Kultur

Disney war Schmutzliteratur: Was in der DDR gelesen wurde

“Auf dem Weg zur gebildeten Nation” lautete der kulturpolitische Slogan der DDR. Das Volk sollte lesen – aber nur die Bücher, die das Regime guthieß. Ein Blick in die Bücherregale der Deutschen Demokratischen Republik.

Es wurde viel gelesen in der DDR. Es gab die Klassiker wie Tolstois “Krieg und Frieden”, Boccaccios “Decameron” und Victor Hugos “Die Elenden”, man las Science-Fiction-Romane und auch Berichte über Orte, die man wegen der Reisebeschränkungen nur in der Phantasie besuchen durfte. Eines aber war deutlich spürbar: Wie in vielen anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens hatte bei der Auswahl der Literatur in der DDR die Partei ihre Finger im Spiel. Sie kontrollierte, was gelesen wird.

Nach außen präsentierte sich die DDR als “gebildete Nation”; man prägte sogar den Begriff “Leseland DDR”, der für den Anspruch stand, eine besonders lesefreudige Gesellschaft zu sein. Die Gedenkstätten der Dichter Goethe und Schiller in Weimar wurden gepflegt und ihre Werke stolz als DDR-Kulturgut dargestellt.

Es wurde viel gelesen in der DDR. Es gab die Klassiker wie Tolstois “Krieg und Frieden”, Boccaccios “Decameron” und Victor Hugos “Die Elenden”, man las Science-Fiction-Romane und auch Berichte über Orte, die man wegen der Reisebeschränkungen nur in der Phantasie besuchen durfte. Eines aber war deutlich spürbar: Wie in vielen anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens hatte bei der Auswahl der Literatur in der DDR die Partei ihre Finger im Spiel. Sie kontrollierte, was gelesen wird.

“Was waren das für wunderbare Zeiten für die Literatur! Vor den Buchhandlungen standen die Kunden Schlange, und die Buchbasare wurden von Literaturfreunden überrannt. (….) Aber was waren das andererseits für schreckliche Zeiten, in denen jedes gedruckte Wort einer strengen Zensur unterlag! Die Partei glaubte an die weltverändernde Kraft des Wortes und fürchtete gleichzeitig – vielleicht über Gebühr – die Wirkung kritischer Texte”, schreibt Stefan Wolle, Buchautor und Kurator der Ausstellung “Leseland DDR”, organisiert von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur (SED=Sozialistische Einheitspartei Deutschlands, Anm. d. Red.)

Die gebildete Nation

Diese Ambivalenz zwischen Pflege und Förderung auf der einen Seite und der bis zur Lächerlichkeit kleinlichen Zensur und Bevormundung auf der anderen steht im Fokus der Ausstellung, die auf 20 Tafeln ein Schlaglicht auf den Alltag in der DDR wirft und zu einer anschaulichen Zeitreise durch das Leseland DDR einlädt. Es ist keine Ausstellung über die Schriftstellerinnen und Schriftsteller des Landes, sondern darüber, wie sich die Bürgerinnen und Bürger durchs Lesen die Welt erschlossen haben – auch das Ausland. “Die Ausstellung ist eine Heldengeschichte der Menschen, die immer Wege fanden, sich die Literatur zu besorgen, die sie tatsächlich lesen wollten”, sagt Ulrich Mählert, Zeithistoriker und Mitarbeiter der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur im DW-Gespräch.

Das Genre der Kinder- und Jugendliteratur war lebendig und üppig. Die Geschichten über Alfons Zitterbacke, genannt Alfi, haben die Wende überlebt, mehr noch: Den aufgeweckten Jungen mit seinen wagemutigen Einfällen kennen inzwischen auch viele Kinder im Westen.

Ein patziger Alfi, der Kosmonaut werden will, stand in der DDR in jedem Bücherregal. “Wenn man ganz genau hinschaut, könnte man eine Brücke zur Jugendpolitik der DDR schlagen. Die pädagogische Botschaft der Geschichte ist, dass niemand den Weg in den Kosmos allein antreten kann. Der Einzelne soll sich dem Kollektiv einordnen, unterordnen”, analysiert Ulrich Mählert.

Was in den Bücherregalen der DDR-Jugend landete, wurde genau beäugt. Comics wie die mit Donald Duck und Onkel Dagobert, Gangstergeschichten oder Liebesromane aus dem Westen galten als  Schmutzliteratur. Nicht selten wurden die Ranzen in der Schule kontrolliert: Wer verbotene Literatur einschmuggelte, musste mit einem Eintrag im Klassenbuch rechnen – oder die Eltern wurden zum Gespräch zitiert.

Auch in Demokratien gebe es Literatur – wie pornographische Bücher, nationalsozialistische oder andere extreme Literatur -, die nicht im öffentlichen Bereich der Bibliotheken stünden und speziell beantragt werden müssten, sagt Ulrich Mählert. “In der DDR wurde das aber zum Extrem gemacht.” 

Man habe in der Nachkriegszeit zunächst mit dem Verbot der NS-Literatur begonnen. Schon bald habe dieses Verbot auch Bücher aus dem Westen getroffen, die nicht politisch opportun waren, oder Literatur von kommunistischen Abweichlern. Vereinzelt sammelten die Bibliotheken die Bücher im sogenannten Giftschrank, nur mit einer Sondergenehmigung konnte man die Literatur einsehen.  

Spiegelte sich die DDR-Gesellschaft in ihrer Literatur wider? Der Schriftsteller Stefan Wolle, der die Trilogie “Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR” verfasst und jetzt die Ausstellungstexte geschrieben hat, sagt: “Nein. Damals hat ja die Obrigkeit alles getan, um das zu verhindern.” Es sei ihr nicht immer gelungen, aber es seien eine Menge Bücher erschienen, wo man schon damals den Kopf geschüttelt habe: “Wie weltfremd das alles ist, dass da eine Wirklichkeit dargestellt wird, die es so gar nicht gegeben hat.”

Schriftsteller sollten dem Sozialismus an der Schreibmaschine dienen. Sie wurden von der Obrigkeit hofiert, aber auch bestraft, wenn sie sich vom vorgeschriebenen Weg entfernten.

Jedes Buch wurde unter die Lupe genommen: Das Ministerium für Kultur musste entscheiden, ob eine Schrift veröffentlicht wird. Begutachtet wurden vor allem die politische Aussagen. Das Problem war: Es fehlten einheitliche Standards, so dass die Prüfung seitens des Ministeriums oft unberechenbar und subjektiv war, je nach den aktuellen politischen Gegebenheiten und nach der persönlichen Einschätzung des Begutachters. Wenn die erste Hürde, die Veröffentlichung, bestanden wurde, kam die zweite: die Auflage. So war es gängige Praxis, dass regierungstreue Schriftsteller eine hohe, kritische Autoren – wenn sie überhaupt verlegt wurden – eine niedrige Auflage bekamen.

Das führte dazu, dass sich einige Autoren selbst zensierten, um überhaupt eine Chance zu haben, dass man ihr Buch veröffentlicht. Doch es gab auch andere, die sich trauten, Tabuthemen zumindest anzureißen – so wie Christa Wolf. Stefan Wolle gibt ein Beispiel: “Es gab bei uns keine Debatten über Atomkraftwerke oder über Tschernobyl. Aber in diese Lücke stießen dann Bücher wie “Störfall” von Christa Wolf.” Die Menschen hätten  ihre Bücher gelesen, “um ein Stückchen von den öffentlichen Debatten wahrzunehmen, die es hätte geben müssen, die es aber nicht gab”.

Die Literatur von Christa Wolf und anderen abweichlerischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern wurde vom Westen mit Begeisterung aufgenommen. “Es wurde ein politischer Maßstab angelegt. Was der Obrigkeit in der DDR missfiel, war gut und interessant und wurde in den Feuilletons besprochen und entsprechend auch gelesen. Diese gegenseitige Rezeption ging natürlich auch in die andere Richtung. In der DDR hat man die Bücher aus der BRD bevorzugt, die eine sehr kritische Haltung zur westdeutschen Wirklichkeit verbreiteten.”

33 Jahre nach dem Mauerfall ist die DDR längst Geschichte, aber in den Köpfen vieler Menschen existiere sie weiter. Deswegen lohne es sich, sich mit der Literatur der DDR zu beschäftigen, sagt Stefan Wolle. Denn das Land, das es zwar nicht mehr gibt, lebe weiter in den Menschen, die es bewohnt haben, in den nächsten Generationen. “Durch die Bücher, Filme und Erzählungen reproduziert sich dieses Land immer wieder neu.” 

Hinweis: Die 20 Tafeln der Ausstellung können weltweit von Museen, Schulen, Bibliotheken und andere Bildungseinrichtungen gegen eine geringe Gebühr als Poster-Set bestellt werden. Darüber hinaus werden weitere Formate und fremdsprachige Fassungen als Druckdateien bereitgestellt.

Viele Besucher gucken sich die Ausstellungstafeln bei der Premiere der Ausstellung Leseland DDR am 7. September 2022 in der Mittelpunktbiliothek Alte Feuerwache in Treptow an.
Eine Tafel aus der Ausstellung mit der Überschrift Giftschrankliteratur und dazugehörigen Erläuterungen
Autor und Co-Kurator der Ausstellung Stefan Wolle spricht ins Mikro bei der Premiere der Ausstellung Leseland DDR.

Es wurde viel gelesen in der DDR. Es gab die Klassiker wie Tolstois “Krieg und Frieden”, Boccaccios “Decameron” und Victor Hugos “Die Elenden”, man las Science-Fiction-Romane und auch Berichte über Orte, die man wegen der Reisebeschränkungen nur in der Phantasie besuchen durfte. Eines aber war deutlich spürbar: Wie in vielen anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens hatte bei der Auswahl der Literatur in der DDR die Partei ihre Finger im Spiel. Sie kontrollierte, was gelesen wird.

Nach außen präsentierte sich die DDR als “gebildete Nation”; man prägte sogar den Begriff “Leseland DDR”, der für den Anspruch stand, eine besonders lesefreudige Gesellschaft zu sein. Die Gedenkstätten der Dichter Goethe und Schiller in Weimar wurden gepflegt und ihre Werke stolz als DDR-Kulturgut dargestellt.

Die gebildete Nation

“Was waren das für wunderbare Zeiten für die Literatur! Vor den Buchhandlungen standen die Kunden Schlange, und die Buchbasare wurden von Literaturfreunden überrannt. (….) Aber was waren das andererseits für schreckliche Zeiten, in denen jedes gedruckte Wort einer strengen Zensur unterlag! Die Partei glaubte an die weltverändernde Kraft des Wortes und fürchtete gleichzeitig – vielleicht über Gebühr – die Wirkung kritischer Texte”, schreibt Stefan Wolle, Buchautor und Kurator der Ausstellung “Leseland DDR”, organisiert von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur (SED=Sozialistische Einheitspartei Deutschlands, Anm. d. Red.)

Diese Ambivalenz zwischen Pflege und Förderung auf der einen Seite und der bis zur Lächerlichkeit kleinlichen Zensur und Bevormundung auf der anderen steht im Fokus der Ausstellung, die auf 20 Tafeln ein Schlaglicht auf den Alltag in der DDR wirft und zu einer anschaulichen Zeitreise durch das Leseland DDR einlädt. Es ist keine Ausstellung über die Schriftstellerinnen und Schriftsteller des Landes, sondern darüber, wie sich die Bürgerinnen und Bürger durchs Lesen die Welt erschlossen haben – auch das Ausland. “Die Ausstellung ist eine Heldengeschichte der Menschen, die immer Wege fanden, sich die Literatur zu besorgen, die sie tatsächlich lesen wollten”, sagt Ulrich Mählert, Zeithistoriker und Mitarbeiter der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur im DW-Gespräch.

Das Genre der Kinder- und Jugendliteratur war lebendig und üppig. Die Geschichten über Alfons Zitterbacke, genannt Alfi, haben die Wende überlebt, mehr noch: Den aufgeweckten Jungen mit seinen wagemutigen Einfällen kennen inzwischen auch viele Kinder im Westen.

Ein patziger Alfi, der Kosmonaut werden will, stand in der DDR in jedem Bücherregal. “Wenn man ganz genau hinschaut, könnte man eine Brücke zur Jugendpolitik der DDR schlagen. Die pädagogische Botschaft der Geschichte ist, dass niemand den Weg in den Kosmos allein antreten kann. Der Einzelne soll sich dem Kollektiv einordnen, unterordnen”, analysiert Ulrich Mählert.

Was der Osten las

Was in den Bücherregalen der DDR-Jugend landete, wurde genau beäugt. Comics wie die mit Donald Duck und Onkel Dagobert, Gangstergeschichten oder Liebesromane aus dem Westen galten als  Schmutzliteratur. Nicht selten wurden die Ranzen in der Schule kontrolliert: Wer verbotene Literatur einschmuggelte, musste mit einem Eintrag im Klassenbuch rechnen – oder die Eltern wurden zum Gespräch zitiert.

Schriftsteller in der DDR – kein leichtes Los

Auch in Demokratien gebe es Literatur – wie pornographische Bücher, nationalsozialistische oder andere extreme Literatur -, die nicht im öffentlichen Bereich der Bibliotheken stünden und speziell beantragt werden müssten, sagt Ulrich Mählert. “In der DDR wurde das aber zum Extrem gemacht.” 

Man habe in der Nachkriegszeit zunächst mit dem Verbot der NS-Literatur begonnen. Schon bald habe dieses Verbot auch Bücher aus dem Westen getroffen, die nicht politisch opportun waren, oder Literatur von kommunistischen Abweichlern. Vereinzelt sammelten die Bibliotheken die Bücher im sogenannten Giftschrank, nur mit einer Sondergenehmigung konnte man die Literatur einsehen.  

Spiegelte sich die DDR-Gesellschaft in ihrer Literatur wider? Der Schriftsteller Stefan Wolle, der die Trilogie “Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR” verfasst und jetzt die Ausstellungstexte geschrieben hat, sagt: “Nein. Damals hat ja die Obrigkeit alles getan, um das zu verhindern.” Es sei ihr nicht immer gelungen, aber es seien eine Menge Bücher erschienen, wo man schon damals den Kopf geschüttelt habe: “Wie weltfremd das alles ist, dass da eine Wirklichkeit dargestellt wird, die es so gar nicht gegeben hat.”

Die Instrumentalisierung von Literatur

Schriftsteller sollten dem Sozialismus an der Schreibmaschine dienen. Sie wurden von der Obrigkeit hofiert, aber auch bestraft, wenn sie sich vom vorgeschriebenen Weg entfernten.

Jedes Buch wurde unter die Lupe genommen: Das Ministerium für Kultur musste entscheiden, ob eine Schrift veröffentlicht wird. Begutachtet wurden vor allem die politische Aussagen. Das Problem war: Es fehlten einheitliche Standards, so dass die Prüfung seitens des Ministeriums oft unberechenbar und subjektiv war, je nach den aktuellen politischen Gegebenheiten und nach der persönlichen Einschätzung des Begutachters. Wenn die erste Hürde, die Veröffentlichung, bestanden wurde, kam die zweite: die Auflage. So war es gängige Praxis, dass regierungstreue Schriftsteller eine hohe, kritische Autoren – wenn sie überhaupt verlegt wurden – eine niedrige Auflage bekamen.

Das führte dazu, dass sich einige Autoren selbst zensierten, um überhaupt eine Chance zu haben, dass man ihr Buch veröffentlicht. Doch es gab auch andere, die sich trauten, Tabuthemen zumindest anzureißen – so wie Christa Wolf. Stefan Wolle gibt ein Beispiel: “Es gab bei uns keine Debatten über Atomkraftwerke oder über Tschernobyl. Aber in diese Lücke stießen dann Bücher wie “Störfall” von Christa Wolf.” Die Menschen hätten  ihre Bücher gelesen, “um ein Stückchen von den öffentlichen Debatten wahrzunehmen, die es hätte geben müssen, die es aber nicht gab”.

Die Literatur von Christa Wolf und anderen abweichlerischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern wurde vom Westen mit Begeisterung aufgenommen. “Es wurde ein politischer Maßstab angelegt. Was der Obrigkeit in der DDR missfiel, war gut und interessant und wurde in den Feuilletons besprochen und entsprechend auch gelesen. Diese gegenseitige Rezeption ging natürlich auch in die andere Richtung. In der DDR hat man die Bücher aus der BRD bevorzugt, die eine sehr kritische Haltung zur westdeutschen Wirklichkeit verbreiteten.”

Ulrich Mählert (rechts) und Projektmanagerin Clara Marz (Mitte) von der Bundesstiftung Aufarbeitung im DW-Gespräch in Berlin

33 Jahre nach dem Mauerfall ist die DDR längst Geschichte, aber in den Köpfen vieler Menschen existiere sie weiter. Deswegen lohne es sich, sich mit der Literatur der DDR zu beschäftigen, sagt Stefan Wolle. Denn das Land, das es zwar nicht mehr gibt, lebe weiter in den Menschen, die es bewohnt haben, in den nächsten Generationen. “Durch die Bücher, Filme und Erzählungen reproduziert sich dieses Land immer wieder neu.” 

Hinweis: Die 20 Tafeln der Ausstellung können weltweit von Museen, Schulen, Bibliotheken und andere Bildungseinrichtungen gegen eine geringe Gebühr als Poster-Set bestellt werden. Darüber hinaus werden weitere Formate und fremdsprachige Fassungen als Druckdateien bereitgestellt.

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