Kultur

Gorbi, mein Kofferträger einer neuen Zeit

Die russische Kulturszene von heute verdankt der Perestroika-Zeit ihre Vielfalt und Überlebenskraft, meint DW-Redakteurin Anastassia Boutsko und erinnert sich an eine ganz besondere Geschichte mit Michail Gorbatschow.

Ende März 2008 flog ich, hochschwanger, von Frankfurt am Main nach Moskau. Es ging nicht anders: Lange vorher hatte ich mich verpflichtet, an einem Film über das Europakonzert der Berliner Philharmoniker mitzuwirken. Die Berliner spielten in jenem Jahr am 1. Mai in Moskau, Russland war damals noch europäisch genug. Am selben Tag sollte mein Sohn zur Welt kommen.

Mein Bauch war so groß und schwer wie mein Koffer, den ich die Treppe zum Flieger hochschleppte. “Davajte, lassen Sie mich helfen”, sagte eine ältere männliche Stimme hinter mir. Ohne viel zu überlegen, gab ich den Koffer ab und stieg die letzten Stufen empor. Am Eingang des Fliegers stand die ganze Besatzung Spalier: der Kapitän, der zweite Kapitän, sämtliche Flugbegleiter… Für mich? Wegen mir? Darf ich etwa nicht mitfliegen? Mit Lufthansa sollte es aber doch noch bis Ende der 36. Schwangerschaftswoche gehen? “Herr Gorbatschow, es ist uns eine Ehre, Sie an Bord begrüßen zu dürfen!”, salutierte der Kapitän. Ich drehte mich um – und erkannte meinen Kofferträger, den ersten und letzten Präsidenten des Landes namens UdSSR, in dem ich einst geboren wurde. 

Ende März 2008 flog ich, hochschwanger, von Frankfurt am Main nach Moskau. Es ging nicht anders: Lange vorher hatte ich mich verpflichtet, an einem Film über das Europakonzert der Berliner Philharmoniker mitzuwirken. Die Berliner spielten in jenem Jahr am 1. Mai in Moskau, Russland war damals noch europäisch genug. Am selben Tag sollte mein Sohn zur Welt kommen.

“Na gut, das versöhnt mich einigermaßen mit ihm”, sagte mein Vater, als ich in Moskau ankam und von der wunderlichen Begegnung berichtete. Wie die meisten seiner sozialen Schicht und Generation (Komponist, Jahrgang 1938) teilte er den Unmut, ja eine Aversion gegenüber Gorbatschow. Alles nahmen sie Michail Sergejewitsch übel: seine angebliche Kulturferne (fleißiger Theater- und Konzertgänger war er tatsächlich nicht), sein unheroisches Äußeres, seinen südrussischen Dialekt, der als unkultiviert galt.

Der unbeliebte Reformer

Auch sein Kampf gegen den Alkoholkonsum, der sich wie eine Bevormundung anfühlte, brachte ihm keine Freunde, weder unter den Arbeitenden und Bauern, noch bei der Intelligenzia. Da sammelte der charismatische Säufer Boris Jelzin weit mehr Sympathiepunkte. Und überhaupt: ein kommunistischer Apparatschik als Freiheitsbringer? Das wollte man nicht wahr- und hinnehmen, das musste Gorbatschow “aus Versehen” passiert sein – wie auch der Zerfall der Sowjetunion oder die Wiedervereinigung Deutschlands.

Tatsache ist auch, dass der Anbruch von Glasnost und Perestroika für viele Kulturschaffende nicht nur Freiheit brachte, sondern auch den Zusammenbruch der eigenen, mühsam erbauten kleinen Welt und den wirtschaftlichen Ruin. Die Löhne und Honorare rutschten in den Keller, Ersparnisse wurden von der rasenden Inflation aufgefressen. Die Theater hatten kein Geld für neue Inszenierungen, die Filmindustrie lag brach, der Konzertbetrieb funktionierte kaum noch. So wurde man als Künstler, dem relativ gut betuchten Sowjetbürger mit dissidentischer Attitüde, zum Versager degradiert, der seine Familie nicht ernähren kann. Depressionen waren eine häufige Folge, eine Selbstmordwelle erfasste die Kulturkreise. Die Lage in den Hauptstädten Moskau und Petersburg war schlimm genug, in der Provinz aber war sie dramatisch. Dort kam der Kulturbetrieb praktisch zum Erliegen – für Jahre, wenn nicht Jahrzehnte.

Auf der anderen Seite hatte man sie jetzt – die ersehnte Freiheit. Ein Strom, ja eine Flut von Büchern überschwemmte das Land. All das, was verboten und höchstens als kaum leserliche Samisdat-Kopie auf gelblichem Papier zu lesen war – Solschenizyn und Pasternak, Sinowjew und Samjatin, Schukschin und Woinowitsch – alles war plötzlich frei zu kaufen. 1988 wurde die Zensur offiziell vollständig abgeschafft. “Archipel Gulag” und “Doktor Schiwago” auf der Ladentheke – wer hätte das gedacht!

Wo die Bücher nicht schnell genug gedruckt werden konnten, halfen Literaturzeitschriften. Die Auflagen von “Novyj mir”, “Snamja”, “Junost” schnellten in eine weder früher noch später gesehene Höhe, man saugte Texte regelrecht auf. Auch die westliche Kultur kam aus dem Bereich des Verbotenen. Wie Pilze aus dem Boden schossen “Videosalons” – private Mini-Kinos, wo westliche Filme von VHS-Kassetten gezeigt wurden, in schrecklicher Qualität. Und aus den Kinderzimmern ertönte “Modern Talking” – zum Entsetzen der Eltern.

Was einen nicht ganz umbringt, macht, wie man weiß, stärker. Auch die russische Kultur erholte sich und brachte es in den 1990er-Jahren zu einer ungeahnten Blüte – da war Gorbatschow kein Staatspräsident mehr, die Sowjetunion verschwunden. Neue Namen wie Pelewin, Jerofejew und Parschikow stiegen aus dem aufgewühlten Ozean der russischen Literatur. Die Bildende Kunst, lange isoliert, fand Anschluss an die übrige Welt. Mit neuen Ausstellungsplattformen – etwa der Ludwig-Museum-Dependance in Sankt Petersburg – entstanden auch würdige Rahmen fürs Zeitgenössische, das aus den Kellern und Hinterzimmern ans Licht der Öffentlichkeit kam. Die Off-Szene erblühte, auch die neue russische Filmwirtschaft regenerierte sich und reflektierte ab Mitte der 90er-Jahre den Umbruch im Land.

Russland wurden gerade mal zwei Jahrzehnte Freiheit beschert. Die Dimension dessen, was Gorbatschow bewirkte, erkennt man erst jetzt, wo die Freiheit in Russland wieder stark eingeschränkt ist. Von Europa aus fliegen keine Flugzeuge mehr ins Land, die Berliner Philharmoniker werden in naher Zukunft wohl kaum in einer russischen Stadt spielen. Gorbatschows Tod wird als ein Erlöschen des letzten Hoffnungsstrahls empfunden, als Eintreten endgültiger Dunkelheit.

Was meinen Koffer angeht: Eine Kollegin meinte, ich solle ihn versteigern lassen. Ich behalte ihn aber lieber – als Andenken an den ersten und bis jetzt letzten Präsidenten meines Landes, der einfach so, ohne Sicherheitspersonal und Scharfschützen, von Frankfurt nach Moskau geflogen war.

Porträt von Anastassia Boutsko.
Gorbatschow und viele andere Menschen in Anzug und eine Frau im Kostüm stehen auf dem Balkon des Bonner Rathauses. Gorbatschow hat ein Kind im Arm und küsst es.

Sowjetischer Ex-Präsident: Michail Gorbatschow ist tot

Ende März 2008 flog ich, hochschwanger, von Frankfurt am Main nach Moskau. Es ging nicht anders: Lange vorher hatte ich mich verpflichtet, an einem Film über das Europakonzert der Berliner Philharmoniker mitzuwirken. Die Berliner spielten in jenem Jahr am 1. Mai in Moskau, Russland war damals noch europäisch genug. Am selben Tag sollte mein Sohn zur Welt kommen.

Mein Bauch war so groß und schwer wie mein Koffer, den ich die Treppe zum Flieger hochschleppte. “Davajte, lassen Sie mich helfen”, sagte eine ältere männliche Stimme hinter mir. Ohne viel zu überlegen, gab ich den Koffer ab und stieg die letzten Stufen empor. Am Eingang des Fliegers stand die ganze Besatzung Spalier: der Kapitän, der zweite Kapitän, sämtliche Flugbegleiter… Für mich? Wegen mir? Darf ich etwa nicht mitfliegen? Mit Lufthansa sollte es aber doch noch bis Ende der 36. Schwangerschaftswoche gehen? “Herr Gorbatschow, es ist uns eine Ehre, Sie an Bord begrüßen zu dürfen!”, salutierte der Kapitän. Ich drehte mich um – und erkannte meinen Kofferträger, den ersten und letzten Präsidenten des Landes namens UdSSR, in dem ich einst geboren wurde. 

Der unbeliebte Reformer

“Na gut, das versöhnt mich einigermaßen mit ihm”, sagte mein Vater, als ich in Moskau ankam und von der wunderlichen Begegnung berichtete. Wie die meisten seiner sozialen Schicht und Generation (Komponist, Jahrgang 1938) teilte er den Unmut, ja eine Aversion gegenüber Gorbatschow. Alles nahmen sie Michail Sergejewitsch übel: seine angebliche Kulturferne (fleißiger Theater- und Konzertgänger war er tatsächlich nicht), sein unheroisches Äußeres, seinen südrussischen Dialekt, der als unkultiviert galt.

Auch sein Kampf gegen den Alkoholkonsum, der sich wie eine Bevormundung anfühlte, brachte ihm keine Freunde, weder unter den Arbeitenden und Bauern, noch bei der Intelligenzia. Da sammelte der charismatische Säufer Boris Jelzin weit mehr Sympathiepunkte. Und überhaupt: ein kommunistischer Apparatschik als Freiheitsbringer? Das wollte man nicht wahr- und hinnehmen, das musste Gorbatschow “aus Versehen” passiert sein – wie auch der Zerfall der Sowjetunion oder die Wiedervereinigung Deutschlands.

Tatsache ist auch, dass der Anbruch von Glasnost und Perestroika für viele Kulturschaffende nicht nur Freiheit brachte, sondern auch den Zusammenbruch der eigenen, mühsam erbauten kleinen Welt und den wirtschaftlichen Ruin. Die Löhne und Honorare rutschten in den Keller, Ersparnisse wurden von der rasenden Inflation aufgefressen. Die Theater hatten kein Geld für neue Inszenierungen, die Filmindustrie lag brach, der Konzertbetrieb funktionierte kaum noch. So wurde man als Künstler, dem relativ gut betuchten Sowjetbürger mit dissidentischer Attitüde, zum Versager degradiert, der seine Familie nicht ernähren kann. Depressionen waren eine häufige Folge, eine Selbstmordwelle erfasste die Kulturkreise. Die Lage in den Hauptstädten Moskau und Petersburg war schlimm genug, in der Provinz aber war sie dramatisch. Dort kam der Kulturbetrieb praktisch zum Erliegen – für Jahre, wenn nicht Jahrzehnte.

Auf der anderen Seite hatte man sie jetzt – die ersehnte Freiheit. Ein Strom, ja eine Flut von Büchern überschwemmte das Land. All das, was verboten und höchstens als kaum leserliche Samisdat-Kopie auf gelblichem Papier zu lesen war – Solschenizyn und Pasternak, Sinowjew und Samjatin, Schukschin und Woinowitsch – alles war plötzlich frei zu kaufen. 1988 wurde die Zensur offiziell vollständig abgeschafft. “Archipel Gulag” und “Doktor Schiwago” auf der Ladentheke – wer hätte das gedacht!

Die Freiheit und ihr Preis

Wo die Bücher nicht schnell genug gedruckt werden konnten, halfen Literaturzeitschriften. Die Auflagen von “Novyj mir”, “Snamja”, “Junost” schnellten in eine weder früher noch später gesehene Höhe, man saugte Texte regelrecht auf. Auch die westliche Kultur kam aus dem Bereich des Verbotenen. Wie Pilze aus dem Boden schossen “Videosalons” – private Mini-Kinos, wo westliche Filme von VHS-Kassetten gezeigt wurden, in schrecklicher Qualität. Und aus den Kinderzimmern ertönte “Modern Talking” – zum Entsetzen der Eltern.

Was einen nicht ganz umbringt, macht, wie man weiß, stärker. Auch die russische Kultur erholte sich und brachte es in den 1990er-Jahren zu einer ungeahnten Blüte – da war Gorbatschow kein Staatspräsident mehr, die Sowjetunion verschwunden. Neue Namen wie Pelewin, Jerofejew und Parschikow stiegen aus dem aufgewühlten Ozean der russischen Literatur. Die Bildende Kunst, lange isoliert, fand Anschluss an die übrige Welt. Mit neuen Ausstellungsplattformen – etwa der Ludwig-Museum-Dependance in Sankt Petersburg – entstanden auch würdige Rahmen fürs Zeitgenössische, das aus den Kellern und Hinterzimmern ans Licht der Öffentlichkeit kam. Die Off-Szene erblühte, auch die neue russische Filmwirtschaft regenerierte sich und reflektierte ab Mitte der 90er-Jahre den Umbruch im Land.

Russland wurden gerade mal zwei Jahrzehnte Freiheit beschert. Die Dimension dessen, was Gorbatschow bewirkte, erkennt man erst jetzt, wo die Freiheit in Russland wieder stark eingeschränkt ist. Von Europa aus fliegen keine Flugzeuge mehr ins Land, die Berliner Philharmoniker werden in naher Zukunft wohl kaum in einer russischen Stadt spielen. Gorbatschows Tod wird als ein Erlöschen des letzten Hoffnungsstrahls empfunden, als Eintreten endgültiger Dunkelheit.

Was meinen Koffer angeht: Eine Kollegin meinte, ich solle ihn versteigern lassen. Ich behalte ihn aber lieber – als Andenken an den ersten und bis jetzt letzten Präsidenten meines Landes, der einfach so, ohne Sicherheitspersonal und Scharfschützen, von Frankfurt nach Moskau geflogen war.

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