Wirtschaft

Warum kann Deutschland nicht aus der Atomenergie aussteigen?

Der Krieg in der Ukraine hat Deutschlands Energiestrategie grundlegend verändert. Der Ausstieg aus der Kernkraft ist um einige Monate verschoben. Doch was passiert, wenn die Energiekrise länger dauert als erwartet?

Die Dampfsäule ist schon von weitem zu sehen, aber den Atomreaktor zu finden, ist gar nicht so einfach. Das Kernkraftwerk Emsland liegt versteckt zwischen Bäumen und einer Chemiefabrik etwa zehn Kilometer südlich der niedersächsischen Kleinstadt Lingen.

“Ehrlich gesagt, vergisst man, dass es da ist”, sagt Christine, eine 44-Jährige, die in der Gegend aufgewachsen ist, gegenüber der DW. “Und man vertraut und hofft, dass alles gut wird.”

Die Dampfsäule ist schon von weitem zu sehen, aber den Atomreaktor zu finden, ist gar nicht so einfach. Das Kernkraftwerk Emsland liegt versteckt zwischen Bäumen und einer Chemiefabrik etwa zehn Kilometer südlich der niedersächsischen Kleinstadt Lingen.

Der Emsland-Reaktor ist eines der letzten drei Atomkraftwerke in Deutschland. Alle drei sollten in der Silvesternacht dieses Jahres für immer abgeschaltet werden, ihre Abschaltung den Atomausstieg in Deutschland vollenden. Doch dann überfiel Russland die Ukraine.

Zeitenwende in Deutschlands Energiestrategie

“Eigentlich halte ich mich für einen Atomkraftgegner”, sagt Christine. “Aber ich muss zugeben, dass man die Situation jetzt ein bisschen anders sieht.”

Bis vor kurzem war Russland ein wichtiger Energiepartner Deutschlands, der dem Land einen Großteil des benötigten Erdöls und Erdgases lieferte. Doch der Krieg in der Ukraine hat diese Partnerschaft zerstört und dazu geführt, dass sich Deutschland in den Wintermonaten nach alternativen Lieferquellen umsehen muss – und die Energiepreise in die Höhe schießen.

Jetzt überdenkt das Land seine Strategie für den Ausstieg aus der Atomenergie. Heute produzieren die drei bestehenden Kernreaktoren in Deutschland etwa sechs Prozent des Stroms. Im Oktober ordnete Bundeskanzler Olaf Scholz an, die drei verbleibenden Kernkraftwerke des Landes bis Mitte April 2023 weiterlaufen zu lassen.

Ein Fehler, glaubt der Atomkraft Gegner Alexander Vent aus Lingen, der ehrenamtlich für das Bündnis AgIEL tätig ist, dass die sofortige Stilllegung aller deutschen AKW fordert. “Es reden alle ständig über Laufzeitverlängerung, aber wir sollten viel mehr über den Ausbau der erneuerbaren Energie reden,” so Vent. Das Risiko bei der Kernkraft sei einfach zu groß, außerdem sei er schockiert, dass trotz zahlreicher Sanktionen gegen Russland, Europa nach wie vor russisches Uran importiere und Lingen mit seiner Brennelementefabrik Teil dieses Komplexes sei.

Einige Experten schätzen die Abhängigkeit der EU von Russland bei der Atomenergie größer ein als bei Erdgas, denn rund 40 Prozent des angereicherten Urans stammt laut der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom) weltweit aus Russland und dem kremltreuen Kasachstan.

Anders als Deutschland will die EU längerfristig an der Kernenergie festhalten. Ab 2023 soll sie als klimafreundlich eingestuft werden, was weitere Investitionen ermöglichen würde.

Ein richtiger Schritt glaubt der Lingener Elektriker Franz-Josef Thiering, der jahrelang in der Nuklearindustrie gearbeitet hat. Schließlich sei Atomkraft eine zuverlässige und relativ emissionsarme Energie. Während des Interviews mit der DW zieht er ein in Glas gefasstes, künstliches Uranplättchen von der Größe eines kleinen Fingernagels hervor. “Zwei solche Plättchen können einen durchschnittlichen Haushalt in Deutschland ein Jahr lang mit Strom versorgen”, so Thiering. “Das fasziniert mich”, sagt er. “Das ist Physik.”

Es sei töricht, die Bedeutung des von den deutschen Kernkraftwerken erzeugten Stroms zu vernachlässigen, wenn das Land versucht, den Übergang zu grüner Energie zu schaffen, sagt Thiering.

“Wir werden in Zukunft mehr Strom brauchen. Das ist eine Tatsache”, sagt er und verweist dabei auf die steigende Nachfrage nach Elektroautos und Wärmepumpen. “Und sechs Prozent können viel sein, wenn es nichts Neues [als Ersatz] gibt. Wir würden sechs Prozent verlieren, obwohl wir eigentlich mehr brauchen.”

Viele Deutsche scheinen dem zuzustimmen. Während die Mehrheit der Bevölkerung nach der Katastrophe von Fukushima den Atomausstieg befürwortete, sprachen sich im August dieses Jahres laut einer ARD-Umfrage über 80 Prozent für eine Verlängerung der Laufzeiten der bestehenden deutschen Atomreaktoren aus.

Doch die Angst vor einer nuklearen Katastrophe und die ungelöste Frage, was mit dem radioaktiven Atommüll geschehen soll, ruft die Kritiker einer Laufzeitverlängerung auf den Plan. Claudia Kemfert, Professorin für Energiewirtschaft an der Hertie School of Governance in Berlin, verweist auf Deutschlands Nachbarland Frankreich, das in hohem Maße von der Atomenergie abhängig ist.

“Die Hälfte der neuen Kernkraftwerke [in Frankreich] sind vom Netz, und zwar weil sie Sicherheitsprobleme haben”, so Kemfert gegenüber der DW. „[…] In Deutschland haben wir das gleiche Problem. Die Sicherheitsinspektionen sind seit über 15 Jahren nicht mehr durchgeführt worden. Und wir müssen sie dringend nachholen, um zu sehen, ob wir das gleiche Problem wie in Frankreich haben.”

Sie weist auch darauf hin, dass die Kernenergie ein schlechter Ersatz für Erdgas ist, das auch zum Heizen und nicht nur zur Stromerzeugung verwendet werden kann.

Dennoch halten viele die Kernenergie für besser als einen Rückfall in die Kohleverbrennung, eine weitere Strategie, zu der Deutschland in der Energiekrise gegriffen hat. Nach Angaben der niederländischen Anti-Atom-Gruppe WISE verursachen Kernkraftwerke 117 Gramm CO2-Emissionen pro Kilowattstunde, während die Verbrennung von Braunkohle mehr als 1000 Gramm CO2-Emissionen pro Kilowattstunde verursacht.

Trotz der veränderten Umstände glaubt Thiering nicht, dass diese vorübergehende Verlängerung zu einer echten Renaissance der Kernenergie in Deutschland führen wird. “Ich glaube, wir reden hier wirklich nur über eine kurze Zeit”, sagt er. “Nur zur Überbrückung.”

Der Text wurde aus dem Englischen adaptiert.

Die Dampfsäule ist schon von weitem zu sehen, aber den Atomreaktor zu finden, ist gar nicht so einfach. Das Kernkraftwerk Emsland liegt versteckt zwischen Bäumen und einer Chemiefabrik etwa zehn Kilometer südlich der niedersächsischen Kleinstadt Lingen.

“Ehrlich gesagt, vergisst man, dass es da ist”, sagt Christine, eine 44-Jährige, die in der Gegend aufgewachsen ist, gegenüber der DW. “Und man vertraut und hofft, dass alles gut wird.”

Zeitenwende in Deutschlands Energiestrategie

Der Emsland-Reaktor ist eines der letzten drei Atomkraftwerke in Deutschland. Alle drei sollten in der Silvesternacht dieses Jahres für immer abgeschaltet werden, ihre Abschaltung den Atomausstieg in Deutschland vollenden. Doch dann überfiel Russland die Ukraine.

“Eigentlich halte ich mich für einen Atomkraftgegner”, sagt Christine. “Aber ich muss zugeben, dass man die Situation jetzt ein bisschen anders sieht.”

Bis vor kurzem war Russland ein wichtiger Energiepartner Deutschlands, der dem Land einen Großteil des benötigten Erdöls und Erdgases lieferte. Doch der Krieg in der Ukraine hat diese Partnerschaft zerstört und dazu geführt, dass sich Deutschland in den Wintermonaten nach alternativen Lieferquellen umsehen muss – und die Energiepreise in die Höhe schießen.

Jetzt überdenkt das Land seine Strategie für den Ausstieg aus der Atomenergie. Heute produzieren die drei bestehenden Kernreaktoren in Deutschland etwa sechs Prozent des Stroms. Im Oktober ordnete Bundeskanzler Olaf Scholz an, die drei verbleibenden Kernkraftwerke des Landes bis Mitte April 2023 weiterlaufen zu lassen.

Grünes EU-Label für die Kernkraft

Ein Fehler, glaubt der Atomkraft Gegner Alexander Vent aus Lingen, der ehrenamtlich für das Bündnis AgIEL tätig ist, dass die sofortige Stilllegung aller deutschen AKW fordert. “Es reden alle ständig über Laufzeitverlängerung, aber wir sollten viel mehr über den Ausbau der erneuerbaren Energie reden,” so Vent. Das Risiko bei der Kernkraft sei einfach zu groß, außerdem sei er schockiert, dass trotz zahlreicher Sanktionen gegen Russland, Europa nach wie vor russisches Uran importiere und Lingen mit seiner Brennelementefabrik Teil dieses Komplexes sei.

Wachsender Energiebedarf in Deutschland

Einige Experten schätzen die Abhängigkeit der EU von Russland bei der Atomenergie größer ein als bei Erdgas, denn rund 40 Prozent des angereicherten Urans stammt laut der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom) weltweit aus Russland und dem kremltreuen Kasachstan.

Anders als Deutschland will die EU längerfristig an der Kernenergie festhalten. Ab 2023 soll sie als klimafreundlich eingestuft werden, was weitere Investitionen ermöglichen würde.

Ein richtiger Schritt glaubt der Lingener Elektriker Franz-Josef Thiering, der jahrelang in der Nuklearindustrie gearbeitet hat. Schließlich sei Atomkraft eine zuverlässige und relativ emissionsarme Energie. Während des Interviews mit der DW zieht er ein in Glas gefasstes, künstliches Uranplättchen von der Größe eines kleinen Fingernagels hervor. “Zwei solche Plättchen können einen durchschnittlichen Haushalt in Deutschland ein Jahr lang mit Strom versorgen”, so Thiering. “Das fasziniert mich”, sagt er. “Das ist Physik.”

Angst vor dem GAU

Es sei töricht, die Bedeutung des von den deutschen Kernkraftwerken erzeugten Stroms zu vernachlässigen, wenn das Land versucht, den Übergang zu grüner Energie zu schaffen, sagt Thiering.

“Wir werden in Zukunft mehr Strom brauchen. Das ist eine Tatsache”, sagt er und verweist dabei auf die steigende Nachfrage nach Elektroautos und Wärmepumpen. “Und sechs Prozent können viel sein, wenn es nichts Neues [als Ersatz] gibt. Wir würden sechs Prozent verlieren, obwohl wir eigentlich mehr brauchen.”

Weniger CO2-Emissionen mit Kernkraft

Viele Deutsche scheinen dem zuzustimmen. Während die Mehrheit der Bevölkerung nach der Katastrophe von Fukushima den Atomausstieg befürwortete, sprachen sich im August dieses Jahres laut einer ARD-Umfrage über 80 Prozent für eine Verlängerung der Laufzeiten der bestehenden deutschen Atomreaktoren aus.

Doch die Angst vor einer nuklearen Katastrophe und die ungelöste Frage, was mit dem radioaktiven Atommüll geschehen soll, ruft die Kritiker einer Laufzeitverlängerung auf den Plan. Claudia Kemfert, Professorin für Energiewirtschaft an der Hertie School of Governance in Berlin, verweist auf Deutschlands Nachbarland Frankreich, das in hohem Maße von der Atomenergie abhängig ist.

“Die Hälfte der neuen Kernkraftwerke [in Frankreich] sind vom Netz, und zwar weil sie Sicherheitsprobleme haben”, so Kemfert gegenüber der DW. „[…] In Deutschland haben wir das gleiche Problem. Die Sicherheitsinspektionen sind seit über 15 Jahren nicht mehr durchgeführt worden. Und wir müssen sie dringend nachholen, um zu sehen, ob wir das gleiche Problem wie in Frankreich haben.”

Sie weist auch darauf hin, dass die Kernenergie ein schlechter Ersatz für Erdgas ist, das auch zum Heizen und nicht nur zur Stromerzeugung verwendet werden kann.

Dennoch halten viele die Kernenergie für besser als einen Rückfall in die Kohleverbrennung, eine weitere Strategie, zu der Deutschland in der Energiekrise gegriffen hat. Nach Angaben der niederländischen Anti-Atom-Gruppe WISE verursachen Kernkraftwerke 117 Gramm CO2-Emissionen pro Kilowattstunde, während die Verbrennung von Braunkohle mehr als 1000 Gramm CO2-Emissionen pro Kilowattstunde verursacht.

Trotz der veränderten Umstände glaubt Thiering nicht, dass diese vorübergehende Verlängerung zu einer echten Renaissance der Kernenergie in Deutschland führen wird. “Ich glaube, wir reden hier wirklich nur über eine kurze Zeit”, sagt er. “Nur zur Überbrückung.”

Der Text wurde aus dem Englischen adaptiert.

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