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Was Armut mit der Seele macht

Olivier David stammt aus armen Verhältnissen. Erst spät erkennt er: Ich bin psychisch krank. Sein Ausweg: Er schreibt. Eine Begegnung in Hamburg.

Den Geräuschen der Armut hatten die dünnen Wände in seinem Elternhaus nicht viel entgegenzusetzen: “Nachbarn, die streiten; eine immer wieder heulende Mutter; der Pissstrahl eines im Stehen pinkelnden Nachbarn”. Wann er gemerkt hat, dass seine Kindheit nicht normal war? Als das SEK klingelte, um aus dem Fenster eine bessere Schussposition auf den benachbarten Bankräuber zu haben. Als im Hauseingang ein Molotowcocktail explodierte. Als er im Hinterhof in eine Spritze trat. “Da versteht jedes Lebewesen, dass das nicht normal ist.”

Olivier David ist Anfang der 1990er Jahre im Hamburger Stadtteil Ottensen aufgewachsen. In seiner Erinnerung prägen Gemüsehändler und Moscheen das Straßenbild, sind die Hausfassaden schäbig, wohnt in jedem zweiten Haus ein Dealer. Heute tragen viele Fassaden Pastelltöne. Die Fabrikgebäude beherbergen Lifestyle-Bäckereien. Der Cappuccino kostet 4,20 Euro.

Den Geräuschen der Armut hatten die dünnen Wände in seinem Elternhaus nicht viel entgegenzusetzen: “Nachbarn, die streiten; eine immer wieder heulende Mutter; der Pissstrahl eines im Stehen pinkelnden Nachbarn”. Wann er gemerkt hat, dass seine Kindheit nicht normal war? Als das SEK klingelte, um aus dem Fenster eine bessere Schussposition auf den benachbarten Bankräuber zu haben. Als im Hauseingang ein Molotowcocktail explodierte. Als er im Hinterhof in eine Spritze trat. “Da versteht jedes Lebewesen, dass das nicht normal ist.”

Das Elternhaus von Olivier David: der selbe Backsteinbau wie damals. Die Fenster der Wohnung so tief, dass man von draußen fast reinschauen kann. Hier wohnte David mit Mutter, Vater, großer Schwester. Zwischen Geldsorgen und häuslicher Gewalt.

Geldsorgen und Gewalt

Mit 20 Jahren zog er aus. Heute ist Olivier David nur im Viertel zu Besuch. Er ist ein zugewandter Typ, mitteilsam – seine Erzählung eine Gratwanderung zwischen extrovertiert und schüchtern. Die Szenen aus der Vergangenheit spult er ab wie Abenteuergeschichten. Es gab nicht viel anderes, mit dem er angeben konnte.

Seine Mutter stamme aus einer Familie, in der Armut über Generationen vererbt wurde. Damit die Familie zu essen hatte, habe der Großvater auf den Feldern Lebensmittel geklaut. Ansonsten sei seine Mutter so oft “zusammengetrümmert” worden, dass sie mit 17 Jahren von zuhause abhaute. Fortan, erzählt ihr Sohn, boten ihr psychische Erkrankungen Obdach.

Sein Vater habe Zuflucht in diversen Drogen gesucht, sich Kokain manchmal direkt in die Vene gespritzt. Er sei einer der gefährlichsten Menschen, die er kennt: jähzornig, gewalttätig, wegen Drogendelikten zweimal im Gefängnis. Sein Gebrüll verfolge ihn bis heute. Als David zehn Jahre alt war, habe der Vater rund 100.000 Euro Schulden angehäuft. Er ging ins Ausland, ließ seine Familie mit einem Teil der Schulden zurück. Vorbildfunktion? Fehlanzeige.

Im Sommer 2019 hat David sein Schlüsselerlebnis, berichtet er: Er ist Anfang 30, eigentlich geht es ihm gut. Er hat einen Job, eine Beziehung, endlich keine Geldsorgen. Doch plötzlich ist da dieser rasende Hass. Ein vertrautes Gefühl aus der Vergangenheit. Bloß habe es ihn in jenem Sommer vollkommen unvermittelt überfallen. Er analysiert: Wut ist der Zustand, der ihn am Leben hält. Und er erkennt auch: Wut ist das Gefühl, das ihn sein Leben lang klein gehalten hat.

Olivier David beginnt eine Therapie. Ab da wird alles schlimmer: Er muss stundenlang weinen, hat Ohrensausen und Panikattacken. Er erhält die Diagnosen posttraumatische Belastungsstörung, Depression, ADHS.

Er ist überzeugt: Diese Wut und seine psychischen Beschwerden, die haben System. Ihren Ursprung verortet er in seinem Aufwachsen in Armut. Um sich aus seiner Ohnmacht zu befreien, schreibt er seine Geschichte auf.

Wissenschaftlich ist der Zusammenhang zwischen Armut und psychischen Erkrankungen gut belegt: Menschen mit niedrigem Einkommen erkranken zwischen eineinhalb- und dreimal häufiger an einer Depression oder Angststörung als jene mit hohem Einkommen.

Dabei sei nicht nur die absolute Armut entscheidend, betont der Psychiater Andreas Heinz von der Berliner Charité, sondern insbesondere die relative: Wie groß also der Unterschied innerhalb einer Gesellschaft oder Gruppe ist. Er erklärt: “Stresserfahrungen sind in der Regel ausgeprägter, je ärmer ein Mensch ist.”

Die Medizinsoziologin Jelena Epping von der Medizinischen Hochschule Hannover sagt, dass Armut bereits während der Schwangerschaft negative Auswirkungen auf  die psychische Gesundheit des ungeborenen Kind haben kann. Häufig seien auch negative Rollenbilder und eine fehlende Sensibilisierung ein Problem: Weiß ich, was es bedeutet, psychisch krank zu sein und wo ich mir Hilfe suchen kann?

Psychische Erkrankungen wiederum können dazu führen, betonen die Experten, dass Menschen sich zurückziehen, dass sie Kontakte, Job und Geld verlieren oder in eine Abwärtsspirale aus Wut und Aggressionen, Alkohol und Drogen geraten.

Armut, das bedeutet für Olivier David nicht hungern oder frieren. Armut, das ist für ihn der Mangel an Ressourcen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Er sagt: “Menschen, die in Armut leben, werden nie wissen, welche Entscheidungen sie getroffen hätten, hätten sie eine wirkliche Wahl gehabt”. 

In seiner Kindheit habe er sich oft ohnmächtig gefühlt: Weil er nicht wusste, wie er mit dem gewalttätigen Vater und der überforderten Mutter umgehen sollte. Weil die Leute in der Schule lachten, wenn er eine Frage stellte. Weil er die sozialen Codes wohlhabender Menschen nicht verstand.

Ohnmacht erlaube drei Reaktionen, sagt er. Erstarren, wegrennen oder angreifen. Der Junge Olivier entschied sich meist für Angriff.

Heute kann man kaum glauben, dass dieser schlaksige Typ mit den Segelohren sich in seiner Kindheit so oft geprügelt haben soll. An Olivier David im Jahr 2022 wirkt alles zurückgenommen und bedächtig: Wortwahl, Stimme, Kleidung, Gang.

Als Zweitklässler aber habe er oft ältere Kinder gehauen, erinnert er sich. Im Unterricht einen Stuhl aus dem Fenster geworfen, später dann Schlägereien im Viertel. Mehrmals musste seine Brille dran glauben. Meist ging die Sache glimpflich aus. Er rannte früh genug weg.

Was er sich damals gewünscht hätte? Eltern, die ihr eigenes Leid zurückstellen können. Die Kapazitäten für seine Ängste und Nöte haben. Und Geld natürlich, damit das möglich ist.

Olivier David geht ohne Abitur von der Schule. Stattdessen arbeitet er: an der Kasse, auf dem Bau, im Lager. Er kifft täglich, trinkt fast jeden Tag. Kurzum: Er kopiert, was er kennt. Das Scheitern sei für ihn zu einem Nachhausekommen geworden. Diese “Tagesration an Niederlage, die ich brauchte, um mein Selbstbild aufrechtzuerhalten”.

Ein junger Mann von hinten läuft durch eine Straße. Links von ihm ist eine Wand mit Graffiti besprüht.
Ein älterer Mann mit lockigen Haaren legt seine Arme auf die Schultern eines kleinen Jungen und eines Mädchens. Die drei stehen auf dem Balkon eines Backsteingebäudes
Ein junger Mann mit Brille steht an einem Geländer und liest in seinem Buch Keine Aufstiegsgeschichte

Den Geräuschen der Armut hatten die dünnen Wände in seinem Elternhaus nicht viel entgegenzusetzen: “Nachbarn, die streiten; eine immer wieder heulende Mutter; der Pissstrahl eines im Stehen pinkelnden Nachbarn”. Wann er gemerkt hat, dass seine Kindheit nicht normal war? Als das SEK klingelte, um aus dem Fenster eine bessere Schussposition auf den benachbarten Bankräuber zu haben. Als im Hauseingang ein Molotowcocktail explodierte. Als er im Hinterhof in eine Spritze trat. “Da versteht jedes Lebewesen, dass das nicht normal ist.”

Olivier David ist Anfang der 1990er Jahre im Hamburger Stadtteil Ottensen aufgewachsen. In seiner Erinnerung prägen Gemüsehändler und Moscheen das Straßenbild, sind die Hausfassaden schäbig, wohnt in jedem zweiten Haus ein Dealer. Heute tragen viele Fassaden Pastelltöne. Die Fabrikgebäude beherbergen Lifestyle-Bäckereien. Der Cappuccino kostet 4,20 Euro.

Geldsorgen und Gewalt

Das Elternhaus von Olivier David: der selbe Backsteinbau wie damals. Die Fenster der Wohnung so tief, dass man von draußen fast reinschauen kann. Hier wohnte David mit Mutter, Vater, großer Schwester. Zwischen Geldsorgen und häuslicher Gewalt.

Mit 20 Jahren zog er aus. Heute ist Olivier David nur im Viertel zu Besuch. Er ist ein zugewandter Typ, mitteilsam – seine Erzählung eine Gratwanderung zwischen extrovertiert und schüchtern. Die Szenen aus der Vergangenheit spult er ab wie Abenteuergeschichten. Es gab nicht viel anderes, mit dem er angeben konnte.

Seine Mutter stamme aus einer Familie, in der Armut über Generationen vererbt wurde. Damit die Familie zu essen hatte, habe der Großvater auf den Feldern Lebensmittel geklaut. Ansonsten sei seine Mutter so oft “zusammengetrümmert” worden, dass sie mit 17 Jahren von zuhause abhaute. Fortan, erzählt ihr Sohn, boten ihr psychische Erkrankungen Obdach.

Sein Vater habe Zuflucht in diversen Drogen gesucht, sich Kokain manchmal direkt in die Vene gespritzt. Er sei einer der gefährlichsten Menschen, die er kennt: jähzornig, gewalttätig, wegen Drogendelikten zweimal im Gefängnis. Sein Gebrüll verfolge ihn bis heute. Als David zehn Jahre alt war, habe der Vater rund 100.000 Euro Schulden angehäuft. Er ging ins Ausland, ließ seine Familie mit einem Teil der Schulden zurück. Vorbildfunktion? Fehlanzeige.

Wissenschaftler: Armut schadet der Psyche

Im Sommer 2019 hat David sein Schlüsselerlebnis, berichtet er: Er ist Anfang 30, eigentlich geht es ihm gut. Er hat einen Job, eine Beziehung, endlich keine Geldsorgen. Doch plötzlich ist da dieser rasende Hass. Ein vertrautes Gefühl aus der Vergangenheit. Bloß habe es ihn in jenem Sommer vollkommen unvermittelt überfallen. Er analysiert: Wut ist der Zustand, der ihn am Leben hält. Und er erkennt auch: Wut ist das Gefühl, das ihn sein Leben lang klein gehalten hat.

Ein System aus Chaos und Mangel

Olivier David beginnt eine Therapie. Ab da wird alles schlimmer: Er muss stundenlang weinen, hat Ohrensausen und Panikattacken. Er erhält die Diagnosen posttraumatische Belastungsstörung, Depression, ADHS.

Er ist überzeugt: Diese Wut und seine psychischen Beschwerden, die haben System. Ihren Ursprung verortet er in seinem Aufwachsen in Armut. Um sich aus seiner Ohnmacht zu befreien, schreibt er seine Geschichte auf.

Wissenschaftlich ist der Zusammenhang zwischen Armut und psychischen Erkrankungen gut belegt: Menschen mit niedrigem Einkommen erkranken zwischen eineinhalb- und dreimal häufiger an einer Depression oder Angststörung als jene mit hohem Einkommen.

Schlägereien und Graffiti

Dabei sei nicht nur die absolute Armut entscheidend, betont der Psychiater Andreas Heinz von der Berliner Charité, sondern insbesondere die relative: Wie groß also der Unterschied innerhalb einer Gesellschaft oder Gruppe ist. Er erklärt: “Stresserfahrungen sind in der Regel ausgeprägter, je ärmer ein Mensch ist.”

Die Medizinsoziologin Jelena Epping von der Medizinischen Hochschule Hannover sagt, dass Armut bereits während der Schwangerschaft negative Auswirkungen auf  die psychische Gesundheit des ungeborenen Kind haben kann. Häufig seien auch negative Rollenbilder und eine fehlende Sensibilisierung ein Problem: Weiß ich, was es bedeutet, psychisch krank zu sein und wo ich mir Hilfe suchen kann?

Scheitern als Selbstzweck

Psychische Erkrankungen wiederum können dazu führen, betonen die Experten, dass Menschen sich zurückziehen, dass sie Kontakte, Job und Geld verlieren oder in eine Abwärtsspirale aus Wut und Aggressionen, Alkohol und Drogen geraten.

Systemkritik

Armut, das bedeutet für Olivier David nicht hungern oder frieren. Armut, das ist für ihn der Mangel an Ressourcen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Er sagt: “Menschen, die in Armut leben, werden nie wissen, welche Entscheidungen sie getroffen hätten, hätten sie eine wirkliche Wahl gehabt”. 

Ein junger Mann mit Wollmantel und grünem Kapuzenpulli steht vor einem Müllberg. Auf der rechten Seite ein roter Mülleimer an einer Straßenlaterne.

In seiner Kindheit habe er sich oft ohnmächtig gefühlt: Weil er nicht wusste, wie er mit dem gewalttätigen Vater und der überforderten Mutter umgehen sollte. Weil die Leute in der Schule lachten, wenn er eine Frage stellte. Weil er die sozialen Codes wohlhabender Menschen nicht verstand.

Ohnmacht erlaube drei Reaktionen, sagt er. Erstarren, wegrennen oder angreifen. Der Junge Olivier entschied sich meist für Angriff.

Heute kann man kaum glauben, dass dieser schlaksige Typ mit den Segelohren sich in seiner Kindheit so oft geprügelt haben soll. An Olivier David im Jahr 2022 wirkt alles zurückgenommen und bedächtig: Wortwahl, Stimme, Kleidung, Gang.

Als Zweitklässler aber habe er oft ältere Kinder gehauen, erinnert er sich. Im Unterricht einen Stuhl aus dem Fenster geworfen, später dann Schlägereien im Viertel. Mehrmals musste seine Brille dran glauben. Meist ging die Sache glimpflich aus. Er rannte früh genug weg.

Was er sich damals gewünscht hätte? Eltern, die ihr eigenes Leid zurückstellen können. Die Kapazitäten für seine Ängste und Nöte haben. Und Geld natürlich, damit das möglich ist.

Olivier David geht ohne Abitur von der Schule. Stattdessen arbeitet er: an der Kasse, auf dem Bau, im Lager. Er kifft täglich, trinkt fast jeden Tag. Kurzum: Er kopiert, was er kennt. Das Scheitern sei für ihn zu einem Nachhausekommen geworden. Diese “Tagesration an Niederlage, die ich brauchte, um mein Selbstbild aufrechtzuerhalten”.

Ein bisschen wehleidig klingt das manchmal. Damit kokettiert der 34-Jährige. Stets sei er der schwache Junge gewesen. Der, dem nichts zugetraut wurde. Unzulänglichkeit ist das Wort, das er immer wieder benutzt. Eine Art Selbstdiagnose, aber auch Erklärung, Anklage, Waffe: Wer sich selbst lächerlich macht, kann nicht mehr verspottet werden. Blöd nur, wenn das zum Selbstläufer wird: “Weil eigentlich willst du ja ernst genommen werden”.

Olivier David will ernst genommen werden. Es geht ihm ums große Ganze: Um ein Klassensystem, das Aufsteigergeschichten feiere; das von den Leuten unten aber nicht erwarte, dass sie es nach oben schaffen.

Olivier David will ernst genommen werden. Es geht ihm ums große Ganze: Um ein Klassensystem, das Aufsteigergeschichten feiere; das von den Leuten unten aber nicht erwarte, dass sie es nach oben schaffen.

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