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Obdach statt Unterricht – wie ein Schulleiter in Lwiw versucht, zu helfen

Der Krieg fing in den Ferien an. Seitdem sind nur noch Geflüchtete in die deutsch-ukrainische Schule in Lwiw gekommen. Der Unterricht findet nun online statt.

Eine ukrainische Flagge weht über dem Eingang der deutsch-ukrainischen Schule in Lwiw. Direktor Ivan Lozenko empfängt uns mit einem strahlenden Lächeln. Eigentlich wollten wir einen Film über den Unterricht in Kriegszeiten drehen, doch die Klassenräume sind verwaist: “Als der Krieg begann, waren die Kinder noch in den Winterferien”, erklärt Lozenko, “seither sind sie nicht wiedergekommen. Schon während der COVID-19-Pandemie haben wir digitale Lernplattformen genutzt. Jetzt, da die Hälfte unserer Schüler im Ausland ist, haben wir vollständig auf Distanzunterricht umgestellt.”

Seit Kriegsbeginn haben etwa 5,5 Millionen Menschen die Ukraine verlassen, weitere 7,7 Millionen sind zu Binnenflüchtlingen geworden. Unter ihnen sind viele Männer, die das Land nicht verlassen dürfen, damit sie bei Bedarf zum Kriegsdienst eingezogen werden können.

Eine ukrainische Flagge weht über dem Eingang der deutsch-ukrainischen Schule in Lwiw. Direktor Ivan Lozenko empfängt uns mit einem strahlenden Lächeln. Eigentlich wollten wir einen Film über den Unterricht in Kriegszeiten drehen, doch die Klassenräume sind verwaist: “Als der Krieg begann, waren die Kinder noch in den Winterferien”, erklärt Lozenko, “seither sind sie nicht wiedergekommen. Schon während der COVID-19-Pandemie haben wir digitale Lernplattformen genutzt. Jetzt, da die Hälfte unserer Schüler im Ausland ist, haben wir vollständig auf Distanzunterricht umgestellt.”

Von Beginn an wollte Lozenko die Schule nicht ungenutzt lassen und machte sie zu einer Unterkunft für Landsleute, die aus den am schlimmsten betroffenen Gegenden der Ukraine ins vergleichsweise friedliche Lwiw kommen.

Matratzenlager in der Turnhalle

“Unsere Regierung hat uns alle gebeten, so gut zu helfen, wie es eben geht”, sagt Lozenko. “Wir haben nicht viel zu bieten, aber zumindest haben die Hilfsbedürftigen einen Ort zum Schlafen, etwas zu essen und sanitäre Einrichtungen.” Gemeinsam mit Eltern, Lehrern und anderen Freiwilligen hat Lozenko auf diese Weise seit Ende Februar rund 200 Menschen geholfen.

Der Schulleiter führt uns durch ein Labyrinth aus Gängen, bis wir die Turnhalle der Schule erreichen. Dutzende Matratzen liegen hier nebeneinander, das Sonnenlicht scheint durch Wäsche, die an einem Volleyballnetz trocknet. Von einem Porträt blickt Nationalpoet Taras Schewtschenko herab. Plastiktüten mit einigen wenigen persönlichen Gegenständen deuten darauf hin, welche Schlafplätze zurzeit belegt sind.

Ein paar Männer nehmen schweigend ihr Frühstück ein. Einer von ihnen ist Oleksandr, ein Mann in mittlerem Alter aus der Nähe von Charkiw, der zweitgrößten Stadt des Landes: “Wir leben im Norden auf der Russland zugewandten Seite der Stadt. Seit Kriegsbeginn sind dort jeden Tag Bomben eingeschlagen. Fast alle haben die Nachbarschaft verlassen.”

Oleksandr würde gerne in die Armee eintreten, sagt er. Dafür müsse er zunächst einen medizinischen Test bestehen und dann? “Ich bin nicht militärisch ausgebildet, wahrscheinlich werde ich erst einmal ein paar Monate trainieren”, vermutet er.

Auch der 80-jährige Wolodymyr musste aus seiner Heimat fliehen. Er kommt aus Demydiw, ein Dorf nahe Kiew. Als die russischen Truppen nahten, halfen die Bewohner der ukrainischen Armee, Brücken zu zerstören und die Schleusen des Staudamms zu öffnen, um die Gebiete zu überfluten und den Vormarsch der Angreifer zu erschweren. Die Staumauer des sogenannten Kiewer Meeres, eines riesigen Dnepr-Stausees nördlich von Kiew, gehört zu den längsten der Welt.

Seit einem Schlaganfall ist Wolodymyr teilweise gelähmt, auch das Sprechen fällt ihm schwer. Unter den wenigen Dingen, die er mit auf die Flucht nahm, war deshalb ein Schild, mit dem er Menschen seine Situation erklären und um Hilfe bei seiner Flucht bitten konnte. Als die Russen sein Dorf einkreisten, machte er sich auf den Weg: “Ich bin einfach am Staudamm entlang, an einer Straße, die unsere Truppen gesprengt hatten”, erzählt er. “Unsere Chance war 50:50, lebend zu entkommen.”

Die erste russische Kontrolle habe er unbehelligt passiert, an der zweiten habe man ihn angehalten: “Die russischen Soldaten fragten mich, was ich bei mir hätte. Ich hatte nichts außer meinem Handy, das haben sie mir weggenommen. Dann kamen wir zu einer gesprengten Brücke. Irgendwie sind wir hinübergekommen, und da wartete unsere Soldaten mit einem Bus. Die haben uns dann zu einem Bahnhof gebracht, und dort habe ich glücklicherweise einen Zug hierher erwischt”, erzählt Wolodymyr seine Plastiktüte fest umklammernd. In Lwiw ist er vorerst sicher, aber ohne jede Perspektive, außer in einer Schulturnhalle auszuharren.

Vor allem Menschen wie Wolodymyr würde Schulleiter Lozenko gerne etwas mehr Komfort anbieten: “Ich weiß, es ist nicht viel, aber wir hoffen, dass wir bald zumindest Vorhänge zwischen den Betten aufhängen können. Damit unsere Gäste wenigstens ein bisschen Privatsphäre haben”, sagt er. Dann führt er uns in einen anderen Teil der Schule, um uns einen besonderen Gast vorzustellen: Micki. Die Hündin gehört zu Mikhail und seinem Schwager Denys. Das unkontrollierte Zittern des Tiers lässt erahnen, was die Familie durchgemacht hat.

Sie seien vor einigen Wochen aus Butscha geflohen, erzählen Mikhail und Denys. Ihre beiden Frauen und seine Tochter befänden sich inzwischen in Süddeutschland in Sicherheit, so Denys. Er erinnert sich an die Nacht des 28. Februars: Russische Soldaten hätten an die Tür geklopft, die Wohnung durchsucht, sein Handy zerstört und seine Laptops gestohlen, berichtet er: “Dann brachten sie mich in eine Kirche und sagten, ich solle vor dem Sonnenaufgang nicht herauskommen. Sie sperrten mich mit zwei ukrainischen Soldaten ein. In der Nacht bauten sie ihre Stellungen samt Artillerie auf.”

Was im Fernsehen zu sehen gewesen sei, sagt Denys, sei nur ein kleiner Teil dessen, was wirklich geschah: “Alles ist zerstört, die ganze Infrastruktur. Überall lagen tote Zivilisten, aber auch Leichen russischer Soldaten.”

In Lwiw angekommen begannen Denys und Mikhail, anderen Vertriebenen zu helfen. Wie alle, die es geschafft haben zu fliehen, schätzen sie sich glücklich, mit dem Leben davongekommen zu sein – auch wenn sie alles andere verloren haben. Und wie alle Geflohenen hängen auch sie in der Luft, ohne zu wissen, ob und wann sie in ihre Heimat zurückkehren können.

Ukraine Lwiw | Reportage von Emmanuelle Chaze | Binnenflüchtlinge, Unterkunft in Schule | Oleksandr

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Ukraine: Rückkehr in den Krieg

Eine ukrainische Flagge weht über dem Eingang der deutsch-ukrainischen Schule in Lwiw. Direktor Ivan Lozenko empfängt uns mit einem strahlenden Lächeln. Eigentlich wollten wir einen Film über den Unterricht in Kriegszeiten drehen, doch die Klassenräume sind verwaist: “Als der Krieg begann, waren die Kinder noch in den Winterferien”, erklärt Lozenko, “seither sind sie nicht wiedergekommen. Schon während der COVID-19-Pandemie haben wir digitale Lernplattformen genutzt. Jetzt, da die Hälfte unserer Schüler im Ausland ist, haben wir vollständig auf Distanzunterricht umgestellt.”

Seit Kriegsbeginn haben etwa 5,5 Millionen Menschen die Ukraine verlassen, weitere 7,7 Millionen sind zu Binnenflüchtlingen geworden. Unter ihnen sind viele Männer, die das Land nicht verlassen dürfen, damit sie bei Bedarf zum Kriegsdienst eingezogen werden können.

Matratzenlager in der Turnhalle

Von Beginn an wollte Lozenko die Schule nicht ungenutzt lassen und machte sie zu einer Unterkunft für Landsleute, die aus den am schlimmsten betroffenen Gegenden der Ukraine ins vergleichsweise friedliche Lwiw kommen.

“Unsere Regierung hat uns alle gebeten, so gut zu helfen, wie es eben geht”, sagt Lozenko. “Wir haben nicht viel zu bieten, aber zumindest haben die Hilfsbedürftigen einen Ort zum Schlafen, etwas zu essen und sanitäre Einrichtungen.” Gemeinsam mit Eltern, Lehrern und anderen Freiwilligen hat Lozenko auf diese Weise seit Ende Februar rund 200 Menschen geholfen.

Der Schulleiter führt uns durch ein Labyrinth aus Gängen, bis wir die Turnhalle der Schule erreichen. Dutzende Matratzen liegen hier nebeneinander, das Sonnenlicht scheint durch Wäsche, die an einem Volleyballnetz trocknet. Von einem Porträt blickt Nationalpoet Taras Schewtschenko herab. Plastiktüten mit einigen wenigen persönlichen Gegenständen deuten darauf hin, welche Schlafplätze zurzeit belegt sind.

Ein paar Männer nehmen schweigend ihr Frühstück ein. Einer von ihnen ist Oleksandr, ein Mann in mittlerem Alter aus der Nähe von Charkiw, der zweitgrößten Stadt des Landes: “Wir leben im Norden auf der Russland zugewandten Seite der Stadt. Seit Kriegsbeginn sind dort jeden Tag Bomben eingeschlagen. Fast alle haben die Nachbarschaft verlassen.”

Erst die Flucht – dann zur Armee

Oleksandr würde gerne in die Armee eintreten, sagt er. Dafür müsse er zunächst einen medizinischen Test bestehen und dann? “Ich bin nicht militärisch ausgebildet, wahrscheinlich werde ich erst einmal ein paar Monate trainieren”, vermutet er.

Überlebenschance 50:50

Auch der 80-jährige Wolodymyr musste aus seiner Heimat fliehen. Er kommt aus Demydiw, ein Dorf nahe Kiew. Als die russischen Truppen nahten, halfen die Bewohner der ukrainischen Armee, Brücken zu zerstören und die Schleusen des Staudamms zu öffnen, um die Gebiete zu überfluten und den Vormarsch der Angreifer zu erschweren. Die Staumauer des sogenannten Kiewer Meeres, eines riesigen Dnepr-Stausees nördlich von Kiew, gehört zu den längsten der Welt.

Seit einem Schlaganfall ist Wolodymyr teilweise gelähmt, auch das Sprechen fällt ihm schwer. Unter den wenigen Dingen, die er mit auf die Flucht nahm, war deshalb ein Schild, mit dem er Menschen seine Situation erklären und um Hilfe bei seiner Flucht bitten konnte. Als die Russen sein Dorf einkreisten, machte er sich auf den Weg: “Ich bin einfach am Staudamm entlang, an einer Straße, die unsere Truppen gesprengt hatten”, erzählt er. “Unsere Chance war 50:50, lebend zu entkommen.”

Die erste russische Kontrolle habe er unbehelligt passiert, an der zweiten habe man ihn angehalten: “Die russischen Soldaten fragten mich, was ich bei mir hätte. Ich hatte nichts außer meinem Handy, das haben sie mir weggenommen. Dann kamen wir zu einer gesprengten Brücke. Irgendwie sind wir hinübergekommen, und da wartete unsere Soldaten mit einem Bus. Die haben uns dann zu einem Bahnhof gebracht, und dort habe ich glücklicherweise einen Zug hierher erwischt”, erzählt Wolodymyr seine Plastiktüte fest umklammernd. In Lwiw ist er vorerst sicher, aber ohne jede Perspektive, außer in einer Schulturnhalle auszuharren.

Die Perspektive: wenigstens ein Minimum an Privatsphäre

Vor allem Menschen wie Wolodymyr würde Schulleiter Lozenko gerne etwas mehr Komfort anbieten: “Ich weiß, es ist nicht viel, aber wir hoffen, dass wir bald zumindest Vorhänge zwischen den Betten aufhängen können. Damit unsere Gäste wenigstens ein bisschen Privatsphäre haben”, sagt er. Dann führt er uns in einen anderen Teil der Schule, um uns einen besonderen Gast vorzustellen: Micki. Die Hündin gehört zu Mikhail und seinem Schwager Denys. Das unkontrollierte Zittern des Tiers lässt erahnen, was die Familie durchgemacht hat.

Sie seien vor einigen Wochen aus Butscha geflohen, erzählen Mikhail und Denys. Ihre beiden Frauen und seine Tochter befänden sich inzwischen in Süddeutschland in Sicherheit, so Denys. Er erinnert sich an die Nacht des 28. Februars: Russische Soldaten hätten an die Tür geklopft, die Wohnung durchsucht, sein Handy zerstört und seine Laptops gestohlen, berichtet er: “Dann brachten sie mich in eine Kirche und sagten, ich solle vor dem Sonnenaufgang nicht herauskommen. Sie sperrten mich mit zwei ukrainischen Soldaten ein. In der Nacht bauten sie ihre Stellungen samt Artillerie auf.”

Flucht aus Butscha

Was im Fernsehen zu sehen gewesen sei, sagt Denys, sei nur ein kleiner Teil dessen, was wirklich geschah: “Alles ist zerstört, die ganze Infrastruktur. Überall lagen tote Zivilisten, aber auch Leichen russischer Soldaten.”

In Lwiw angekommen begannen Denys und Mikhail, anderen Vertriebenen zu helfen. Wie alle, die es geschafft haben zu fliehen, schätzen sie sich glücklich, mit dem Leben davongekommen zu sein – auch wenn sie alles andere verloren haben. Und wie alle Geflohenen hängen auch sie in der Luft, ohne zu wissen, ob und wann sie in ihre Heimat zurückkehren können.

Der 80-jährige Wolodymyr im Porträt

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