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Yevgenia Belorusets: “Dieser Krieg ist eine internationale Katastrophe”

Mit einem offenen Brief von Yevgenia Belorusets wird das Internationale Literaturfestival Berlin eröffnet. Im Oktober erscheint ihr Kriegstagebuch in Deutschland. Die DW hat mit der Ukrainerin gesprochen.

Deutsche Welle: Frau Belorusets, in Brüssel sind Sie mit einer Installation im Garten des Europäischen Parlaments vertreten. Am 9. September treten Sie beim Internationalen Literaturfestival Berlin auf und in ein paar Wochen erscheint in Deutschland Ihr Tagebuch mit dem Titel “Der Beginn des Krieges”. Was möchten Sie den Menschen in Europa vermitteln?

Yevgenia Belorusets: Die Installation in Brüssel ist ein rostender Tisch aus Eisen, der die Form eines Blatt Papiers hat. In seine Oberfläche ist der Text einer meiner Tagebucheinträge gestanzt. Das Tagebuch habe ich in Kiew vom ersten Kriegstag bis zum Ende der Belagerung der Stadt auf Deutsch geführt.

Deutsche Welle: Frau Belorusets, in Brüssel sind Sie mit einer Installation im Garten des Europäischen Parlaments vertreten. Am 9. September treten Sie beim Internationalen Literaturfestival Berlin auf und in ein paar Wochen erscheint in Deutschland Ihr Tagebuch mit dem Titel “Der Beginn des Krieges”. Was möchten Sie den Menschen in Europa vermitteln?

Das Metall ist mit nichts bedeckt, denn es ist mir wichtig, die Oberfläche angreifbar zu machen, sie korrodieren zu lassen, da unsere Erinnerungen korrodieren und auch unsere Fähigkeit, diese für alle absolut traumatische Situation zu durchleben. Wenn sich Geschichte so schnell und schmerzhaft ändert, können Absichten, Weltanschauungen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt geäußert wurden, an Bedeutung verlieren und sie hören auf, verfügbar zu sein. Wir versuchen jedoch, Erinnerungen zu bewahren.

Das Tagebuch, das ich in Kiew geführt habe, war in den ersten Kriegstagen mit der Hoffnung verbunden, dass die internationale Gemeinschaft, wenn sie das Ausmaß des Verbrechens erkennt, einen Weg finden würde, den Aggressor zu stoppen. Jeder einzelne Tag ist wichtig, weil mir jeder Tag in diesen ersten Wochen unendlich lang vorkam, als ob er Wochen dauern würde und unzählige politische Chancen bieten würde. Das Tagebuch wurde jeden Tag auf Deutsch und Englisch, sowie manchmal in anderen Sprachen veröffentlicht und in Zeitungen nachgedruckt. Ich appellierte an die internationale Gemeinschaft, denn dieser Krieg ist eine internationale Katastrophe, ein gewaltiger Verstoß gegen das Völkerrecht und die bestehende Ordnung. Dieser Krieg kann nur durch internationale Bemühungen gestoppt werden.

Bei der Eröffnung des Literaturfestivals in Berlin wird unter anderem mein Appell an die deutschen Intellektuellen verlesen, die schon mehrere Aufrufe gegen die Bewaffnung der Ukraine unterzeichnet haben. Solche Einwände aus der Ukraine  sind meiner Meinung nach heute wichtig. Einige Künstler, die mir sehr wichtig sind und solche Aufrufe unterschreiben, lassen sich offenbar nicht von russischer Propaganda leiten, sondern von ihren eigenen bitteren Erfahrung aus ihrer Kindheit in der Nachkriegszeit und ihrer Kenntnis von Verbrechen, die mit militärischer Gewalt einhergehen. Ich will bei ihnen weiterhin Überzeugungsarbeit leisten.

Beim ilb22 werde ich an mehreren Diskussionen teilnehmen. Für mich geht es jetzt vorrangig um die umfassende Unterstützung und praktische Bewaffnung der Ukraine.

Unter den Teilnehmenden des Festivals sind Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus Russland – Wiktor Jerofejew, Olga Martynova und Boris Akunin. Stört Sie das? Schließlich boykottieren viele Ihrer Kolleginnen und Kollegen aus der Ukraine Veranstaltungen, bei denen Autorinnen und Autoren aus Russland dabei sind.

Zunächst einmal werden beim Festival Texte aus dem modernen Kanon der ukrainischen Literatur erklingen, und ich sehe mich eher in diesem Kontext. Olga Martynova lebt seit langem in Deutschland, sie ist Mitglied im Deutschen PEN und schreibt auf Deutsch. Andere sind zu Migranten geworden.

Ich unterstütze einen solchen Boykott so weit ich kann vor allem aus Solidarität, nicht weil es meiner Haltung entspricht. Ukrainische Kulturschaffende empfinden es als sehr schmerzvoll, wenn Ukrainer mit Kulturschaffenden aus Russland auf derselben Bühne stehen. 

Aber dennoch gehört es nicht zu meinen Werten, oppositionelle russische Schriftsteller und Künstler, Exilanten zu boykottieren; diejenigen, die protestiert, gesessen oder gelitten haben; diejenigen, die auf ihre Weise unglücklich sind und unter dem großen politischen Versagen und der Schande leiden. Dies ist die einzige Kategorie ehemaliger Russen, denen europäische Organisationen und Festivals mit Geduld begegnen. Andere gibt es hier nicht, keine abscheulichen Personen oder sogar solche, die stillschweigend mit Putins Regime Kompromisse eingehen.

Vor dem Krieg haben Sie in der Ukraine auf Russisch geschrieben und publiziert. Schreiben Sie weiterhin in dieser Sprache?

Jetzt schreibe ich hauptsächlich auf Deutsch. Denn diese Sprache bietet mir die Chance, mich von dem Geschehen zu distanzieren. Deutsch ist eine Art Schutz, mein Raum der Entfremdung. Ich möchte aber weiterhin auf Russisch schreiben, mir selbst treu bleiben, der Tradition, der Realität, in der ich aufgewachsen bin und mich entwickelt habe. Meine Sprachen gehören zu dem ukrainischen Raum, der mich geprägt hat. Und es wäre seltsam, daran Verrat zu begehen.

Setzen Sie sich jetzt mit einer solchen Haltung nicht Kritik in der Ukraine aus?

In der Ukraine sehe ich viel Unterstützung, auch von rein Ukrainischsprachigen, von Künstlern, Kollegen und Schriftstellern. Das gibt mir große Hoffnung. Schließlich ist die Politik einer Vereinheitlichung der Sprache eine sowjetische und russische Politik. Europäische Politik beinhaltet, unterschiedliche Sprachkulturen zu bewahren und nicht zu verdrängen. Daher achte ich mehr auf die Gesten der Unterstützung, auf das Gefühl unter den Seinen zu sein, egal welche Sprache ich spreche. Wenn ich eine fremdenfeindliche Haltung sogar in einem Teil der ukrainischen Gesellschaft erkenne, dann führe ich das auf das Trauma zurück, das wir alle durchlebt haben und jeden Tag erleben, ich erkläre es mit der Unfähigkeit, mit diesem faktischen Völkermord, der in der Ukraine stattfindet, umzugehen.

Welche Veränderungen spüren Sie bei sich als Mensch, als Schriftstellerin und Fotokünstlerin seit dem Einmarsch der Russen in die Ukraine am 24. Februar?

Es ist schwierig, darüber zu sprechen. Ich war während der gesamten Belagerung in Kiew. Mir schien es, als könne ich es ertragen, als könne ich den Beschuss am Horizont ertragen, die Explosionen und die dünnen Spuren der Raketen am Himmel. Aber jetzt lässt mich mein Körper spüren, was ich damals durchlebt habe. Jeden Morgen denke ich zuerst an den Krieg, daran, dass jeden Tag Menschen, meine Mitbürger, getötet werden. Das ist keine Veränderung bei mir selbst. Das ist eine andere Lebensweise, eine ganz andere Existenz.

Yevgenia Belorusets ist eine ukrainische Schriftstellerin und Fotokünstlerin. Sie lebte jahrelang abwechselnd in Kiew und Berlin. In Deutschland arbeitete sie und stellte aus, in der Ukraine sammelte sie Material für Geschichten und Projekte. Im Februar 2022 erlebte sie in Kiew den Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine.

Das Gespräch führte Olena Perepadya

Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk

Skulptur von Yevgeniya Belorusets im Garten des Europaparlaments in Brüssel - rostender Tisch aus Eisen mit dem Text aus dem Tagebuch.
Yevgenia Belorusets, Katarina Barley und Vsevolod Chentsov stehen neben der Installation in Brüssel.

Deutsche Welle: Frau Belorusets, in Brüssel sind Sie mit einer Installation im Garten des Europäischen Parlaments vertreten. Am 9. September treten Sie beim Internationalen Literaturfestival Berlin auf und in ein paar Wochen erscheint in Deutschland Ihr Tagebuch mit dem Titel “Der Beginn des Krieges”. Was möchten Sie den Menschen in Europa vermitteln?

Yevgenia Belorusets: Die Installation in Brüssel ist ein rostender Tisch aus Eisen, der die Form eines Blatt Papiers hat. In seine Oberfläche ist der Text einer meiner Tagebucheinträge gestanzt. Das Tagebuch habe ich in Kiew vom ersten Kriegstag bis zum Ende der Belagerung der Stadt auf Deutsch geführt.

Das Metall ist mit nichts bedeckt, denn es ist mir wichtig, die Oberfläche angreifbar zu machen, sie korrodieren zu lassen, da unsere Erinnerungen korrodieren und auch unsere Fähigkeit, diese für alle absolut traumatische Situation zu durchleben. Wenn sich Geschichte so schnell und schmerzhaft ändert, können Absichten, Weltanschauungen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt geäußert wurden, an Bedeutung verlieren und sie hören auf, verfügbar zu sein. Wir versuchen jedoch, Erinnerungen zu bewahren.

Das Tagebuch, das ich in Kiew geführt habe, war in den ersten Kriegstagen mit der Hoffnung verbunden, dass die internationale Gemeinschaft, wenn sie das Ausmaß des Verbrechens erkennt, einen Weg finden würde, den Aggressor zu stoppen. Jeder einzelne Tag ist wichtig, weil mir jeder Tag in diesen ersten Wochen unendlich lang vorkam, als ob er Wochen dauern würde und unzählige politische Chancen bieten würde. Das Tagebuch wurde jeden Tag auf Deutsch und Englisch, sowie manchmal in anderen Sprachen veröffentlicht und in Zeitungen nachgedruckt. Ich appellierte an die internationale Gemeinschaft, denn dieser Krieg ist eine internationale Katastrophe, ein gewaltiger Verstoß gegen das Völkerrecht und die bestehende Ordnung. Dieser Krieg kann nur durch internationale Bemühungen gestoppt werden.

Bei der Eröffnung des Literaturfestivals in Berlin wird unter anderem mein Appell an die deutschen Intellektuellen verlesen, die schon mehrere Aufrufe gegen die Bewaffnung der Ukraine unterzeichnet haben. Solche Einwände aus der Ukraine  sind meiner Meinung nach heute wichtig. Einige Künstler, die mir sehr wichtig sind und solche Aufrufe unterschreiben, lassen sich offenbar nicht von russischer Propaganda leiten, sondern von ihren eigenen bitteren Erfahrung aus ihrer Kindheit in der Nachkriegszeit und ihrer Kenntnis von Verbrechen, die mit militärischer Gewalt einhergehen. Ich will bei ihnen weiterhin Überzeugungsarbeit leisten.

Beim ilb22 werde ich an mehreren Diskussionen teilnehmen. Für mich geht es jetzt vorrangig um die umfassende Unterstützung und praktische Bewaffnung der Ukraine.

Unter den Teilnehmenden des Festivals sind Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus Russland – Wiktor Jerofejew, Olga Martynova und Boris Akunin. Stört Sie das? Schließlich boykottieren viele Ihrer Kolleginnen und Kollegen aus der Ukraine Veranstaltungen, bei denen Autorinnen und Autoren aus Russland dabei sind.

Zunächst einmal werden beim Festival Texte aus dem modernen Kanon der ukrainischen Literatur erklingen, und ich sehe mich eher in diesem Kontext. Olga Martynova lebt seit langem in Deutschland, sie ist Mitglied im Deutschen PEN und schreibt auf Deutsch. Andere sind zu Migranten geworden.

Ich unterstütze einen solchen Boykott so weit ich kann vor allem aus Solidarität, nicht weil es meiner Haltung entspricht. Ukrainische Kulturschaffende empfinden es als sehr schmerzvoll, wenn Ukrainer mit Kulturschaffenden aus Russland auf derselben Bühne stehen. 

Aber dennoch gehört es nicht zu meinen Werten, oppositionelle russische Schriftsteller und Künstler, Exilanten zu boykottieren; diejenigen, die protestiert, gesessen oder gelitten haben; diejenigen, die auf ihre Weise unglücklich sind und unter dem großen politischen Versagen und der Schande leiden. Dies ist die einzige Kategorie ehemaliger Russen, denen europäische Organisationen und Festivals mit Geduld begegnen. Andere gibt es hier nicht, keine abscheulichen Personen oder sogar solche, die stillschweigend mit Putins Regime Kompromisse eingehen.

Vor dem Krieg haben Sie in der Ukraine auf Russisch geschrieben und publiziert. Schreiben Sie weiterhin in dieser Sprache?

Jetzt schreibe ich hauptsächlich auf Deutsch. Denn diese Sprache bietet mir die Chance, mich von dem Geschehen zu distanzieren. Deutsch ist eine Art Schutz, mein Raum der Entfremdung. Ich möchte aber weiterhin auf Russisch schreiben, mir selbst treu bleiben, der Tradition, der Realität, in der ich aufgewachsen bin und mich entwickelt habe. Meine Sprachen gehören zu dem ukrainischen Raum, der mich geprägt hat. Und es wäre seltsam, daran Verrat zu begehen.

Setzen Sie sich jetzt mit einer solchen Haltung nicht Kritik in der Ukraine aus?

In der Ukraine sehe ich viel Unterstützung, auch von rein Ukrainischsprachigen, von Künstlern, Kollegen und Schriftstellern. Das gibt mir große Hoffnung. Schließlich ist die Politik einer Vereinheitlichung der Sprache eine sowjetische und russische Politik. Europäische Politik beinhaltet, unterschiedliche Sprachkulturen zu bewahren und nicht zu verdrängen. Daher achte ich mehr auf die Gesten der Unterstützung, auf das Gefühl unter den Seinen zu sein, egal welche Sprache ich spreche. Wenn ich eine fremdenfeindliche Haltung sogar in einem Teil der ukrainischen Gesellschaft erkenne, dann führe ich das auf das Trauma zurück, das wir alle durchlebt haben und jeden Tag erleben, ich erkläre es mit der Unfähigkeit, mit diesem faktischen Völkermord, der in der Ukraine stattfindet, umzugehen.

Welche Veränderungen spüren Sie bei sich als Mensch, als Schriftstellerin und Fotokünstlerin seit dem Einmarsch der Russen in die Ukraine am 24. Februar?

Es ist schwierig, darüber zu sprechen. Ich war während der gesamten Belagerung in Kiew. Mir schien es, als könne ich es ertragen, als könne ich den Beschuss am Horizont ertragen, die Explosionen und die dünnen Spuren der Raketen am Himmel. Aber jetzt lässt mich mein Körper spüren, was ich damals durchlebt habe. Jeden Morgen denke ich zuerst an den Krieg, daran, dass jeden Tag Menschen, meine Mitbürger, getötet werden. Das ist keine Veränderung bei mir selbst. Das ist eine andere Lebensweise, eine ganz andere Existenz.

Yevgenia Belorusets ist eine ukrainische Schriftstellerin und Fotokünstlerin. Sie lebte jahrelang abwechselnd in Kiew und Berlin. In Deutschland arbeitete sie und stellte aus, in der Ukraine sammelte sie Material für Geschichten und Projekte. Im Februar 2022 erlebte sie in Kiew den Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine.

Das Gespräch führte Olena Perepadya

Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk

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