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Balkan-Experte Clewing: “Kosovo in die NATO aufnehmen”

Der Balkan-Experte Konrad Clewing warnt im DW-Interview davor, auf dem Westbalkan dieselben Fehler zu machen wie in der Ukraine. Er plädiert für eine NATO-Mitgliedschaft von Kosovo.

Deutsche Welle: Herr Clewing, am Wochenende gab es wieder Spannungen an der serbisch-kosovarischen Grenze, die weltweit zu Besorgnis führten. Auslöser war, dass die Regierung der Republik Kosovo neue Einreiseregeln für Bürger Serbiens umsetzen wollte. Diese Regeln sahen vor, dass serbische Ausweisdokumente und Autokennzeichen bei der Einreise durch kosovarische Bescheinigungen ergänzt werden müssen. Die Regierung in Pristina beruft sich damit auf den Grundsatz der Gegenseitigkeit im Verhältnis zu Belgrad. Denn Serbien erkennt Dokumente der Republik Kosovo nicht an und verlangt, dass kosovarische Autokennzeichen überklebt werden. Nun hat die Regierung von Kosovo die Implementierung zunächst bis zum 1. September 2022 verschoben und damit eine Eskalation vorerst abgewendet. Sehen Sie eine erhöhte Bedrohung der Sicherheit in Kosovo und in der Westbalkan-Region?

Konrad Clewing: In kurzer Sicht gibt es in der Tat keine besondere Bedrohung, weil die von der NATO geführte Militärmission KFOR mit Sicherheit in der Lage ist, die Situation bis auf Weiteres zu stabilisieren. Aber ich sehe ein großes Problem darin, dass die KFOR in ihrer Aufgabenbeschreibung, die aus der UN-Resolution vom 1999 stammt, die Verteidigung der äußeren Sicherheit Kosovos überhaupt nicht als Aufgabe hat. Die Kernausrichtung von 1999 ist ja, eine friedliche Umgebung und Bewegungsfreiheit innerhalb Kosovos herzustellen. Diese beiden Punkte genügen aber auf Dauer eben nicht, um die mögliche Konfliktstellung zwischen Serbien und Kosovo zu bereinigen. Und deswegen sollte man bestrebt sein, eine wirklich profunde und stabile Lösung für die äußeren Sicherheitsbedürfnisse Kosovos zu finden. Und das sehe ich nur in der Perspektive einer NATO-Mitgliedschaft. 

Deutsche Welle: Herr Clewing, am Wochenende gab es wieder Spannungen an der serbisch-kosovarischen Grenze, die weltweit zu Besorgnis führten. Auslöser war, dass die Regierung der Republik Kosovo neue Einreiseregeln für Bürger Serbiens umsetzen wollte. Diese Regeln sahen vor, dass serbische Ausweisdokumente und Autokennzeichen bei der Einreise durch kosovarische Bescheinigungen ergänzt werden müssen. Die Regierung in Pristina beruft sich damit auf den Grundsatz der Gegenseitigkeit im Verhältnis zu Belgrad. Denn Serbien erkennt Dokumente der Republik Kosovo nicht an und verlangt, dass kosovarische Autokennzeichen überklebt werden. Nun hat die Regierung von Kosovo die Implementierung zunächst bis zum 1. September 2022 verschoben und damit eine Eskalation vorerst abgewendet. Sehen Sie eine erhöhte Bedrohung der Sicherheit in Kosovo und in der Westbalkan-Region?

Bisher unterstützt Deutschland vorrangig die EU-Perspektive des gesamten Westbalkans, die auch die Beseitigung der nachbarschaftlichen Konflikte voraussetzt. Reicht diese Perspektive und der von der EU gesteuerte Dialog zwischen Serbien und Kosovo nicht aus, um den Konflikt zwischen beiden Ländern dauerhaft zu lösen?

Anders als die NATO bietet die EU kein Sicherheitssystem für ihre Mitglieder. Der von der EU koordinierte Dialog zwischen Serbien und Kosovo ist meiner Ansicht nach nicht die geeignete Maßnahme, um den Streit zwischen beiden Ländern dauerhaft beizulegen. Denn hier geht es um eine sicherheitspolitische Frage: Darf Serbien die staatliche Existenz von Kosovo negieren und bekämpfen? Oder darf Kosovo Grenzkontrollen durchführen und von den eigenen (Anm. der Red.: serbischen) Bürgern verlangen, dass sie kosovarische Papiere akzeptieren und verwenden und besitzen, zumindest für den Umgang mit dem kosovarischen Staat? Ich denke, diese Forderung ist nicht unrealistisch und auch nicht falsch. 

Die Bundesregierung und die EU wollen aber, dass diese Maßnahmen in Einvernehmen mit Serbien umsetzt werden. Ist das realistisch?

Ich halte das für naiv. Diese Grundsatzfrage kann nicht einvernehmlich zwischen Serbien und Kosovo gelöst werden, solange Serbien Kosovo nicht anerkennen will. Als Mutterland der Kosovo-Serben oder als Schutzmacht der Kosovo-Serben hat Serbien einen Anspruch, darauf zu achten, dass die Kosovo-Serben durch Aktionen des kosovarischen Staates nicht in ihrer Existenz bedroht werden. Aber das, was Kosovo hier umsetzen möchte, ist keine Existenzbedrohung. Allerdings wird es von Serbien als solche präsentiert.

Man hat ja eine ganz große Pressekampagne seit Wochen in Serbien gemacht. Es war ein Riesenmedienthema, dass Kosovo angeblich für den 1. August 2022 die Vertreibung der Kosovo-Serben vorbereiten würde. Das ist eigentlich ein grotesker Vorwurf und man sieht darin auch, dass Serbien in seiner Propaganda nach innen wie außen und in der Medienkontrolle eben wirklich nicht wie ein gewöhnlicher demokratischer Staat zu behandeln ist, sondern ganz viel Ähnlichkeiten mit den russischen Verhältnissen in Sachen der russischen Öffentlichkeit hat und wie Russland staatlicherseits ungeniert mit Lügen operiert. Damit stiftet man Panik unter den Kosovo-Serben und setzt sie ein, um sie der serbischen Regierung gefügig zu machen. Die Situation jetzt an diesem Wochenende sollte wirklich ein Warnzeichen für die deutsche Regierung sein, nicht in diese alten Linien wieder zu verfallen, dass man die Dinge nicht als Gefahr ernst nimmt. 

Heißt das, dass Deutschland, ähnlich wie zuvor im Konflikt zwischen Russland und der Ukraine, zu viel Rücksicht auf die Interessen Serbiens nimmt? 

Deutschland und insgesamt der Westen sind in einer Art Wunschdenken befangen, dass die revisionistischen Ansprüche – in diesem Falle Serbiens gegenüber Kosovo, im anderen Fall Russlands gegenüber der Ukraine – nicht so ernst zu nehmen sind. Wenn überhaupt, dann würden sie sich vielleicht auf kleine Teile des Landes beziehen, wie die Krim im Fall der Ukraine oder Nordkosovo im Fall von Kosovo. Und man hat eben auf dieser Grundlage heraus dann immer so agiert, als müsste man Serbien eine zentrale Rolle auf dem Balkan zuordnen. Diese Politik halte ich für naiv und sie sollte dringend geändert werden. 

Würde eine NATO-Mitgliedschaft Kosovos nicht dazu führen, dass die Bevölkerung Serbiens, die ja ohnehin mehrheitlich skeptisch gegenüber dem Westen ist, sich mehr als jetzt ihrer inoffiziellen Schutzmacht Russland zuwendet?

Ich sehe diese Gefahr nicht als groß an, wenn Serbien weiterhin oder vielleicht sogar mehr als bisher eine EU-Perspektive bekommt. In meinem Szenario würde Kosovo in die NATO gehen und hätte dadurch eine Sicherheitsgarantie gegenüber Serbien. Und unter dieser Voraussetzung ist es auch gar nicht mehr so nötig, dass Serbien offiziell Kosovo anerkennt, was kaum geschehen wird, weil Serbien inoffiziell und in Sicherheitsfragen dann ohnehin nichts Existenzbedrohendes mehr machen kann. Und wenn man Serbien und der Region eine echte europäische Perspektive bietet, denke ich nicht, dass es in irgendeinem serbischen Interesse sein kann, sich eindeutig für Russland zu entscheiden.

Konrad Clewing ist Balkan-Experte des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg. Nach seiner Promotion in München wurde er 1997 er am Südost-Institut (SOI) Redakteur der Südost-Forschungen (bis 2007). Von 2006 bis Ende 2011 war er als stellvertretender Direktor der Geschäftsführer des SOI und mitverantwortlich für die wissenschaftliche Ausrichtung am neuen Standort Regensburg. Seit 2006 ist er gemeinsam mit dem jeweiligen Institutsdirektor Herausgeber der Südost-Forschungen und der Südosteuropäischen Arbeiten, seit 2010 zudem Mitherausgeber des Handbuchs zur Geschichte Südosteuropas. Seit 2018 koordiniert er überdies die Beiträge des IOS im Rahmen der Reihe digiOst. 

Quergestellte Lastwagen blockieren eine Straße in Rudare, an der Grenze zwischen Serbien und Kosovo
Bundeskanzler Olaf Scholz und Serbiens Präsident Aleksandar Vucic schreiten in Belgrad am 10.07.2022 eine Ehrenformation ab.

Deutsche Welle: Herr Clewing, am Wochenende gab es wieder Spannungen an der serbisch-kosovarischen Grenze, die weltweit zu Besorgnis führten. Auslöser war, dass die Regierung der Republik Kosovo neue Einreiseregeln für Bürger Serbiens umsetzen wollte. Diese Regeln sahen vor, dass serbische Ausweisdokumente und Autokennzeichen bei der Einreise durch kosovarische Bescheinigungen ergänzt werden müssen. Die Regierung in Pristina beruft sich damit auf den Grundsatz der Gegenseitigkeit im Verhältnis zu Belgrad. Denn Serbien erkennt Dokumente der Republik Kosovo nicht an und verlangt, dass kosovarische Autokennzeichen überklebt werden. Nun hat die Regierung von Kosovo die Implementierung zunächst bis zum 1. September 2022 verschoben und damit eine Eskalation vorerst abgewendet. Sehen Sie eine erhöhte Bedrohung der Sicherheit in Kosovo und in der Westbalkan-Region?

Konrad Clewing: In kurzer Sicht gibt es in der Tat keine besondere Bedrohung, weil die von der NATO geführte Militärmission KFOR mit Sicherheit in der Lage ist, die Situation bis auf Weiteres zu stabilisieren. Aber ich sehe ein großes Problem darin, dass die KFOR in ihrer Aufgabenbeschreibung, die aus der UN-Resolution vom 1999 stammt, die Verteidigung der äußeren Sicherheit Kosovos überhaupt nicht als Aufgabe hat. Die Kernausrichtung von 1999 ist ja, eine friedliche Umgebung und Bewegungsfreiheit innerhalb Kosovos herzustellen. Diese beiden Punkte genügen aber auf Dauer eben nicht, um die mögliche Konfliktstellung zwischen Serbien und Kosovo zu bereinigen. Und deswegen sollte man bestrebt sein, eine wirklich profunde und stabile Lösung für die äußeren Sicherheitsbedürfnisse Kosovos zu finden. Und das sehe ich nur in der Perspektive einer NATO-Mitgliedschaft. 

Bisher unterstützt Deutschland vorrangig die EU-Perspektive des gesamten Westbalkans, die auch die Beseitigung der nachbarschaftlichen Konflikte voraussetzt. Reicht diese Perspektive und der von der EU gesteuerte Dialog zwischen Serbien und Kosovo nicht aus, um den Konflikt zwischen beiden Ländern dauerhaft zu lösen?

Anders als die NATO bietet die EU kein Sicherheitssystem für ihre Mitglieder. Der von der EU koordinierte Dialog zwischen Serbien und Kosovo ist meiner Ansicht nach nicht die geeignete Maßnahme, um den Streit zwischen beiden Ländern dauerhaft beizulegen. Denn hier geht es um eine sicherheitspolitische Frage: Darf Serbien die staatliche Existenz von Kosovo negieren und bekämpfen? Oder darf Kosovo Grenzkontrollen durchführen und von den eigenen (Anm. der Red.: serbischen) Bürgern verlangen, dass sie kosovarische Papiere akzeptieren und verwenden und besitzen, zumindest für den Umgang mit dem kosovarischen Staat? Ich denke, diese Forderung ist nicht unrealistisch und auch nicht falsch. 

Die Bundesregierung und die EU wollen aber, dass diese Maßnahmen in Einvernehmen mit Serbien umsetzt werden. Ist das realistisch?

Ich halte das für naiv. Diese Grundsatzfrage kann nicht einvernehmlich zwischen Serbien und Kosovo gelöst werden, solange Serbien Kosovo nicht anerkennen will. Als Mutterland der Kosovo-Serben oder als Schutzmacht der Kosovo-Serben hat Serbien einen Anspruch, darauf zu achten, dass die Kosovo-Serben durch Aktionen des kosovarischen Staates nicht in ihrer Existenz bedroht werden. Aber das, was Kosovo hier umsetzen möchte, ist keine Existenzbedrohung. Allerdings wird es von Serbien als solche präsentiert.

Man hat ja eine ganz große Pressekampagne seit Wochen in Serbien gemacht. Es war ein Riesenmedienthema, dass Kosovo angeblich für den 1. August 2022 die Vertreibung der Kosovo-Serben vorbereiten würde. Das ist eigentlich ein grotesker Vorwurf und man sieht darin auch, dass Serbien in seiner Propaganda nach innen wie außen und in der Medienkontrolle eben wirklich nicht wie ein gewöhnlicher demokratischer Staat zu behandeln ist, sondern ganz viel Ähnlichkeiten mit den russischen Verhältnissen in Sachen der russischen Öffentlichkeit hat und wie Russland staatlicherseits ungeniert mit Lügen operiert. Damit stiftet man Panik unter den Kosovo-Serben und setzt sie ein, um sie der serbischen Regierung gefügig zu machen. Die Situation jetzt an diesem Wochenende sollte wirklich ein Warnzeichen für die deutsche Regierung sein, nicht in diese alten Linien wieder zu verfallen, dass man die Dinge nicht als Gefahr ernst nimmt. 

Heißt das, dass Deutschland, ähnlich wie zuvor im Konflikt zwischen Russland und der Ukraine, zu viel Rücksicht auf die Interessen Serbiens nimmt? 

Deutschland und insgesamt der Westen sind in einer Art Wunschdenken befangen, dass die revisionistischen Ansprüche – in diesem Falle Serbiens gegenüber Kosovo, im anderen Fall Russlands gegenüber der Ukraine – nicht so ernst zu nehmen sind. Wenn überhaupt, dann würden sie sich vielleicht auf kleine Teile des Landes beziehen, wie die Krim im Fall der Ukraine oder Nordkosovo im Fall von Kosovo. Und man hat eben auf dieser Grundlage heraus dann immer so agiert, als müsste man Serbien eine zentrale Rolle auf dem Balkan zuordnen. Diese Politik halte ich für naiv und sie sollte dringend geändert werden. 

Würde eine NATO-Mitgliedschaft Kosovos nicht dazu führen, dass die Bevölkerung Serbiens, die ja ohnehin mehrheitlich skeptisch gegenüber dem Westen ist, sich mehr als jetzt ihrer inoffiziellen Schutzmacht Russland zuwendet?

Ich sehe diese Gefahr nicht als groß an, wenn Serbien weiterhin oder vielleicht sogar mehr als bisher eine EU-Perspektive bekommt. In meinem Szenario würde Kosovo in die NATO gehen und hätte dadurch eine Sicherheitsgarantie gegenüber Serbien. Und unter dieser Voraussetzung ist es auch gar nicht mehr so nötig, dass Serbien offiziell Kosovo anerkennt, was kaum geschehen wird, weil Serbien inoffiziell und in Sicherheitsfragen dann ohnehin nichts Existenzbedrohendes mehr machen kann. Und wenn man Serbien und der Region eine echte europäische Perspektive bietet, denke ich nicht, dass es in irgendeinem serbischen Interesse sein kann, sich eindeutig für Russland zu entscheiden.

Konrad Clewing ist Balkan-Experte des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg. Nach seiner Promotion in München wurde er 1997 er am Südost-Institut (SOI) Redakteur der Südost-Forschungen (bis 2007). Von 2006 bis Ende 2011 war er als stellvertretender Direktor der Geschäftsführer des SOI und mitverantwortlich für die wissenschaftliche Ausrichtung am neuen Standort Regensburg. Seit 2006 ist er gemeinsam mit dem jeweiligen Institutsdirektor Herausgeber der Südost-Forschungen und der Südosteuropäischen Arbeiten, seit 2010 zudem Mitherausgeber des Handbuchs zur Geschichte Südosteuropas. Seit 2018 koordiniert er überdies die Beiträge des IOS im Rahmen der Reihe digiOst. 

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