Direktor für Strategie beim UN-Amt für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA).
Hat die Zivilbevölkerung eine Stadt erst verlassen, kann eine angreifende Armee sie leicht einnehmen. “Wir haben da eine klare Meinung”, sagt Strohmeyer: “Wir evakuieren nur, wenn beide Parteien und die Menschen selbst das wollen. Und dann unterstützen wir sie.” Dass aus der angekündigten Evakuierung von Mariupol an der Schwarzmeerküste so lange nichts wurde, muss einen nicht wundern.
Nach ukrainischen Angaben sollten 200.000 der rund 440.000 Einwohner die Stadt verlassen. “Das ist eine riesige Zahl”, sagt Strohmeyer, “logistisch ungeheuer kompliziert”. Wolle man alle Menschen auf einen Schlag evakuieren, “bräuchte man wahrscheinlich eine lange, vielleicht zweiwöchige Feuerpause.” Man werde es also in verschiedenen Tranchen versuchen. “Da muss alles bis ins kleinste Detail vereinbart sein. Wie lange kann ein Konvoi aus Mariupol unterwegs sein? Und wo gehen die Menschen hin? Das dauert – und es braucht Vertrauen.”
Die Lehre: Trotz der enormen Flüchtlingszahlen wird die Mehrheit der Menschen bleiben.
Nach Monaten des Krieges, erst in Kroatien, dann in Bosnien, stationierten die UN im Land eine Blauhelmtruppe. Sie unterstützte die Infrastruktur, hielt Straßen frei, überblickte die Gefechtslage und konnte warnen. Sie konnte aber die Zivilbevölkerung gegen Beschuss und Vertreibung nicht schützen. In der Ukraine ist eine solche Truppe schwer vorstellbar. Aus humanitärer Sicht hält OCHA-Direktor Strohmeyer das nicht für einen Nachteil.
Ohne eine Friedenstruppe, die leicht Gegenstand von taktischen Manipulationen der Kriegsparteien werden kann, können Hilfsorganisationen überzeugender neutral agieren. “Es gehört zum humanitären Einmaleins, dass man mit den beteiligten Armeen ganz detaillierte Informationen austauscht”, sagt Hansjörg Strohmeyer. “Wenn ein Konvoi angekündigt wird, gibt es dann ein präzises Zeitfenster – das vielleicht auch mal verschoben werden muss, dann aber respektiert wird.” Erleichtert wird das Geschäft dadurch, dass sich in der Ukraine zwei professionelle Armeen gegenüberstehen, keine Freischärler-Banden wie häufig in Afrika oder auch in Syrien.
Die Lehre: Mehr militärische Präsenz, auch in Form einer Friedenstruppe, erhöht den Schutz der Zivilbevölkerung nicht.
In Bosnien richtete der UN-Sicherheitsrat eine Flugverbotszone ein – wie sie jetzt auch von der ukrainischen Regierung gefordert wird. Der Grund war nicht, dass Luftangriffe im Krieg so eine große Rolle gespielt hätten. Flugverbotszonen gelten vielmehr traditionell als Einstieg in eine Militärintervention. Wer das Flugverbot überwacht, muss nicht nur Kampfflieger einer Kriegspartei abschießen, sondern auch ihre Flugabwehr am Boden bomdardieren – und wird damit selbst zur Kriegspartei.
Folgenreicher aber als die tatsächlichen Interventionen waren in den Jugoslawienkriegen der Neunzigerjahre die Debatten darum. Intervenieren oder nicht? Monatelang wurde in den westlichen Regierungen darum gerungen. Für die verteidigende Kriegspartei waren diese Diskussionen ein Anreiz, die Lage am Boden noch zu eskalieren: Je schlimmer es wurde, desto größer die Chance, dass die NATO einem am Ende doch noch zu Hilfe kam.
Krieg in Europa! Der Schreckensruf erscholl vor etwas mehr als dreißig Jahren schon einmal: Am 27. Juni 1991 rollten Panzer der Jugoslawischen Volksarmee an die Grenzübergänge des Landes mit Italien und Österreich. Das Ziel: Die jugoslawische Teilrepublik Slowenien an der Abspaltung hindern.
Ist es möglich aufgrund der Geschichte der Jugoslawienkriege etwas für die Ukraine vorherzusehen? Ein Vergleich.
Kriegsziele
Russland wollte die Ukraine rasch “enthaupten” und ein Marionettenregime einsetzen. Der Versuch scheiterte. Stattdessen führt die russische Armee jetzt Krieg im ganzen Land. Auch damals in Jugoslawien änderte sich in wenigen Tagen und Wochen das Kriegsziel: Erst versuchte die Armee, den Bundesstaat gewaltsam zusammenzuhalten. Als das nicht gelang, begann in Kroatien und bald darauf in Bosnien ein Krieg um die territoriale Konkursmasse der untergehenden Föderation. Am Ende, 1998/99, kämpfte eine “Befreiungsarmee” für die Unabhängigkeit des Kosovo. Die Ziele wechselten, der Krieg blieb.
Die Lehre: Wenn das Ziel nicht erreicht wird, herrscht noch lange kein Friede.
Keine Großmacht, auch nicht Russland, hatte am kriegerischen Zerfall Jugoslawiens ein Interesse, im Gegenteil: Die Mächte koordinierten ihre – lange Zeit vergeblichen – Friedensbemühungen untereinander. Im UN-Sicherheitsrat wurde um Einzelheiten hart gerungen, aber es kam immer wieder zu gemeinsamen Resolutionen. Heute sind die UN hingegen durch das russische Veto gelähmt. Die neue Weltmacht China schließt sich der Verurteilung der russischen Aggression nicht an. Moskau hat Atomwaffen und droht damit. Anders als vor 30 Jahren ist der Weltfrieden in Gefahr.
Die Lehre: Oberflächliche Parallelen wie die zwischen Putin und einem Slobodan Milošević, dem man nur rechtzeitig hätte militärisch entgegentreten sollen, führen in die Irre.
Rahmenbedingungen
In Bosnien versuchte erst die serbische und dann auch die kroatische Seite, “ethnisch reine” Territorien zu schaffen. In der Ukraine dagegen hat die russische Armee das Ziel, das ganze Land zu unterwerfen und mindestens große Teile davon zu besetzen. Es geht um den Staat, nicht um das Volk. “Ethnische Säuberung” ist nicht geplant. Sie wäre in der Ukraine, die zwölfmal so groß ist wie Bosnien, auch nicht durchführbar.
Strategien
Die Lehre: Flüchtlinge aufnehmen! Niemand muss fürchten, dass sie für immer bleiben.
Die bosnische Hauptstadt Sarajevo wurde von April 1992 bis September 1995 belagert. Das Ziel war aber nicht die Einnahme und die Vertreibung der Bevölkerung, wie in etlichen kleineren bosnischen Städten. Vielmehr diente die Stadt als Geisel oder als Pfand für späteren Gebietstausch. Für diesen Zweck musste Sarajevo nicht ausgehungert oder vollständig von Strom und Wasser abgeschnitten werden; nach zwei Monaten gänzlicher Abriegelung wurde die Stadt über eine Luftbrücke notdürftig und unregelmäßig versorgt.
Belagert werden auch etliche ukrainische Städte, die oft noch viel größer sind als Sarajevo – Mariupol etwa, mit ähnlich vielen Einwohnern wie die bosnische Hauptstadt, ist im Land nur die zehntgrößte. Anders als Sarajevo sollen die ukrainischen Städte eingenommen werden. Das kann bedeuten, dass die Lage dort noch schlimmer wird als damals – eben um die Übergabe zu erzwingen.
Belagerung
Die Lehre: Wichtiger als alles andere sind Versorgungskorridore.
Wird die Lage unerträglich, fehlen – wie in Mariupol und Charkiw schon jetzt – Medikamente. Sind Strom und Wasser abgestellt, mangelt es schließlich an Lebensmitteln, der Ruf nach Fluchtwegen wird lauter. Humanitäre Organisationen können helfen. Aber: “Man fühlt sich bei Evakuierungen nie besonders wohl, weil man damit de facto auch taktisch ins Kriegsgeschehen eingreift”, sagt Hansjörg Strohmeyer, Direktor für Strategie beim UN-Amt für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA).
Evakuierungen
Hat die Zivilbevölkerung eine Stadt erst verlassen, kann eine angreifende Armee sie leicht einnehmen. “Wir haben da eine klare Meinung”, sagt Strohmeyer: “Wir evakuieren nur, wenn beide Parteien und die Menschen selbst das wollen. Und dann unterstützen wir sie.” Dass aus der angekündigten Evakuierung von Mariupol an der Schwarzmeerküste so lange nichts wurde, muss einen nicht wundern.
Schutz der Zivilbevölkerung
Nach ukrainischen Angaben sollten 200.000 der rund 440.000 Einwohner die Stadt verlassen. “Das ist eine riesige Zahl”, sagt Strohmeyer, “logistisch ungeheuer kompliziert”. Wolle man alle Menschen auf einen Schlag evakuieren, “bräuchte man wahrscheinlich eine lange, vielleicht zweiwöchige Feuerpause.” Man werde es also in verschiedenen Tranchen versuchen. “Da muss alles bis ins kleinste Detail vereinbart sein. Wie lange kann ein Konvoi aus Mariupol unterwegs sein? Und wo gehen die Menschen hin? Das dauert – und es braucht Vertrauen.”
Die Lehre: Trotz der enormen Flüchtlingszahlen wird die Mehrheit der Menschen bleiben.
Nach Monaten des Krieges, erst in Kroatien, dann in Bosnien, stationierten die UN im Land eine Blauhelmtruppe. Sie unterstützte die Infrastruktur, hielt Straßen frei, überblickte die Gefechtslage und konnte warnen. Sie konnte aber die Zivilbevölkerung gegen Beschuss und Vertreibung nicht schützen. In der Ukraine ist eine solche Truppe schwer vorstellbar. Aus humanitärer Sicht hält OCHA-Direktor Strohmeyer das nicht für einen Nachteil.
Ohne eine Friedenstruppe, die leicht Gegenstand von taktischen Manipulationen der Kriegsparteien werden kann, können Hilfsorganisationen überzeugender neutral agieren. “Es gehört zum humanitären Einmaleins, dass man mit den beteiligten Armeen ganz detaillierte Informationen austauscht”, sagt Hansjörg Strohmeyer. “Wenn ein Konvoi angekündigt wird, gibt es dann ein präzises Zeitfenster – das vielleicht auch mal verschoben werden muss, dann aber respektiert wird.” Erleichtert wird das Geschäft dadurch, dass sich in der Ukraine zwei professionelle Armeen gegenüberstehen, keine Freischärler-Banden wie häufig in Afrika oder auch in Syrien.
Die Lehre: Mehr militärische Präsenz, auch in Form einer Friedenstruppe, erhöht den Schutz der Zivilbevölkerung nicht.
In Bosnien richtete der UN-Sicherheitsrat eine Flugverbotszone ein – wie sie jetzt auch von der ukrainischen Regierung gefordert wird. Der Grund war nicht, dass Luftangriffe im Krieg so eine große Rolle gespielt hätten. Flugverbotszonen gelten vielmehr traditionell als Einstieg in eine Militärintervention. Wer das Flugverbot überwacht, muss nicht nur Kampfflieger einer Kriegspartei abschießen, sondern auch ihre Flugabwehr am Boden bomdardieren – und wird damit selbst zur Kriegspartei.
Folgenreicher aber als die tatsächlichen Interventionen waren in den Jugoslawienkriegen der Neunzigerjahre die Debatten darum. Intervenieren oder nicht? Monatelang wurde in den westlichen Regierungen darum gerungen. Für die verteidigende Kriegspartei waren diese Diskussionen ein Anreiz, die Lage am Boden noch zu eskalieren: Je schlimmer es wurde, desto größer die Chance, dass die NATO einem am Ende doch noch zu Hilfe kam.
Die Lehre: Wer die Weltkatastrophe verhindern will, muss manchmal auch den Mut haben, zu Forderungen der angegriffenen Partei klar und deutlich nein zu sagen.