Deutschland

Unterricht für ukrainische Flüchtlingskinder

Ihre Heimat haben sie schon verloren. Deutsche Schulen wollen dafür sorgen, dass ukrainische Flüchtlingskinder nicht auch ihre Zukunft verlieren. Eine Mammutaufgabe – auch wegen der Corona-Pandemie.

Jeden Tag kommen am Berliner oder Kölner Hauptbahnhof minderjährige Flüchtlinge an, die allein aus der Ukraine angereist sind. Freiwillige finden sie am Bahnsteig, nachdem der Zug abgefahren ist, still und bewegungslos. Schätzungsweise die Hälfte aller ukrainischen Flüchtlinge, die in Deutschland ankommen, sind Schulkinder. Vom Schulweg zur Fluchtroute: Das Leben dieser Kinder hat sich auf brutale Weise gewandelt. 

Um den hilflosesten Opfern des Kriegs-Irrsinns eine Zukunft zu geben, wollen in Deutschland Bundesländer, Kommunen und Schulen für ihre Betreuung sorgen. Es ist der Versuch, ihr Schicksal ein Stück weit erträglicher zu machen, ihnen eine Perspektive zu geben. Und der Bedarf ist enorm: “Die Bundesländer haben festgestellt, dass der Zustrom geflüchteter Kinder weitaus größer ist, als man das anfangs vermutet hatten”, sagt der Bundesvorsitzender des Verbandes Bildung und Erziehung VBE, Udo Beckmann, im DW-Gespräch. Nun prüften sie, in welchen Schulen, in welchen Bereichen es Möglichkeiten gibt, Räume zur Verfügung zu stellen. “Und wo haben wir Lehrer, die zum Beispiel spezialisiert sind auf Deutsch als Fremdsprache oder Deutsch als Zweitsprache.”

Jeden Tag kommen am Berliner oder Kölner Hauptbahnhof minderjährige Flüchtlinge an, die allein aus der Ukraine angereist sind. Freiwillige finden sie am Bahnsteig, nachdem der Zug abgefahren ist, still und bewegungslos. Schätzungsweise die Hälfte aller ukrainischen Flüchtlinge, die in Deutschland ankommen, sind Schulkinder. Vom Schulweg zur Fluchtroute: Das Leben dieser Kinder hat sich auf brutale Weise gewandelt. 

Aber nach mehr als zwei Jahren Corona-Pandemie, die das deutsche Bildungssystem bis an oder teilweise sogar über die Grenze seiner strukturellen Belastbarkeit brachte, sind viele Lehrende erschöpft und am Limit ihrer Kräfte angelangt.

Größerer Bedarf als erwartet

Schon vor der Pandemie klagten Schulen über Lehrkräfte-Mangel. Das hat sich durch das Virus, durch die zusätzlichen krankheitsbedingten Ausfälle verschärft. Jetzt gebe es die doppelte Herausforderung, “dass wir gleichzeitig noch geflüchtete Kinder mit auffangen müssen in Schulen mit zu wenig Personal”, umfasst VBE-Chef Beckmann die Situation.

Der Deutsche Lehrerverband warnt sogar von einem derzeit so hohen Krankenstand wie noch nie während der Pandemie. Er schätzt, dass etwa zehn Prozent der Lehrkräfte vor allem krankheitsbedingt verhindert sind. “Nicht alle davon wegen Corona. Es gibt auch andere Ausfallgründe, aber normalerweise ist das weniger als die Hälfte”, rechnet der Präsident des Deutschen Lehrerverbands, Heinz-Peter Meidinger, der DW vor.

Dabei steht aller Voraussicht nach eine weitere, wahrscheinlich noch schwierigere Herausforderung bevor. Viele Flüchtlingskinder sahen die Angst in den Augen ihrer Eltern, dürften traumatisiert sein und eine intensive Betreuung benötigen. “Sie haben eine Flucht hinter sich, die viele, viele Stunden und Tage gedauert hat. Sie mussten sich wahrscheinlich von ihren Vätern verabschieden. Sie haben vielleicht miterlebt, dass ihr Haus zerbombt worden ist”, sagt Anja Bensinger-Stolze von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft GEW der DW.

Diese Erlebnisse könnten jetzt oder später bei Kindern und Jugendlichen zu Traumata führen. Das sollten diese aber nicht mit sich herumschleppen müssen. “Deshalb brauchen sie psychologische Unterstützung, entweder direkt durch SchulpsychologInnen oder durch Lehrkräfte, die dafür geschult sind”, fordert Bensinger-Stolze. Die Lehrerinnen und Lehrer müssten dann entscheiden, wie mit der Situation umzugehen und ob zusätzliche Beratung hinzuzuziehen sei.

Angesichts der Brisanz beschloss die Kultusministerkonferenz vor wenigen Tagen eine Task Force zur Koordinierung und eine zentrale Kontaktstelle für alle Beteiligten einzurichten. Geflüchtete Schülerinnen und Schüler sollen “unbürokratisch” an den Schulen willkommen geheißen werden. Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger schlug vor, geflüchtete Lehrerinnen und Lehrer aus der Ukraine an Schulen und Kitas in Deutschland arbeiten zu lassen, um die personelle Notlage ein wenig zu entschärfen. “Es braucht eine schnelle Lösung”, betonte die Ministerin.

Niemand kann allerdings bisher einschätzen, wie viele Lehrer es unter den Flüchtlingen gibt und inwieweit sie in Deutschland aufgrund ihrer Qualifikationen überhaupt einsetzbar wären. Lehrerverbands-Chef Meidinger ist deshalb skeptisch. Seine Prognose: “Das wird ein Tropfen auf dem heißen Stein und nicht der Lösungs-Schlüssel sein.” Mehr Hilfe verspricht sich Meidinger von der “großen Anzahl pensionierter Lehrkräfte, die bislang eigentlich abgelehnt hatten, noch mal einzuspringen, aber angesichts dieser humanitären Katastrophe sagen, ‘da würde ich mich in die Pflicht nehmen lassen.'” 

Meidinger sieht die Betreuung der Flüchtlingskinder als “nationale Herausforderung”, die ohne Hilfe des Bundes nicht bewältigt werden kann. “Wir vom Deutschen Lehrerverband erwarten, dass allen Ländern entsprechende Zusatzbeiträge für die Anstellung von Lehrkräften auch für bestimmte gesonderte Maßnahmen zur Verfügung gestellt werden.”

Zudem könnte Deutschland auf Erfahrungen zurückgreifen, die während der syrischen Fluchtbewegung 2015/16 gemacht wurden. Damals sind in vielen Regionen sogenannte Willkommensklassen und Sprachlernklassen gebildet worden. “Diese Grundstrukturen kann man schnell wieder reaktivieren”, ist Udo Beckmann, vom Verband Bildung und Erziehung VBE überzeugt. Berlin beispielsweise plant 50 Willkommensklassen für Jugendliche ab 16 Jahren, die vor dem Krieg in der Ukraine geflohen sind. 

Aber es gibt große Fragen, die noch offenbleiben: Wie viele Flüchtlingskinder werden kommen? Werden es mehrere Zehntausend sein? Oder mehrere Hunderttausend? Ein weiterer Unsicherheitsfaktor ist die Frage, wie lange sie bleiben werden. Erfüllt sich die Hoffnung der ukrainischen Flüchtlingsfamilien, dass ihr Aufenthalt begrenzt ist und sie bald wieder in ihre Heimat zurückkehren können? Oder muss sich Deutschland auf einen längeren, vielleicht sogar dauerhaften Aufenthalt einrichten?

Fest steht immerhin die grundsätzliche Hilfsbereitschafft der Zivilgesellschaft. Deutschland feiert ein Comeback der Willkommenskultur. “Ich habe den Eindruck, dass es eine große Solidarität gibt. Sehr viele Menschen gehen auf die Straße und zeigen gegen den Krieg Flagge. Viele Menschen helfen ganz konkret”, sagt GEW-Bildungsexpertin Anja Bensinger-Stolze und fügt hinzu: “Das zeigt: Große Teile der Gesellschaft legen eine Willkommenskultur an den Tag.”

Angesichts des strapazierten Bildungssystems gilt allerdings wohl auch heute noch der Satz, den der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck während der Migrationskrise 2015 sagte: “Unser Herz ist weit, doch unsere Möglichkeiten sind endlich.”

Ukraine | Krieg | Ein Vater verabschiedet seine Familie am Bahnhof von Lwiw

Jeden Tag kommen am Berliner oder Kölner Hauptbahnhof minderjährige Flüchtlinge an, die allein aus der Ukraine angereist sind. Freiwillige finden sie am Bahnsteig, nachdem der Zug abgefahren ist, still und bewegungslos. Schätzungsweise die Hälfte aller ukrainischen Flüchtlinge, die in Deutschland ankommen, sind Schulkinder. Vom Schulweg zur Fluchtroute: Das Leben dieser Kinder hat sich auf brutale Weise gewandelt. 

Um den hilflosesten Opfern des Kriegs-Irrsinns eine Zukunft zu geben, wollen in Deutschland Bundesländer, Kommunen und Schulen für ihre Betreuung sorgen. Es ist der Versuch, ihr Schicksal ein Stück weit erträglicher zu machen, ihnen eine Perspektive zu geben. Und der Bedarf ist enorm: “Die Bundesländer haben festgestellt, dass der Zustrom geflüchteter Kinder weitaus größer ist, als man das anfangs vermutet hatten”, sagt der Bundesvorsitzender des Verbandes Bildung und Erziehung VBE, Udo Beckmann, im DW-Gespräch. Nun prüften sie, in welchen Schulen, in welchen Bereichen es Möglichkeiten gibt, Räume zur Verfügung zu stellen. “Und wo haben wir Lehrer, die zum Beispiel spezialisiert sind auf Deutsch als Fremdsprache oder Deutsch als Zweitsprache.”

Größerer Bedarf als erwartet

Aber nach mehr als zwei Jahren Corona-Pandemie, die das deutsche Bildungssystem bis an oder teilweise sogar über die Grenze seiner strukturellen Belastbarkeit brachte, sind viele Lehrende erschöpft und am Limit ihrer Kräfte angelangt.

Schon vor der Pandemie klagten Schulen über Lehrkräfte-Mangel. Das hat sich durch das Virus, durch die zusätzlichen krankheitsbedingten Ausfälle verschärft. Jetzt gebe es die doppelte Herausforderung, “dass wir gleichzeitig noch geflüchtete Kinder mit auffangen müssen in Schulen mit zu wenig Personal”, umfasst VBE-Chef Beckmann die Situation.

Der Deutsche Lehrerverband warnt sogar von einem derzeit so hohen Krankenstand wie noch nie während der Pandemie. Er schätzt, dass etwa zehn Prozent der Lehrkräfte vor allem krankheitsbedingt verhindert sind. “Nicht alle davon wegen Corona. Es gibt auch andere Ausfallgründe, aber normalerweise ist das weniger als die Hälfte”, rechnet der Präsident des Deutschen Lehrerverbands, Heinz-Peter Meidinger, der DW vor.

Dabei steht aller Voraussicht nach eine weitere, wahrscheinlich noch schwierigere Herausforderung bevor. Viele Flüchtlingskinder sahen die Angst in den Augen ihrer Eltern, dürften traumatisiert sein und eine intensive Betreuung benötigen. “Sie haben eine Flucht hinter sich, die viele, viele Stunden und Tage gedauert hat. Sie mussten sich wahrscheinlich von ihren Vätern verabschieden. Sie haben vielleicht miterlebt, dass ihr Haus zerbombt worden ist”, sagt Anja Bensinger-Stolze von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft GEW der DW.

Lehrer-Rekordkrankenstand wegen Corona

Diese Erlebnisse könnten jetzt oder später bei Kindern und Jugendlichen zu Traumata führen. Das sollten diese aber nicht mit sich herumschleppen müssen. “Deshalb brauchen sie psychologische Unterstützung, entweder direkt durch SchulpsychologInnen oder durch Lehrkräfte, die dafür geschult sind”, fordert Bensinger-Stolze. Die Lehrerinnen und Lehrer müssten dann entscheiden, wie mit der Situation umzugehen und ob zusätzliche Beratung hinzuzuziehen sei.

Psychologische Hilfe für traumatisierte Kinder

Angesichts der Brisanz beschloss die Kultusministerkonferenz vor wenigen Tagen eine Task Force zur Koordinierung und eine zentrale Kontaktstelle für alle Beteiligten einzurichten. Geflüchtete Schülerinnen und Schüler sollen “unbürokratisch” an den Schulen willkommen geheißen werden. Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger schlug vor, geflüchtete Lehrerinnen und Lehrer aus der Ukraine an Schulen und Kitas in Deutschland arbeiten zu lassen, um die personelle Notlage ein wenig zu entschärfen. “Es braucht eine schnelle Lösung”, betonte die Ministerin.

Niemand kann allerdings bisher einschätzen, wie viele Lehrer es unter den Flüchtlingen gibt und inwieweit sie in Deutschland aufgrund ihrer Qualifikationen überhaupt einsetzbar wären. Lehrerverbands-Chef Meidinger ist deshalb skeptisch. Seine Prognose: “Das wird ein Tropfen auf dem heißen Stein und nicht der Lösungs-Schlüssel sein.” Mehr Hilfe verspricht sich Meidinger von der “großen Anzahl pensionierter Lehrkräfte, die bislang eigentlich abgelehnt hatten, noch mal einzuspringen, aber angesichts dieser humanitären Katastrophe sagen, ‘da würde ich mich in die Pflicht nehmen lassen.'” 

Meidinger sieht die Betreuung der Flüchtlingskinder als “nationale Herausforderung”, die ohne Hilfe des Bundes nicht bewältigt werden kann. “Wir vom Deutschen Lehrerverband erwarten, dass allen Ländern entsprechende Zusatzbeiträge für die Anstellung von Lehrkräften auch für bestimmte gesonderte Maßnahmen zur Verfügung gestellt werden.”

Unterstützung durch pensionierte Lehrer

Zudem könnte Deutschland auf Erfahrungen zurückgreifen, die während der syrischen Fluchtbewegung 2015/16 gemacht wurden. Damals sind in vielen Regionen sogenannte Willkommensklassen und Sprachlernklassen gebildet worden. “Diese Grundstrukturen kann man schnell wieder reaktivieren”, ist Udo Beckmann, vom Verband Bildung und Erziehung VBE überzeugt. Berlin beispielsweise plant 50 Willkommensklassen für Jugendliche ab 16 Jahren, die vor dem Krieg in der Ukraine geflohen sind. 

Aber es gibt große Fragen, die noch offenbleiben: Wie viele Flüchtlingskinder werden kommen? Werden es mehrere Zehntausend sein? Oder mehrere Hunderttausend? Ein weiterer Unsicherheitsfaktor ist die Frage, wie lange sie bleiben werden. Erfüllt sich die Hoffnung der ukrainischen Flüchtlingsfamilien, dass ihr Aufenthalt begrenzt ist und sie bald wieder in ihre Heimat zurückkehren können? Oder muss sich Deutschland auf einen längeren, vielleicht sogar dauerhaften Aufenthalt einrichten?

Comeback der Willkommenskultur

Fest steht immerhin die grundsätzliche Hilfsbereitschafft der Zivilgesellschaft. Deutschland feiert ein Comeback der Willkommenskultur. “Ich habe den Eindruck, dass es eine große Solidarität gibt. Sehr viele Menschen gehen auf die Straße und zeigen gegen den Krieg Flagge. Viele Menschen helfen ganz konkret”, sagt GEW-Bildungsexpertin Anja Bensinger-Stolze und fügt hinzu: “Das zeigt: Große Teile der Gesellschaft legen eine Willkommenskultur an den Tag.”

Angesichts des strapazierten Bildungssystems gilt allerdings wohl auch heute noch der Satz, den der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck während der Migrationskrise 2015 sagte: “Unser Herz ist weit, doch unsere Möglichkeiten sind endlich.”

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