Ein Salto ins Leben: Die Artistenkarriere eines besonderen Jungen
Begabtenförderung unter Roma-Kindern sollte auch in Ungarn zu den staatlichen Aufgaben gehören. Dem ist nicht so. Stattdessen wird sie von Nichtregierungsorganisationen und Freiwilligen betrieben – mit Erfolg.
“Ich wäre längst ein drogensüchtiger Arbeitsloser”, davon ist der 17-jährige Daniel Kovacs heute überzeugt. Doch er hatte Glück: Eine Gruppe von Budapester Freiwilligen hat ihn vor sechs Jahren aus seinem Lebensumfeld im ungarischen Roma-Dorf Tarnabod herausgerissen. Jetzt ist er Schüler der Artistenschule in Ungarns Hauptstadt – mit der Perspektive auf Abitur, Auslandssemester und sogar eine Jongleur-Karriere. Seine Chance auf ein erfolgreiches Leben hat er vielen zu verdanken – nur nicht dem ungarischen Staat.
“Alle zehn Jahre erleben wir so ein Talent wie Daniel”, sagt eine der Lehrkräfte der Budapester Artistenakademie über den Roma-Jungen. 2016 wurden seine außergewöhnlichen akrobatischen Fähigkeiten vom Budapester Bühnendesigner Peter Horgas erkannt. Was der renommierte Theatermensch im abgelegenen 900-Einwohnerdorf zu suchen hatte? Er hatte Spenden seiner Bekannten dorthin gebracht, um den Kindern von Tarnabod zu helfen, den kalten Winter zu überleben.
“Ich wäre längst ein drogensüchtiger Arbeitsloser”, davon ist der 17-jährige Daniel Kovacs heute überzeugt. Doch er hatte Glück: Eine Gruppe von Budapester Freiwilligen hat ihn vor sechs Jahren aus seinem Lebensumfeld im ungarischen Roma-Dorf Tarnabod herausgerissen. Jetzt ist er Schüler der Artistenschule in Ungarns Hauptstadt – mit der Perspektive auf Abitur, Auslandssemester und sogar eine Jongleur-Karriere. Seine Chance auf ein erfolgreiches Leben hat er vielen zu verdanken – nur nicht dem ungarischen Staat.
Das Team der Spendensammler nannte sich TaMi: eine Abkürzung für “Tarnabod es mi” (Deutsch: “Tarnabod und wir”). Warum diese Gruppe von ungarischen Journalistinnen und Journalisten, Fotografen, Künstlern, Juristen, Pädagogen und Köchen nicht nur ein Kind, sondern ein ganzes Dorf adoptierte, ist eine längere Geschichte.
“Tarnabod und wir”
Das Ganze fing damit an, dass einige Pressemenschen aus der Redaktion der damals auflagenstärksten Tageszeitung “Nepszabadsag” kurz vor Weihnachten 2011 mit drei Autos aus der Hauptstadt nach Tarnabod fuhren. Beladen waren die Fahrzeuge mit Mandarinen, Schoko-Weihnachtsmännern, gebrauchten Winterkleidern, alten Spielsachen, Mehl, Zucker, Öl, Nudeln und H-Milch.
Als nämlich eine der Journalistinnen der Nepszabadsag einige Wochen früher – anlässlich der Schuleröffnung durch den Malteser Hilfsdienst – eine Reportage über das Dorf schrieb, war sie von der Armut der dort Lebenden schockiert. Sie entschloss sich, den Menschen von Tarnabod zu helfen.
Im Dorf gab es damals weit und breit keine Arbeit, die Kinder bekamen nur in der Kindertagesstätte zu essen, Vier- bis Fünfjährige liefen draußen barfuß im gefrorenen Schlamm herum, und bei vielen waren zu Hause Strom und Gas abgeschaltet. Armut war aber nur das eine Problem.
Zum anderen wurden die Bewohner Opfer rassistischer und neonazistischer Strömungen: 2008 wurde in Tarnabod auf fünf Häuser geschossen, einige wurden mit Molotowcocktails beworfen. Dass kein Mensch zu Tode kam, war wohl Zufall.
Roma-Familien in anderen ungarischen Dörfern hatten weniger Glück: In der sogenannten Roma-Mordserie von 2008 bis 2009 wurden insgesamt sechs Menschen getötet und 55 weitere verletzt. Zwar wurden die drei Täter 2014 zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt, doch bestritten sie ihre Schuld konsequent – bis vor wenigen Wochen, als der Haupttäter überraschenderweise ein Geständnis ablegte.
Die spärlichen Reaktionen aus Politik, Justiz, Presse und seitens der Europäischen Union bewiesen, dass die offene Missachtung von Menschenrechten in Ungarn niemanden wirklich interessierte. Anstatt auf Maßnahmen des ungarischen Staats zu warten, nahm das TaMi-Team die Sache deswegen selbst in die Hand.
Mittlerweile sind die Freiwilligen seit elf Jahren in Tarnabod aktiv. Staatliche Fördermittel haben sie nie erhalten und sind deshalb auf kontinuierliches Spendensammeln angewiesen, um zum Beispiel kunstpädagogische Vormittage, Konzerte, Theatervorführungen, Weihnachtsfeiern, Ausflüge und Sommercamps für die Dorfkinder zu finanzieren.
“Unsere größte Stärke ist unser Netzwerk, vor allem im Kunst- und Kulturbereich beziehungsweise in der Gastronomie”, sagte die Leiterin der TaMi-Gruppe, Katalin Szemere, im DW-Interview. Die Journalistin ist stolz auf ihre Freiwilligen: “Anfangs ging es in unserem Projekt nur um Spendenaktionen. Heute erfüllen wir eine wichtige, eigentlich staatliche Aufgabe: die der Talentförderung unter Roma-Kindern.”
Früher hätten sie jeden zweiten Monat in Riesenkesseln für das ganze Dorf auf dem Schulhof gekocht. Die Kinder hätten beim Schälen und Schneiden mitgeholfen, erzählt Szemere und fügt hinzu. “Dabei haben wir verstanden, dass sie alles Mögliche über das Leben jenseits der Dorfgrenze wissen wollten”. Um diesem Bedürfnis zu entsprechen, hat Szemere eine Kunstpädagogin eingeladen. Der Begegnung folgten Konzerte, Theateraufführungen und Ausflüge in die Hauptstadt.
Seit einigen Jahren gibt es auch die beliebten Sommercamps. Daniel Kovacs und sein Freund Marko Bogdan fahren heute nicht mehr als Teilnehmer, sondern als Helfer dorthin. Seitdem die außergewöhnliche Begabung der Jungen von Szemeres Freiwilligenteam vor sechs Jahren entdeckt wurde, gehen die beiden auf die Artistenschule in Budapest.
Daniel wurde von seiner Ersatzmutter, der Theaterpädagogin Ildiko Vegh, aufgenommen. Er wohnt bei ihr, seitdem er elf ist. Gemeinsam mit einem anderen TaMi-Freiwilligen, dem “Ersatz-Papa” Kristof Koroknai, finanziert Ildiko sein Leben, kauft ihm Sportschuhe, schickt ihn zum Englischkurs, bringt ihn ins Theater und reist mit ihm ins Ausland – zum Beispiel nach Rom, wovon der Junge schon immer träumte. “Ich werde nie vergessen, wie es für ihn war, als wir am Colosseum ankamen. Da setzte sich Dani auf einen großen Steinhaufen, legte seine verschränkten Arme auf die Knie und sagte 20 Minuten lang kein einziges Wort”, erzählt die Ziehmutter.
Daniel hat großen Bedarf, über seine Identität zu diskutieren. Was aus ihm geworden wäre, wenn TaMi ihn nicht aus seinem damaligen Lebensumfeld herausgerissen hätte – darüber unterhält er sich oft mit Vegh. Eine weiterführende Schule wäre für ihn nicht in Frage gekommen.
Den Eltern in Tarnabod ist es lieber, wenn alle Kinder so schnell wie möglich etwas dazuverdienen. “Ich hätte vielleicht Gelegenheit zur Arbeit als Tagelöhner gehabt. Deshalb nehme ich an, dass ich mir schnell einen Ausweg gesucht hätte, um mein Gehirn auszuschalten”, meint Daniel.
Roma wie Daniel und seine leiblichen Eltern gehören zu den größten Verlierern der Wende von 1989/1990. Zwar wurde die Minderheit in Ungarn auch während der kommunistischen Herrschaft nicht sonderlich unterstützt, doch fand sich für fast alle eine Hilfsarbeit in den großen Betrieben, in Bergwerken oder auf dem Bau. Nach dem Umbruch war es auch mit diesen bescheidenen Möglichkeiten vorbei. Regierungen kamen und gingen, doch keine hatte eine wirklich ernsthafte Roma-Strategie zur Inklusion der diskriminierten Minderheit.
Marko und Daniel betrifft dieses Problem von Tag zu Tag weniger – genauso wie die anderen musikalisch oder künstlerisch begabten Roma-Kinder, die vom TaMi-Team und dem Malteser Hilfsdienst unterstützt werden.
“Ich habe immer davon geträumt, aus Tarnabod auszubrechen”, sagt Daniel Kovacs. Jetzt nimmt er an Workshops in Hamburg teil, lernt Fremdsprachen und hat Zukunftspläne. Auf die Frage, was er als das Allerwichtigste an Ildikos Unterstützung empfindet, antwortet er ohne zu zögern: “ihre Liebe”. Und sein größter Wunsch? Als Ball-Jongleur beim Cirque du Soleil aufzutreten – “dem besten Zirkus der Welt”.
“Ich wäre längst ein drogensüchtiger Arbeitsloser”, davon ist der 17-jährige Daniel Kovacs heute überzeugt. Doch er hatte Glück: Eine Gruppe von Budapester Freiwilligen hat ihn vor sechs Jahren aus seinem Lebensumfeld im ungarischen Roma-Dorf Tarnabod herausgerissen. Jetzt ist er Schüler der Artistenschule in Ungarns Hauptstadt – mit der Perspektive auf Abitur, Auslandssemester und sogar eine Jongleur-Karriere. Seine Chance auf ein erfolgreiches Leben hat er vielen zu verdanken – nur nicht dem ungarischen Staat.
“Alle zehn Jahre erleben wir so ein Talent wie Daniel”, sagt eine der Lehrkräfte der Budapester Artistenakademie über den Roma-Jungen. 2016 wurden seine außergewöhnlichen akrobatischen Fähigkeiten vom Budapester Bühnendesigner Peter Horgas erkannt. Was der renommierte Theatermensch im abgelegenen 900-Einwohnerdorf zu suchen hatte? Er hatte Spenden seiner Bekannten dorthin gebracht, um den Kindern von Tarnabod zu helfen, den kalten Winter zu überleben.
“Tarnabod und wir”
Das Team der Spendensammler nannte sich TaMi: eine Abkürzung für “Tarnabod es mi” (Deutsch: “Tarnabod und wir”). Warum diese Gruppe von ungarischen Journalistinnen und Journalisten, Fotografen, Künstlern, Juristen, Pädagogen und Köchen nicht nur ein Kind, sondern ein ganzes Dorf adoptierte, ist eine längere Geschichte.
Das Ganze fing damit an, dass einige Pressemenschen aus der Redaktion der damals auflagenstärksten Tageszeitung “Nepszabadsag” kurz vor Weihnachten 2011 mit drei Autos aus der Hauptstadt nach Tarnabod fuhren. Beladen waren die Fahrzeuge mit Mandarinen, Schoko-Weihnachtsmännern, gebrauchten Winterkleidern, alten Spielsachen, Mehl, Zucker, Öl, Nudeln und H-Milch.
Als nämlich eine der Journalistinnen der Nepszabadsag einige Wochen früher – anlässlich der Schuleröffnung durch den Malteser Hilfsdienst – eine Reportage über das Dorf schrieb, war sie von der Armut der dort Lebenden schockiert. Sie entschloss sich, den Menschen von Tarnabod zu helfen.
Im Dorf gab es damals weit und breit keine Arbeit, die Kinder bekamen nur in der Kindertagesstätte zu essen, Vier- bis Fünfjährige liefen draußen barfuß im gefrorenen Schlamm herum, und bei vielen waren zu Hause Strom und Gas abgeschaltet. Armut war aber nur das eine Problem.
Rassismus und Antiziganismus
Zum anderen wurden die Bewohner Opfer rassistischer und neonazistischer Strömungen: 2008 wurde in Tarnabod auf fünf Häuser geschossen, einige wurden mit Molotowcocktails beworfen. Dass kein Mensch zu Tode kam, war wohl Zufall.
Zivilcourage als einzige Chance
Roma-Familien in anderen ungarischen Dörfern hatten weniger Glück: In der sogenannten Roma-Mordserie von 2008 bis 2009 wurden insgesamt sechs Menschen getötet und 55 weitere verletzt. Zwar wurden die drei Täter 2014 zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt, doch bestritten sie ihre Schuld konsequent – bis vor wenigen Wochen, als der Haupttäter überraschenderweise ein Geständnis ablegte.
Die spärlichen Reaktionen aus Politik, Justiz, Presse und seitens der Europäischen Union bewiesen, dass die offene Missachtung von Menschenrechten in Ungarn niemanden wirklich interessierte. Anstatt auf Maßnahmen des ungarischen Staats zu warten, nahm das TaMi-Team die Sache deswegen selbst in die Hand.
Mittlerweile sind die Freiwilligen seit elf Jahren in Tarnabod aktiv. Staatliche Fördermittel haben sie nie erhalten und sind deshalb auf kontinuierliches Spendensammeln angewiesen, um zum Beispiel kunstpädagogische Vormittage, Konzerte, Theatervorführungen, Weihnachtsfeiern, Ausflüge und Sommercamps für die Dorfkinder zu finanzieren.
Ein Salto ins Hauptstadtleben
“Unsere größte Stärke ist unser Netzwerk, vor allem im Kunst- und Kulturbereich beziehungsweise in der Gastronomie”, sagte die Leiterin der TaMi-Gruppe, Katalin Szemere, im DW-Interview. Die Journalistin ist stolz auf ihre Freiwilligen: “Anfangs ging es in unserem Projekt nur um Spendenaktionen. Heute erfüllen wir eine wichtige, eigentlich staatliche Aufgabe: die der Talentförderung unter Roma-Kindern.”
Früher hätten sie jeden zweiten Monat in Riesenkesseln für das ganze Dorf auf dem Schulhof gekocht. Die Kinder hätten beim Schälen und Schneiden mitgeholfen, erzählt Szemere und fügt hinzu. “Dabei haben wir verstanden, dass sie alles Mögliche über das Leben jenseits der Dorfgrenze wissen wollten”. Um diesem Bedürfnis zu entsprechen, hat Szemere eine Kunstpädagogin eingeladen. Der Begegnung folgten Konzerte, Theateraufführungen und Ausflüge in die Hauptstadt.
Verlierer der Wende
Seit einigen Jahren gibt es auch die beliebten Sommercamps. Daniel Kovacs und sein Freund Marko Bogdan fahren heute nicht mehr als Teilnehmer, sondern als Helfer dorthin. Seitdem die außergewöhnliche Begabung der Jungen von Szemeres Freiwilligenteam vor sechs Jahren entdeckt wurde, gehen die beiden auf die Artistenschule in Budapest.
Daniel wurde von seiner Ersatzmutter, der Theaterpädagogin Ildiko Vegh, aufgenommen. Er wohnt bei ihr, seitdem er elf ist. Gemeinsam mit einem anderen TaMi-Freiwilligen, dem “Ersatz-Papa” Kristof Koroknai, finanziert Ildiko sein Leben, kauft ihm Sportschuhe, schickt ihn zum Englischkurs, bringt ihn ins Theater und reist mit ihm ins Ausland – zum Beispiel nach Rom, wovon der Junge schon immer träumte. “Ich werde nie vergessen, wie es für ihn war, als wir am Colosseum ankamen. Da setzte sich Dani auf einen großen Steinhaufen, legte seine verschränkten Arme auf die Knie und sagte 20 Minuten lang kein einziges Wort”, erzählt die Ziehmutter.
Daniel hat großen Bedarf, über seine Identität zu diskutieren. Was aus ihm geworden wäre, wenn TaMi ihn nicht aus seinem damaligen Lebensumfeld herausgerissen hätte – darüber unterhält er sich oft mit Vegh. Eine weiterführende Schule wäre für ihn nicht in Frage gekommen.
Den Eltern in Tarnabod ist es lieber, wenn alle Kinder so schnell wie möglich etwas dazuverdienen. “Ich hätte vielleicht Gelegenheit zur Arbeit als Tagelöhner gehabt. Deshalb nehme ich an, dass ich mir schnell einen Ausweg gesucht hätte, um mein Gehirn auszuschalten”, meint Daniel.
Roma wie Daniel und seine leiblichen Eltern gehören zu den größten Verlierern der Wende von 1989/1990. Zwar wurde die Minderheit in Ungarn auch während der kommunistischen Herrschaft nicht sonderlich unterstützt, doch fand sich für fast alle eine Hilfsarbeit in den großen Betrieben, in Bergwerken oder auf dem Bau. Nach dem Umbruch war es auch mit diesen bescheidenen Möglichkeiten vorbei. Regierungen kamen und gingen, doch keine hatte eine wirklich ernsthafte Roma-Strategie zur Inklusion der diskriminierten Minderheit.
Marko und Daniel betrifft dieses Problem von Tag zu Tag weniger – genauso wie die anderen musikalisch oder künstlerisch begabten Roma-Kinder, die vom TaMi-Team und dem Malteser Hilfsdienst unterstützt werden.
“Ich habe immer davon geträumt, aus Tarnabod auszubrechen”, sagt Daniel Kovacs. Jetzt nimmt er an Workshops in Hamburg teil, lernt Fremdsprachen und hat Zukunftspläne. Auf die Frage, was er als das Allerwichtigste an Ildikos Unterstützung empfindet, antwortet er ohne zu zögern: “ihre Liebe”. Und sein größter Wunsch? Als Ball-Jongleur beim Cirque du Soleil aufzutreten – “dem besten Zirkus der Welt”.