Halbzeit bei der documenta 15
Die documenta im Jahr 2022 war geprägt von Antisemitismus-Vorwürfen gegen die Kuratoren von Ruangrupa und das Künstlerkollektiv Taring Padi. Doch das war nicht alles. 420 000 Besucher kamen bis jetzt nach Kassel.
Auf dem zentralen Friedrichsplatz in Kassel vertrocknet das Gras in der heißen Augustsonne. Hier stand das riesige Banner von Taring Padi. Das indonesische Künstlerkollektiv musste es gleich nach der Eröffnung Mitte Juni wieder abbauen, weil darin antisemitische Bildmotive entdeckt worden waren. Auch die fröhlich leuchtenden Pappaufsteller, noch vor dem documenta-Start in Workshops mit Kindern entstanden, sind verschwunden. Der unwirtliche Platz bleibt leer.
Darüber hat die documenta ihre Halbzeit erreicht. Das Weltkunstfestival blickt auf eine Reihe von Rücktritten, Anschuldigungen, Entschuldigungen und jeder Menge negativer Berichterstattung zurück. Sogar der Ruf nach einem Abbruch kam auf, vorgetragen von Politik, Medien und jüdischen Organisationen. “100 Tage – 100 Skandale”, so unken manche in Kassel.
Auf dem zentralen Friedrichsplatz in Kassel vertrocknet das Gras in der heißen Augustsonne. Hier stand das riesige Banner von Taring Padi. Das indonesische Künstlerkollektiv musste es gleich nach der Eröffnung Mitte Juni wieder abbauen, weil darin antisemitische Bildmotive entdeckt worden waren. Auch die fröhlich leuchtenden Pappaufsteller, noch vor dem documenta-Start in Workshops mit Kindern entstanden, sind verschwunden. Der unwirtliche Platz bleibt leer.
Zeitweise war die documenta fifteen sogar kopflos: Die Generaldirektorin Sabine Schormann trat zurück. Kritiker warfen ihr vor, die Aufarbeitung des Antisemitismus-Skandals verschleppt zu haben. Die Künstlerin Hito Steyerl ließ aus Protest ihren Videobeitrag entfernen. In Berlin befasste sich der Bundestag mit dem Antisemitismus-Vorwurf gegen die documenta-Macher. Kulturstaatsministerin Claudia Roth sprach von einer “Kette der Verantwortungslosigkeit, wo am Ende keiner verantwortlich gewesen sein will”.
Skandalgeschüttelte Weltkunstausstellung
Zuletzt haben die Stadt Kassel und das Land Hessen als Gesellschafter ein Expertengremium berufen. Es soll bei der Aufarbeitung helfen. Doch schon stehen neue Vorwürfe im Raum, gerichtet gegen ein Mitglied des Gremiums, die Kunsthistorikerin Marion Ackermann.
Auf der Homepage ihres Hauses, der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, entdeckte ein Journalist der Süddeutschen Zeitung Kunstwerke mit antisemitischer Bildsprache, deren Kontext unerklärt blieb. Ist Ackermann eine gute Kontrollinstanz für die documenta?
Mirwan Andan und Reza Afisina, zwei von zehn Mitgliedern des Künstlerkollektiv Ruangrupa, sitzen im kühlen Hinterhof des Fridericianums. “Halbzeit?”, fragen sie, “wir zählen nicht die Tage. Für uns hat die Arbeit an der documenta schon 2019 angefangen, als wir nach Kassel eingeladen wurden. Dann kam die Pandemie, tausende von Zoom-Konferenzen. Wir sind alle viel hin- und hergereist. Die Ausstellung jetzt ist für uns nur ein Teil dieses ganzen Prozesses, der sich immer weiterentwickelt.”
Ruangrupas künstlerisches Credo heißt “Lumbung”, das indonesische Wort für einen gemeinschaftlich genutzten Reisspeicher. Dahinter steht die Idee von Fürsorge, vom Teilen von Wissen und Ressourcen, vom solidarischen Miteinander.
Doch gerade Dialogbereitschaft vermisst das Kuratorenkollektiv in der aufgeheizten Antisemitismus-Debatte und verspricht, sensibel zu reagieren. “Taring Padi hat selbst entschieden, ihr Kunstwerk abzubauen”, erinnert Ruangrupa im DW-Interview, “als Geste der Entschuldigung”. Für alle gelte: “Wenn ein Kunstwerk jemanden beleidigt, muss es sofort aus der Ausstellung verschwinden.”
Das Kuratorenkollektiv hat keine leichte Zeit hinter sich. Schon Anfang des Jahres wurde Ruangrupa-Mitgliedern eine Nähe zu der israelkritischen Bewegung BDS unterstellt, was bis heute nicht belegt ist.
Beim Rundgang über die vielen Ausstellungsorte der documenta lassen sich Themen und Projekte aus allen Winkeln der Erde entdecken: Manche erzählen von Traumata durch den Kolonialismus, andere fordern Nachhaltigkeit, die Einhaltung von Menschenrechten, verweisen auf die Vorteile von Teilhabe oder das Potential von Gemeinschaften. Lebens- und Arbeitsbedingungen von Kunstschaffenden werden sichtbar. Gemälde von australischen Aborigines sind ebenso ausgestellt wie die Werke von Roma-Künstlern.
Nicht alles überzeugt durch ästhetische Kraft, manches wirkt wie gutgemeinter politischer Aktionismus. Vor allem daran stört sich ein Hochschullehrer-Paar aus Saarbrücken: Lucia Hubig und Albert Herbig entdecken in der Kunst der documenta einen “Paradigmenwechsel”, einen Kontrast zu gewohnten Kunstausstellungen: “Wir sind auf viel Politik gestoßen, mehr als erwartet, dafür weniger auf Kunst.” Die Antisemitismus-Debatte der letzten Monate, sagen diese Besucher, “lenkt von dem ab, was diese documenta sonst noch bietet”.
Manches Werk, das wegen israelkritischer Haltung auffiel, wird nun von Juristen beäugt. Bei der Broschüre des algerischen Frauenkollektivs “Archives des luttes des femmes en Algérie” ist das schon geschehen: “Strafrechtlich nicht relevant”, lautete das Urteil. So gelangte das Heft mit Zeichnungen der Künstler Buhran Karkoutly und Naji Al-Ali zurück in die Ausstellung und liegt nun wieder neben allerhand Archivmaterial aus der Zeit des politischen Kampfes der algerischen Frauenrechtlerinnen auf einem Tisch im Obergeschoss des Museums Fridericianum. Zwei Abbildungen, kaum größer als ein Comicbild, zeigen Soldaten, die einen Davidstern auf dem Helm tragen, was Proteste auslöste. Die noch etwas dürftige Hinweistafel soll jetzt um weitere Erklärungen ergänzt werden.
Einer, der die documenta stark geprägt hat, indem er die Säulen des Fridericianums mit ironischen Botschaften überzog, ist der Rumäne Dan Perjovschi. Er zählt zu den wenigen Künstlern der documenta 15, die nicht im Kollektiv arbeiten.
Für Kassel hat sich Perjovschi eine “Horizontale Zeitung” ausgedacht. Zeichnungen auf dem Pflaster des Bahnhofsvorplatzes nehmen aktuelle Ereignisse ebenso auf wie Beobachtungen, Gespräche und sogar das “Hörensagen”.
Auch die Schere zwischen der medialen Berichterstattung und den Eindrücken von Besuchern kommt vor: Mehr als 400.000 Menschen haben die documenta inzwischen besucht. Viele überrascht die thematische Vielfalt. Manche freuen sich über den “Input aus allen Ecken der Welt”. Andere bemängeln, Kunst sei hier nur Werkzeug, um plakative Botschaften zu verbreiten. “Diese documenta stellt die westliche Sichtweise in Frage, die Individualität, den Kunstmarkt”, sagt Dan Perjovschi.
Darüber denkt auch Lineo Seguete aus Südafrika nach. Die junge Frau gehört zu der afrikanischen Arbeitsgemeinschaft “Another Roadmap Africa Cluster” (ARAC). In Kassel ersinnt sie – zusammen mit Kunstschaffenden aus anderen afrikanischen Ländern – ein Ausstellungs- und Bildungsprogramm, das helfen soll, die koloniale Vergangenheit aufzuarbeiten, etwa mit einem neuen Schriftsystem.
Ob es hilft, die Last des kolonialen Erbes abzuschütteln? Lineo Seguete haben die Debatten der letzten Wochen zugesetzt. “Wir kommen hierher mit unseren Erfahrungen wie Rassismus, Krieg, Korruption, Unterdrückung”, sagt sie, “aber diese Narrative richten sich doch nicht gegen unsere Gastgeber!”
Welch wundersame Blüten diese Weltkunstschau auch hervorbringt, das lässt sich im Hinterhof eines alten Gründerzeithauses unweit des Hauptbahnhofs erleben: Das vietnamesische Kollektiv “Nhà Sàn Collective” hat hier einen Garten mit seltenen Pflanzen angelegt – eine grüne Oase der Ruhe, die den Debattenlärm des Antisemitismus-Streits für einen kurzen Moment verschluckt.
Auf dem zentralen Friedrichsplatz in Kassel vertrocknet das Gras in der heißen Augustsonne. Hier stand das riesige Banner von Taring Padi. Das indonesische Künstlerkollektiv musste es gleich nach der Eröffnung Mitte Juni wieder abbauen, weil darin antisemitische Bildmotive entdeckt worden waren. Auch die fröhlich leuchtenden Pappaufsteller, noch vor dem documenta-Start in Workshops mit Kindern entstanden, sind verschwunden. Der unwirtliche Platz bleibt leer.
Darüber hat die documenta ihre Halbzeit erreicht. Das Weltkunstfestival blickt auf eine Reihe von Rücktritten, Anschuldigungen, Entschuldigungen und jeder Menge negativer Berichterstattung zurück. Sogar der Ruf nach einem Abbruch kam auf, vorgetragen von Politik, Medien und jüdischen Organisationen. “100 Tage – 100 Skandale”, so unken manche in Kassel.
Skandalgeschüttelte Weltkunstausstellung
Zeitweise war die documenta fifteen sogar kopflos: Die Generaldirektorin Sabine Schormann trat zurück. Kritiker warfen ihr vor, die Aufarbeitung des Antisemitismus-Skandals verschleppt zu haben. Die Künstlerin Hito Steyerl ließ aus Protest ihren Videobeitrag entfernen. In Berlin befasste sich der Bundestag mit dem Antisemitismus-Vorwurf gegen die documenta-Macher. Kulturstaatsministerin Claudia Roth sprach von einer “Kette der Verantwortungslosigkeit, wo am Ende keiner verantwortlich gewesen sein will”.
Zuletzt haben die Stadt Kassel und das Land Hessen als Gesellschafter ein Expertengremium berufen. Es soll bei der Aufarbeitung helfen. Doch schon stehen neue Vorwürfe im Raum, gerichtet gegen ein Mitglied des Gremiums, die Kunsthistorikerin Marion Ackermann.
Auf der Homepage ihres Hauses, der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, entdeckte ein Journalist der Süddeutschen Zeitung Kunstwerke mit antisemitischer Bildsprache, deren Kontext unerklärt blieb. Ist Ackermann eine gute Kontrollinstanz für die documenta?
Mirwan Andan und Reza Afisina, zwei von zehn Mitgliedern des Künstlerkollektiv Ruangrupa, sitzen im kühlen Hinterhof des Fridericianums. “Halbzeit?”, fragen sie, “wir zählen nicht die Tage. Für uns hat die Arbeit an der documenta schon 2019 angefangen, als wir nach Kassel eingeladen wurden. Dann kam die Pandemie, tausende von Zoom-Konferenzen. Wir sind alle viel hin- und hergereist. Die Ausstellung jetzt ist für uns nur ein Teil dieses ganzen Prozesses, der sich immer weiterentwickelt.”
Kritik an Auswahl der Experten
Ruangrupas künstlerisches Credo heißt “Lumbung”, das indonesische Wort für einen gemeinschaftlich genutzten Reisspeicher. Dahinter steht die Idee von Fürsorge, vom Teilen von Wissen und Ressourcen, vom solidarischen Miteinander.
Kollektive statt großer Namen
Doch gerade Dialogbereitschaft vermisst das Kuratorenkollektiv in der aufgeheizten Antisemitismus-Debatte und verspricht, sensibel zu reagieren. “Taring Padi hat selbst entschieden, ihr Kunstwerk abzubauen”, erinnert Ruangrupa im DW-Interview, “als Geste der Entschuldigung”. Für alle gelte: “Wenn ein Kunstwerk jemanden beleidigt, muss es sofort aus der Ausstellung verschwinden.”
Das Kuratorenkollektiv hat keine leichte Zeit hinter sich. Schon Anfang des Jahres wurde Ruangrupa-Mitgliedern eine Nähe zu der israelkritischen Bewegung BDS unterstellt, was bis heute nicht belegt ist.
Beim Rundgang über die vielen Ausstellungsorte der documenta lassen sich Themen und Projekte aus allen Winkeln der Erde entdecken: Manche erzählen von Traumata durch den Kolonialismus, andere fordern Nachhaltigkeit, die Einhaltung von Menschenrechten, verweisen auf die Vorteile von Teilhabe oder das Potential von Gemeinschaften. Lebens- und Arbeitsbedingungen von Kunstschaffenden werden sichtbar. Gemälde von australischen Aborigines sind ebenso ausgestellt wie die Werke von Roma-Künstlern.
Politische Kunst dominiert den Rundgang
Nicht alles überzeugt durch ästhetische Kraft, manches wirkt wie gutgemeinter politischer Aktionismus. Vor allem daran stört sich ein Hochschullehrer-Paar aus Saarbrücken: Lucia Hubig und Albert Herbig entdecken in der Kunst der documenta einen “Paradigmenwechsel”, einen Kontrast zu gewohnten Kunstausstellungen: “Wir sind auf viel Politik gestoßen, mehr als erwartet, dafür weniger auf Kunst.” Die Antisemitismus-Debatte der letzten Monate, sagen diese Besucher, “lenkt von dem ab, was diese documenta sonst noch bietet”.
Manches Werk, das wegen israelkritischer Haltung auffiel, wird nun von Juristen beäugt. Bei der Broschüre des algerischen Frauenkollektivs “Archives des luttes des femmes en Algérie” ist das schon geschehen: “Strafrechtlich nicht relevant”, lautete das Urteil. So gelangte das Heft mit Zeichnungen der Künstler Buhran Karkoutly und Naji Al-Ali zurück in die Ausstellung und liegt nun wieder neben allerhand Archivmaterial aus der Zeit des politischen Kampfes der algerischen Frauenrechtlerinnen auf einem Tisch im Obergeschoss des Museums Fridericianum. Zwei Abbildungen, kaum größer als ein Comicbild, zeigen Soldaten, die einen Davidstern auf dem Helm tragen, was Proteste auslöste. Die noch etwas dürftige Hinweistafel soll jetzt um weitere Erklärungen ergänzt werden.
Kunst als Form des Widerstands
Einer, der die documenta stark geprägt hat, indem er die Säulen des Fridericianums mit ironischen Botschaften überzog, ist der Rumäne Dan Perjovschi. Er zählt zu den wenigen Künstlern der documenta 15, die nicht im Kollektiv arbeiten.
Für Kassel hat sich Perjovschi eine “Horizontale Zeitung” ausgedacht. Zeichnungen auf dem Pflaster des Bahnhofsvorplatzes nehmen aktuelle Ereignisse ebenso auf wie Beobachtungen, Gespräche und sogar das “Hörensagen”.
Auch die Schere zwischen der medialen Berichterstattung und den Eindrücken von Besuchern kommt vor: Mehr als 400.000 Menschen haben die documenta inzwischen besucht. Viele überrascht die thematische Vielfalt. Manche freuen sich über den “Input aus allen Ecken der Welt”. Andere bemängeln, Kunst sei hier nur Werkzeug, um plakative Botschaften zu verbreiten. “Diese documenta stellt die westliche Sichtweise in Frage, die Individualität, den Kunstmarkt”, sagt Dan Perjovschi.
Darüber denkt auch Lineo Seguete aus Südafrika nach. Die junge Frau gehört zu der afrikanischen Arbeitsgemeinschaft “Another Roadmap Africa Cluster” (ARAC). In Kassel ersinnt sie – zusammen mit Kunstschaffenden aus anderen afrikanischen Ländern – ein Ausstellungs- und Bildungsprogramm, das helfen soll, die koloniale Vergangenheit aufzuarbeiten, etwa mit einem neuen Schriftsystem.
Ob es hilft, die Last des kolonialen Erbes abzuschütteln? Lineo Seguete haben die Debatten der letzten Wochen zugesetzt. “Wir kommen hierher mit unseren Erfahrungen wie Rassismus, Krieg, Korruption, Unterdrückung”, sagt sie, “aber diese Narrative richten sich doch nicht gegen unsere Gastgeber!”
Welch wundersame Blüten diese Weltkunstschau auch hervorbringt, das lässt sich im Hinterhof eines alten Gründerzeithauses unweit des Hauptbahnhofs erleben: Das vietnamesische Kollektiv “Nhà Sàn Collective” hat hier einen Garten mit seltenen Pflanzen angelegt – eine grüne Oase der Ruhe, die den Debattenlärm des Antisemitismus-Streits für einen kurzen Moment verschluckt.