Roma-Mordserie in Ungarn: Ein schockierendes Geständnis – und kein Interesse
Dreizehn Jahre nach einer rassistischen Mordserie an Roma in Ungarn legt der Haupttäter ein schockierendes und bizarres Geständnis ab. Es gibt kaum öffentliches Interesse an dem Fall. Ob neu ermittelt wird, ist unklar.
Die Täter mordeten aus dem Hinterhalt. Sie gingen feige, kaltblütig und grausam vor. Sie zündeten die Häuser ihrer Opfer an und schossen auf sie, wenn sie aus den Flammen flüchteten. Oder ermordeten sie im Schlaf. Insgesamt töteten sie sechs Menschen, darunter ein Kleinkind, und verletzten 55 weitere, zumeist schwer. Aus einem einzigen Grund: Weil sie Roma waren.
Die Roma-Mordserie von 2008/2009 war das schwerste rassistische Verbrechen der jüngeren ungarischen Kriminalgeschichte und eine rechtsterroristische Anschlagsserie – ähnlich der NSU-Mordserie in Deutschland. Begangen wurden die Roma-Morde am Ende einer sozialistisch-liberalen Regierungszeit, als Ungarn in Korruption und politischen Wirren versank. Wenige Monate später kam Viktor Orban mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit an die Macht.
Die Täter mordeten aus dem Hinterhalt. Sie gingen feige, kaltblütig und grausam vor. Sie zündeten die Häuser ihrer Opfer an und schossen auf sie, wenn sie aus den Flammen flüchteten. Oder ermordeten sie im Schlaf. Insgesamt töteten sie sechs Menschen, darunter ein Kleinkind, und verletzten 55 weitere, zumeist schwer. Aus einem einzigen Grund: Weil sie Roma waren.
Vollständig aufgeklärt und aufgearbeitet ist die Roma-Mordserie in Ungarn bis heute nicht. Doch immerhin wurden die drei Täter 2014 zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt, ein Komplize erhielt 13 Jahre Gefängnis. Allerdings: Trotz überwältigender Beweise – unter anderem umfangreichen DNA-Spuren an den Tatorten – bestritten die Mörder ihre Schuld bislang eisern. Nur einer von ihnen, Arpad Kiss, der als Haupttäter und Kopf der Gruppe gilt, äußerte sich einige wenige Male öffentlich – und leugnete dabei, ein Mörder zu sein.
Unbeabsichtigt hineingerutscht?
Nun, 13 Jahre später, kommt – völlig überraschend – sein Geständnis. Er legte es in einem Interview mit der Budapester Tageszeitung Magyar Nemzet ab, dem inoffiziellen Sprachrohr des Premiers Orban und seiner Regierung. Es ist ein ebenso schockierendes wie bizarres Geständnis. Im Interview sagt Kiss wörtlich: “Die Straftaten sind geschehen, wir haben sie begangen.” Er bezeichnet sie als “Fehler”, Bedauern und echte Reue lässt er allerdings nicht erkennen – und der Interviewer stellt auch keine Frage danach. Dass die Gruppe ihre Taten im Prozess abgestritten hatte, bezeichnet Kiss ebenfalls als “Fehler”.
Obwohl er im Prozess als Haupttäter, Organisator und “Hirn” der Mordgruppe dargestellt wurde, bestreitet Kiss seine Führungsrolle. Er habe lediglich seinen jüngeren Bruder unterstützen wollen und sei in die Mordaktionen unbeabsichtigt hineingerutscht. Bizarrer Höhepunkt des Interviews ist die Aussage von Kiss – also des Täters -, dass die letzten beiden Morde im April und im August 2009 hätten verhindert werden können, wenn die Ermittlungsbehörden besser gearbeitet hätten.
Doch nicht nur wegen dieser Aussagen ist das Interview aufsehenerregend. Kiss bestätigt erstmals öffentlich, was alle langjährigen Beobachter des Falles längst als sehr wahrscheinlich annahmen: Dass es während der Mordserie Unterstützer und Komplizen gab, die bei den Mordanschlägen mit Geld, Waffen und logistischen Tipps halfen. Kiss spricht im Interview von zwei Personen, die geholfen hätten: ein Lokalpolitiker der damals rechtsextremen Partei Jobbik (Die Besseren) und ein Mitarbeiter eines Waffenladens, der über einen Verwandten Zugang zu vertraulichen Informationen aus dem Innenministerium gehabt haben soll.
Namen und weitere Anhaltspunkte zu den Personen nennt Kiss nicht. Er behauptet jedoch, er habe Ermittlern bereits 2020 umfangreiche Details zu den beiden Komplizen mitgeteilt. Die Ermittlungen dazu seien jedoch ergebnislos verlaufen. “Wir wurden zur Verantwortung gezogen, aber die beiden erwähnten Personen sind davon gekommen”, so Kiss im Interview. “Das finde ich bestürzend.”
Kiss erhofft sich, wie er sagt, eine Überprüfung seiner Haftstrafe. Verurteilt wurde er, wie seine beiden Mittäter, zu “tatsächlich lebenslanger Haft”, was in Ungarn eine Entlassung nach frühestens 40 Jahren bedeutet, statt nach 25 Jahren wie überwiegend üblich. Im Oktober 2021 erklärte der Europäische Menschenrechtsgerichtshof (EGMR) diese Praxis für rechtswidrig. Falls Ungarn das Urteil umsetzt, könnte Kiss im Jahr 2034 entlassen werden.
Obwohl die Roma-Mordserie in Ungarn ein einzigartiges rassistisches und rechtsterroristisches Verbrechen darstellt, ist das Echo auf das Interview von Kiss bisher praktisch gleich null. Lediglich einige Medien brachten kurze Zusammenfassungen. Doch weder Politiker der Orban-Regierung und der Orban-Partei Fidesz noch aus der Opposition äußerten sich dazu. Lediglich die Führung der Jobbik-Partei ließ in einer knappen schriftlichen Stellungnahme verlauten, sie habe keine Informationen darüber, dass ihre Politiker etwas mit den Roma-Morden zu tun gehabt hätten. Zugleich lassen auch publizistische Reaktionen in Ungarn auf sich warten.
“Keine politische Seite im Land hat ein Interesse an der vollständigen Aufklärung und Aufarbeitung der Roma-Mordserie, da gibt es einen Konsens auf allen Seiten”, sagt der Filmemacher und Journalist Andras B. Vagvölgyi der DW. Vagvölgyi ist einer der besten Kenner des Falles. Er war im mehrjährigen Prozess gegen die Täter während der meisten Verhandlungstage anwesend und veröffentlichte 2016 ein Buch zur Roma-Mordserie. Er hat seit längerem auch selbst Kontakt zu Arpad Kiss, führte mehrere bisher unveröffentlichte Interviews mit ihm und arbeitet an einem Dokumentarfilm über die Roma-Mordserie.
Vagvölgyi glaubt, dass eine gründliche Aufarbeitung des Falles eine Komplizenschaft von Mitarbeitern in Sicherheitsbehörden und Geheimdiensten ans Licht bringen könnte. Ebenso zeige der mangelnde Willen zur Aufklärung ein fehlendes Bewusstsein für Antiziganismus. “Mir haben Politiker bei uns gesagt, dass der Fall endlich vergessen werden sollte”, so Vagvölgyi zur DW.
Ähnlich sieht es auch der liberale Ex-Politiker Jozsef Gulyas, der bis heute zusammen mit Freunden und Bekannten Überlebende der Mordserie unterstützt. “Leider gibt es kaum noch Interesse an dem Fall, die Opfer sind nahezu vergessen”, sagt er der DW. Gulyas war als Abgeordneter 2009/10 Mitglied im Parlamentsausschuss für nationale Sicherheit, der den Fall damals untersuchte. “Nach den öffentlichen Aussagen von Arpad Kiss wäre das Wichtigste nun, dass neue Ermittlungen aufgenommen werden und dass die Geheimdienste ihre Informationen zu dem Fall herausgeben”, fordert Gulyas.
Ob das erfolgen wird, ist unklar. Eine Anfrage der DW, ob neue Ermittlungen geplant seien, beantworteten die ungarische Polizei und das Nationale Ermittlungsbüro (NNI) nicht – ebenso wenig wie die Frage, ob Ermittlungen gegen Komplizen, wie von Kiss behauptet, erfolglos eingestellt worden seien.
Vor allem die Indizien zu einer möglichen Mitwisserschaft ungarischer Geheimdienste sind brisant: Unter anderem war der als Komplize verurteilte Istvan Csontos, der bei den letzten beiden Morden als Fahrer der Täter fungierte, Informant des damaligen Militärgeheimdienstes KBH. Er soll seinem Führungsoffizier seine Mitwisserschaft offenbart haben; die Informationen sollen jedoch angeblich nicht weitergeleitet worden sein. Csontos wurde Ende August 2022 nach 13-jähriger Haft freigelassen. Er äußerte sich bisher nicht öffentlich.
Warum nun jedoch Arpad Kiss einen prominenten Interviewplatz in der inoffiziellen Regierungszeitung eingeräumt bekommt, könnte einen politischen Hintergrund haben. Kiss beschuldigt im Interview den sozialistischen Ex-Premier Ferenc Gyurcsany, indirekt Mitwisser und Nutznießer der Roma-Mordserie gewesen zu sein. Gyurcsany ist bis heute politisch aktiv – und immer wieder Ziel von Angriffen der Orban-Partei Fidesz. Der Ex-Premier selbst hat seine Rolle in dem Fall nie plausibel erklärt. Anfragen dazu lässt er unbeantwortet.
Die Täter mordeten aus dem Hinterhalt. Sie gingen feige, kaltblütig und grausam vor. Sie zündeten die Häuser ihrer Opfer an und schossen auf sie, wenn sie aus den Flammen flüchteten. Oder ermordeten sie im Schlaf. Insgesamt töteten sie sechs Menschen, darunter ein Kleinkind, und verletzten 55 weitere, zumeist schwer. Aus einem einzigen Grund: Weil sie Roma waren.
Die Roma-Mordserie von 2008/2009 war das schwerste rassistische Verbrechen der jüngeren ungarischen Kriminalgeschichte und eine rechtsterroristische Anschlagsserie – ähnlich der NSU-Mordserie in Deutschland. Begangen wurden die Roma-Morde am Ende einer sozialistisch-liberalen Regierungszeit, als Ungarn in Korruption und politischen Wirren versank. Wenige Monate später kam Viktor Orban mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit an die Macht.
Unbeabsichtigt hineingerutscht?
Vollständig aufgeklärt und aufgearbeitet ist die Roma-Mordserie in Ungarn bis heute nicht. Doch immerhin wurden die drei Täter 2014 zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt, ein Komplize erhielt 13 Jahre Gefängnis. Allerdings: Trotz überwältigender Beweise – unter anderem umfangreichen DNA-Spuren an den Tatorten – bestritten die Mörder ihre Schuld bislang eisern. Nur einer von ihnen, Arpad Kiss, der als Haupttäter und Kopf der Gruppe gilt, äußerte sich einige wenige Male öffentlich – und leugnete dabei, ein Mörder zu sein.
Nun, 13 Jahre später, kommt – völlig überraschend – sein Geständnis. Er legte es in einem Interview mit der Budapester Tageszeitung Magyar Nemzet ab, dem inoffiziellen Sprachrohr des Premiers Orban und seiner Regierung. Es ist ein ebenso schockierendes wie bizarres Geständnis. Im Interview sagt Kiss wörtlich: “Die Straftaten sind geschehen, wir haben sie begangen.” Er bezeichnet sie als “Fehler”, Bedauern und echte Reue lässt er allerdings nicht erkennen – und der Interviewer stellt auch keine Frage danach. Dass die Gruppe ihre Taten im Prozess abgestritten hatte, bezeichnet Kiss ebenfalls als “Fehler”.
Obwohl er im Prozess als Haupttäter, Organisator und “Hirn” der Mordgruppe dargestellt wurde, bestreitet Kiss seine Führungsrolle. Er habe lediglich seinen jüngeren Bruder unterstützen wollen und sei in die Mordaktionen unbeabsichtigt hineingerutscht. Bizarrer Höhepunkt des Interviews ist die Aussage von Kiss – also des Täters -, dass die letzten beiden Morde im April und im August 2009 hätten verhindert werden können, wenn die Ermittlungsbehörden besser gearbeitet hätten.
Doch nicht nur wegen dieser Aussagen ist das Interview aufsehenerregend. Kiss bestätigt erstmals öffentlich, was alle langjährigen Beobachter des Falles längst als sehr wahrscheinlich annahmen: Dass es während der Mordserie Unterstützer und Komplizen gab, die bei den Mordanschlägen mit Geld, Waffen und logistischen Tipps halfen. Kiss spricht im Interview von zwei Personen, die geholfen hätten: ein Lokalpolitiker der damals rechtsextremen Partei Jobbik (Die Besseren) und ein Mitarbeiter eines Waffenladens, der über einen Verwandten Zugang zu vertraulichen Informationen aus dem Innenministerium gehabt haben soll.
Unbekannte Komplizen
Namen und weitere Anhaltspunkte zu den Personen nennt Kiss nicht. Er behauptet jedoch, er habe Ermittlern bereits 2020 umfangreiche Details zu den beiden Komplizen mitgeteilt. Die Ermittlungen dazu seien jedoch ergebnislos verlaufen. “Wir wurden zur Verantwortung gezogen, aber die beiden erwähnten Personen sind davon gekommen”, so Kiss im Interview. “Das finde ich bestürzend.”
Keine Reaktionen auf das Interview
Kiss erhofft sich, wie er sagt, eine Überprüfung seiner Haftstrafe. Verurteilt wurde er, wie seine beiden Mittäter, zu “tatsächlich lebenslanger Haft”, was in Ungarn eine Entlassung nach frühestens 40 Jahren bedeutet, statt nach 25 Jahren wie überwiegend üblich. Im Oktober 2021 erklärte der Europäische Menschenrechtsgerichtshof (EGMR) diese Praxis für rechtswidrig. Falls Ungarn das Urteil umsetzt, könnte Kiss im Jahr 2034 entlassen werden.
Obwohl die Roma-Mordserie in Ungarn ein einzigartiges rassistisches und rechtsterroristisches Verbrechen darstellt, ist das Echo auf das Interview von Kiss bisher praktisch gleich null. Lediglich einige Medien brachten kurze Zusammenfassungen. Doch weder Politiker der Orban-Regierung und der Orban-Partei Fidesz noch aus der Opposition äußerten sich dazu. Lediglich die Führung der Jobbik-Partei ließ in einer knappen schriftlichen Stellungnahme verlauten, sie habe keine Informationen darüber, dass ihre Politiker etwas mit den Roma-Morden zu tun gehabt hätten. Zugleich lassen auch publizistische Reaktionen in Ungarn auf sich warten.
“Keine politische Seite im Land hat ein Interesse an der vollständigen Aufklärung und Aufarbeitung der Roma-Mordserie, da gibt es einen Konsens auf allen Seiten”, sagt der Filmemacher und Journalist Andras B. Vagvölgyi der DW. Vagvölgyi ist einer der besten Kenner des Falles. Er war im mehrjährigen Prozess gegen die Täter während der meisten Verhandlungstage anwesend und veröffentlichte 2016 ein Buch zur Roma-Mordserie. Er hat seit längerem auch selbst Kontakt zu Arpad Kiss, führte mehrere bisher unveröffentlichte Interviews mit ihm und arbeitet an einem Dokumentarfilm über die Roma-Mordserie.
Kein Interesse an Aufklärung
Vagvölgyi glaubt, dass eine gründliche Aufarbeitung des Falles eine Komplizenschaft von Mitarbeitern in Sicherheitsbehörden und Geheimdiensten ans Licht bringen könnte. Ebenso zeige der mangelnde Willen zur Aufklärung ein fehlendes Bewusstsein für Antiziganismus. “Mir haben Politiker bei uns gesagt, dass der Fall endlich vergessen werden sollte”, so Vagvölgyi zur DW.
Ähnlich sieht es auch der liberale Ex-Politiker Jozsef Gulyas, der bis heute zusammen mit Freunden und Bekannten Überlebende der Mordserie unterstützt. “Leider gibt es kaum noch Interesse an dem Fall, die Opfer sind nahezu vergessen”, sagt er der DW. Gulyas war als Abgeordneter 2009/10 Mitglied im Parlamentsausschuss für nationale Sicherheit, der den Fall damals untersuchte. “Nach den öffentlichen Aussagen von Arpad Kiss wäre das Wichtigste nun, dass neue Ermittlungen aufgenommen werden und dass die Geheimdienste ihre Informationen zu dem Fall herausgeben”, fordert Gulyas.
Komplize freigelassen
Ob das erfolgen wird, ist unklar. Eine Anfrage der DW, ob neue Ermittlungen geplant seien, beantworteten die ungarische Polizei und das Nationale Ermittlungsbüro (NNI) nicht – ebenso wenig wie die Frage, ob Ermittlungen gegen Komplizen, wie von Kiss behauptet, erfolglos eingestellt worden seien.
Welche Rolle spielte der Ex-Premier?
Vor allem die Indizien zu einer möglichen Mitwisserschaft ungarischer Geheimdienste sind brisant: Unter anderem war der als Komplize verurteilte Istvan Csontos, der bei den letzten beiden Morden als Fahrer der Täter fungierte, Informant des damaligen Militärgeheimdienstes KBH. Er soll seinem Führungsoffizier seine Mitwisserschaft offenbart haben; die Informationen sollen jedoch angeblich nicht weitergeleitet worden sein. Csontos wurde Ende August 2022 nach 13-jähriger Haft freigelassen. Er äußerte sich bisher nicht öffentlich.
Warum nun jedoch Arpad Kiss einen prominenten Interviewplatz in der inoffiziellen Regierungszeitung eingeräumt bekommt, könnte einen politischen Hintergrund haben. Kiss beschuldigt im Interview den sozialistischen Ex-Premier Ferenc Gyurcsany, indirekt Mitwisser und Nutznießer der Roma-Mordserie gewesen zu sein. Gyurcsany ist bis heute politisch aktiv – und immer wieder Ziel von Angriffen der Orban-Partei Fidesz. Der Ex-Premier selbst hat seine Rolle in dem Fall nie plausibel erklärt. Anfragen dazu lässt er unbeantwortet.