Ungarn: Aufstand im Lehrerzimmer
Das ungarische Bildungssystem gehört zu den schlechtesten der Europäischen Union. Nun wehren sich die Pädagogen gegen die Zustände an Schulen. Die Orban-Regierung antwortet mit Repressionen.
Wenn Katalin Törley davon erzählt, wie sie nach 23 Jahren von einem auf den anderen Tag entlassen wurde, zittert ihre Stimme. Die 53-Jährige unterrichtete bis vor kurzem Französisch am traditionsreichen Budapester Ferenc-Kölcsey-Gymnasium. Am 5. Oktober 2022 erhielt sie einen Brief vom Schulamt. Ihr werde mit sofortiger Wirkung gekündigt, stand darin. Die Begründung: Sie habe das Recht der Schüler auf Unterricht verletzt. “Ich kann es immer noch nicht fassen”, sagt Törley der DW, während sie mit den Tränen kämpft.
Die Lehrerin Katalin Törley ist in Ungarn eine bekannte Persönlichkeit. Sie gehörte 2016 zu den Mitbegründerinnen und Mitbegründern der Pädagogen-Initiative “Ich möchte unterrichten”, die gegen die Bildungspolitik der Orban-Regierung protestierte. Die Initiative genoss damals in der Bevölkerung breite Unterstützung. Törley ist seitdem bei Lehrerprotesten immer wieder aktiv gewesen. So auch im September dieses Jahres. Ausgelöst wurden sie unter anderem durch die weitgehende Abschaffung des Streikrechts für Pädagogen. Außerdem ging es um Lohnerhöhungen.
Wenn Katalin Törley davon erzählt, wie sie nach 23 Jahren von einem auf den anderen Tag entlassen wurde, zittert ihre Stimme. Die 53-Jährige unterrichtete bis vor kurzem Französisch am traditionsreichen Budapester Ferenc-Kölcsey-Gymnasium. Am 5. Oktober 2022 erhielt sie einen Brief vom Schulamt. Ihr werde mit sofortiger Wirkung gekündigt, stand darin. Die Begründung: Sie habe das Recht der Schüler auf Unterricht verletzt. “Ich kann es immer noch nicht fassen”, sagt Törley der DW, während sie mit den Tränen kämpft.
Daraufhin wurden Vertreter des staatlichen Schulamtes an Törleys Gymnasium vorstellig. Wer sich weiterhin an Protestaktionen beteilige, werde entlassen, warnten sie. Doch Törley und ihre Mitstreiter ließen sich nicht einschüchtern. Kurz darauf erhielten die Lehrerin und vier ihrer Kollegen Kündigungsschreiben.
Ordnung statt professioneller Lösungen
Das war in der vergangenen Woche Anlass für eine der größten regierungskritischen Demonstrationen der vergangenen Jahre: Am Mittwoch (5.10.2022) protestierten in Budapest etwa 40.000 Menschen gegen den Umgang der Orban-Regierung mit den Lehrern. Auch an zahlreichen anderen Orten in Ungarn fanden große Protestaktionen statt.
Der Fall von Törley und den vier anderen Lehrern ist im Orban-Ungarn präzedenzlos. Bisher wurden einzelne Lehrer wegen ihrer Kritik an der staatlichen Bildungspolitik zwar eingeschüchtert. Kollektive Entlassungen gab es jedoch noch nicht. Zugleich sei der Fall symptomatisch für die Bildungspolitik unter Orban, sagt Katalin Törley. “Es geht darum, uns zum Schweigen zu bringen und mit Gewalt Ordnung durchzudrücken, anstatt professionelle Lösungen für Probleme zu finden.”
Ähnlich sieht es Peter Rado, einer der führenden ungarischen Bildungsforscher. Seit Jahren unternehme die Regierung keinerlei Versuche mehr, die im Bildungswesen angehäuften Probleme zu lösen, sondern kehre sie nur noch unter den Teppich, schrieb er vor kurzem in einem Beitrag für das ungarische Portal Portfolio. “Angesichts der Unfähigkeit des Systems kann die Regierung nicht anders reagieren als mit verstärkten Repressionen”, so Rado.
Tatsächlich steht Ungarns Bildungswesen im europäischen Vergleich von Jahr zu Jahr schlechter da. In den Pisa-Tests ist Ungarn seit 2010, als Viktor Orban und seine Partei Fidesz erstmals mit Zwei-Drittel-Mehrheit an die Macht kamen, stark abgesackt und liegt nur noch im unteren Feld aller EU-Länder und deutlich unter dem OECD-Durchschnitt.
Pädagogen gehören zu den am schlechtesten bezahlten Arbeitskräften in Ungarn – das Bruttogrundgehalt für Lehrer, die Berufseinsteiger mit Hochschulabschluss sind, liegt bei umgerechnet 850 Euro. Im Vergleich zu allen anderen EU-Ländern, die der OECD angehören, haben sie die höchste Arbeitsbelastung mit rund 24 Pflichtwochenstunden Unterricht.
Eigentlich waren Orban und seine Partei Fidesz 2010 mit großen Reformversprechen auch für den Bildungsbereich angetreten. Doch es kam anders, als viele Lehrerinnen und Lehrer gehofft hatten. 2012 gründete die ungarische Regierung eine Mega-Behörde namens Klebelsberg-Zentrum, benannt nach einem ungarischen Bildungspolitiker der Zwischenkriegszeit. Die Institution hat die Aufsicht über alle Schulen und Lehrer im Land und arbeitet die nationalen Lehrpläne aus. Sie entscheidet auch über sämtliche Personalfragen und muss selbst kleinere Anschaffungen und Ausgaben an Schulen genehmigen. Viele Pädagogen beklagen den “Hyperzentralismus”.
Inhaltlich liegen die Bildungsschwerpunkte auf patriotischer Erziehung, Vermittlung von nationalem Zusammengehörigkeitsgefühl, Wehrkunde und Stärkung der ungarischen Verteidigungsfähigkeit. Die entlassene Lehrerin Katalin Törley fasst es so zusammen: “Das jetzige Konzept lautet: Propaganda, Militarisierung, Autorität – etwas, das eigentlich ins 19. Jahrhundert gehört.”
Dazu passt, dass der gesamte Bildungsbereich nach der Parlamentswahl im April 2022 unter die Hoheit des Innenministeriums gestellt wurde. “Eine autoritäre Ordnung hat eben kein Interesse daran, dass es aufgeklärte, autonome Bürger und Persönlichkeiten gibt”, sagt die Oppositionspolitikerin Anna Orosz von der liberalen Jugend-Partei Momentum der DW. Orosz nimmt derzeit viel an den Bildungsprotesten in Budapest teil.
Der Bildungsforscher Peter Rado kritisiert außerdem, dass sich im Bildungsbereich ein “Kastensystem” etabliert habe. “Dieses System stellt für Kinder mit niedrigem Status und arme Kinder erbärmlich schlechte staatliche Schulen bereit, kirchliche Schulen für die untere Mittelschicht und teure Privatschulen für die obere Mittelschicht”, schreibt er.
Die letzten großen Proteste von Lehrern und Lehrerinnen fanden in Ungarn 2016 statt. Sie richteten sie sich vor allem gegen zu viel Bürokratie, Arbeitsüberlastung und die Abschaffung schulischer Autonomierechte wie die freie Schulbuchwahl. Erreichen konnten die Pädagogen damals kaum etwas. Viele verließen das staatliche Schulwesen daraufhin.
Deshalb geht es bei den jetzigen Protesten nun um viel Grundsätzlicheres: vor allem um spürbare Lohnerhöhungen und um Maßnahmen gegen den eklatanten Lehrkräftemangel. Die Orban-Regierung reagiert auf solche Forderungen in ganz eigentümlicher Weise: Sie beschuldigt die Pädagogen, sie würden Ungarn im Ausland schlecht machen und dazu beitragen, dass die EU-Kommission Ungarn Fördergelder streiche – wovon ja Lohnerhöhungen hätten bezahlt werden sollen. In Wirklichkeit will die EU Fördergelder wegen Korruptionsvorwürfen gegen Orban und seine Regierung einfrieren.
Ob die derzeitige Protestwelle das Potential hat, Orbans Regierung einschneidende Zugeständnisse abzuringen, ist unklar. “Die Repressionen gegen Lehrer und Lehrerinnen zeigen jedenfalls, dass Orban und sein System sich sehr sicher fühlen und meinen, sich trotz der großen Empörung alles leisten zu können”, sagt die Oppositionspolitikerin Anna Orosz.
Die Französisch-Lehrerin Katalin Törley will nun erst einmal vor Gericht gegen ihre Entlassung klagen. Sie richtet sich auf ein Verfahren ein, dass Monate oder sogar Jahre dauert. Sie arbeitet zwar derzeit noch bei der gemeinnützigen Budapester Stiftung Roma-Versitas mit benachteiligten Roma-Kindern. Das reicht für ihren Lebensunterhalt jedoch nicht aus. Sie muss sich daher eine neue Arbeit suchen. “Ich werde aber an keine neue Schule gehen”, sagt Törley. “Wenn ich wieder Lehrerin sein sollte, dann nur an meinem alten Gymnasium.”
Wenn Katalin Törley davon erzählt, wie sie nach 23 Jahren von einem auf den anderen Tag entlassen wurde, zittert ihre Stimme. Die 53-Jährige unterrichtete bis vor kurzem Französisch am traditionsreichen Budapester Ferenc-Kölcsey-Gymnasium. Am 5. Oktober 2022 erhielt sie einen Brief vom Schulamt. Ihr werde mit sofortiger Wirkung gekündigt, stand darin. Die Begründung: Sie habe das Recht der Schüler auf Unterricht verletzt. “Ich kann es immer noch nicht fassen”, sagt Törley der DW, während sie mit den Tränen kämpft.
Die Lehrerin Katalin Törley ist in Ungarn eine bekannte Persönlichkeit. Sie gehörte 2016 zu den Mitbegründerinnen und Mitbegründern der Pädagogen-Initiative “Ich möchte unterrichten”, die gegen die Bildungspolitik der Orban-Regierung protestierte. Die Initiative genoss damals in der Bevölkerung breite Unterstützung. Törley ist seitdem bei Lehrerprotesten immer wieder aktiv gewesen. So auch im September dieses Jahres. Ausgelöst wurden sie unter anderem durch die weitgehende Abschaffung des Streikrechts für Pädagogen. Außerdem ging es um Lohnerhöhungen.
Ordnung statt professioneller Lösungen
Daraufhin wurden Vertreter des staatlichen Schulamtes an Törleys Gymnasium vorstellig. Wer sich weiterhin an Protestaktionen beteilige, werde entlassen, warnten sie. Doch Törley und ihre Mitstreiter ließen sich nicht einschüchtern. Kurz darauf erhielten die Lehrerin und vier ihrer Kollegen Kündigungsschreiben.
Das war in der vergangenen Woche Anlass für eine der größten regierungskritischen Demonstrationen der vergangenen Jahre: Am Mittwoch (5.10.2022) protestierten in Budapest etwa 40.000 Menschen gegen den Umgang der Orban-Regierung mit den Lehrern. Auch an zahlreichen anderen Orten in Ungarn fanden große Protestaktionen statt.
Der Fall von Törley und den vier anderen Lehrern ist im Orban-Ungarn präzedenzlos. Bisher wurden einzelne Lehrer wegen ihrer Kritik an der staatlichen Bildungspolitik zwar eingeschüchtert. Kollektive Entlassungen gab es jedoch noch nicht. Zugleich sei der Fall symptomatisch für die Bildungspolitik unter Orban, sagt Katalin Törley. “Es geht darum, uns zum Schweigen zu bringen und mit Gewalt Ordnung durchzudrücken, anstatt professionelle Lösungen für Probleme zu finden.”
Ähnlich sieht es Peter Rado, einer der führenden ungarischen Bildungsforscher. Seit Jahren unternehme die Regierung keinerlei Versuche mehr, die im Bildungswesen angehäuften Probleme zu lösen, sondern kehre sie nur noch unter den Teppich, schrieb er vor kurzem in einem Beitrag für das ungarische Portal Portfolio. “Angesichts der Unfähigkeit des Systems kann die Regierung nicht anders reagieren als mit verstärkten Repressionen”, so Rado.
Schlechte Pisa-Ergebnisse
Tatsächlich steht Ungarns Bildungswesen im europäischen Vergleich von Jahr zu Jahr schlechter da. In den Pisa-Tests ist Ungarn seit 2010, als Viktor Orban und seine Partei Fidesz erstmals mit Zwei-Drittel-Mehrheit an die Macht kamen, stark abgesackt und liegt nur noch im unteren Feld aller EU-Länder und deutlich unter dem OECD-Durchschnitt.
Hyperzentralismus
Pädagogen gehören zu den am schlechtesten bezahlten Arbeitskräften in Ungarn – das Bruttogrundgehalt für Lehrer, die Berufseinsteiger mit Hochschulabschluss sind, liegt bei umgerechnet 850 Euro. Im Vergleich zu allen anderen EU-Ländern, die der OECD angehören, haben sie die höchste Arbeitsbelastung mit rund 24 Pflichtwochenstunden Unterricht.
Eigentlich waren Orban und seine Partei Fidesz 2010 mit großen Reformversprechen auch für den Bildungsbereich angetreten. Doch es kam anders, als viele Lehrerinnen und Lehrer gehofft hatten. 2012 gründete die ungarische Regierung eine Mega-Behörde namens Klebelsberg-Zentrum, benannt nach einem ungarischen Bildungspolitiker der Zwischenkriegszeit. Die Institution hat die Aufsicht über alle Schulen und Lehrer im Land und arbeitet die nationalen Lehrpläne aus. Sie entscheidet auch über sämtliche Personalfragen und muss selbst kleinere Anschaffungen und Ausgaben an Schulen genehmigen. Viele Pädagogen beklagen den “Hyperzentralismus”.
Inhaltlich liegen die Bildungsschwerpunkte auf patriotischer Erziehung, Vermittlung von nationalem Zusammengehörigkeitsgefühl, Wehrkunde und Stärkung der ungarischen Verteidigungsfähigkeit. Die entlassene Lehrerin Katalin Törley fasst es so zusammen: “Das jetzige Konzept lautet: Propaganda, Militarisierung, Autorität – etwas, das eigentlich ins 19. Jahrhundert gehört.”
Konzept aus dem 19. Jahrhundert
Dazu passt, dass der gesamte Bildungsbereich nach der Parlamentswahl im April 2022 unter die Hoheit des Innenministeriums gestellt wurde. “Eine autoritäre Ordnung hat eben kein Interesse daran, dass es aufgeklärte, autonome Bürger und Persönlichkeiten gibt”, sagt die Oppositionspolitikerin Anna Orosz von der liberalen Jugend-Partei Momentum der DW. Orosz nimmt derzeit viel an den Bildungsprotesten in Budapest teil.
Der Bildungsforscher Peter Rado kritisiert außerdem, dass sich im Bildungsbereich ein “Kastensystem” etabliert habe. “Dieses System stellt für Kinder mit niedrigem Status und arme Kinder erbärmlich schlechte staatliche Schulen bereit, kirchliche Schulen für die untere Mittelschicht und teure Privatschulen für die obere Mittelschicht”, schreibt er.
Kastensystem
Die letzten großen Proteste von Lehrern und Lehrerinnen fanden in Ungarn 2016 statt. Sie richteten sie sich vor allem gegen zu viel Bürokratie, Arbeitsüberlastung und die Abschaffung schulischer Autonomierechte wie die freie Schulbuchwahl. Erreichen konnten die Pädagogen damals kaum etwas. Viele verließen das staatliche Schulwesen daraufhin.
Zugeständnisse der Orban-Regierung?
Deshalb geht es bei den jetzigen Protesten nun um viel Grundsätzlicheres: vor allem um spürbare Lohnerhöhungen und um Maßnahmen gegen den eklatanten Lehrkräftemangel. Die Orban-Regierung reagiert auf solche Forderungen in ganz eigentümlicher Weise: Sie beschuldigt die Pädagogen, sie würden Ungarn im Ausland schlecht machen und dazu beitragen, dass die EU-Kommission Ungarn Fördergelder streiche – wovon ja Lohnerhöhungen hätten bezahlt werden sollen. In Wirklichkeit will die EU Fördergelder wegen Korruptionsvorwürfen gegen Orban und seine Regierung einfrieren.
Ob die derzeitige Protestwelle das Potential hat, Orbans Regierung einschneidende Zugeständnisse abzuringen, ist unklar. “Die Repressionen gegen Lehrer und Lehrerinnen zeigen jedenfalls, dass Orban und sein System sich sehr sicher fühlen und meinen, sich trotz der großen Empörung alles leisten zu können”, sagt die Oppositionspolitikerin Anna Orosz.
Die Französisch-Lehrerin Katalin Törley will nun erst einmal vor Gericht gegen ihre Entlassung klagen. Sie richtet sich auf ein Verfahren ein, dass Monate oder sogar Jahre dauert. Sie arbeitet zwar derzeit noch bei der gemeinnützigen Budapester Stiftung Roma-Versitas mit benachteiligten Roma-Kindern. Das reicht für ihren Lebensunterhalt jedoch nicht aus. Sie muss sich daher eine neue Arbeit suchen. “Ich werde aber an keine neue Schule gehen”, sagt Törley. “Wenn ich wieder Lehrerin sein sollte, dann nur an meinem alten Gymnasium.”