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SPD-Politiker Nietan: “Von Polen und dem Baltikum lernen”

Zu russlandfreundlich, zu unkritisch, zu gutgläubig: So wurde die deutsche Russlandpolitik nach dem Angriff auf die Ukraine beschrieben. Die SPD zieht nun Konsequenzen und erarbeitet neue Leitlinien ihrer Außenpolitik.

Seit Dezember 2021 arbeitet die Kommission für Internationale Politik (KIP) der SPD an einer Neuausrichtung der sozialdemokratischen Außenpolitik. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine im Februar 2022 hat die Notwendigkeit einer solchen Neuformulierung noch einmal verstärkt. Der Krieg löste in Deutschland eine Diskussion um die Russland- und Ostpolitik aus, bei der vor allem die SPD in den Fokus der Kritik rückte. Sie hatte in den 1970er Jahren unter dem damaligen Bundeskanzler Willy Brandt die Entspannungspolitik mit dem Ostblock entwickelt. Nun warf man den Sozialdemokraten vor, zu lange an einer blauäugigen Haltung gegenüber Moskau festgehalten und die Bedrohungen nicht ernst genommen zu haben. Die DW hat darüber mit dem SPD-Abgeordneten Dietmar Nietan gesprochen. Er gehört als Bundesschatzmeister dem Parteivorstand an. Seit November 2010 ist er außerdem Vorstandsvorsitzender der Deutsch-Polnischen Gesellschaft und seit mehr als einem Jahr Polenbeauftragter der Bundesregierung. 

DW: Die SPD hat zu Beginn des Jahres die Ansätze ihrer neuen Außenpolitik vorgestellt, darunter auch eine neue Ostpolitik. Die scheint bitter nötig zu sein, da in den vergangenen Jahren viele Fehler gemacht worden sind, das gibt Ihre Partei selbst zu. Was wollen Sie jetzt anders machen?

Seit Dezember 2021 arbeitet die Kommission für Internationale Politik (KIP) der SPD an einer Neuausrichtung der sozialdemokratischen Außenpolitik. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine im Februar 2022 hat die Notwendigkeit einer solchen Neuformulierung noch einmal verstärkt. Der Krieg löste in Deutschland eine Diskussion um die Russland- und Ostpolitik aus, bei der vor allem die SPD in den Fokus der Kritik rückte. Sie hatte in den 1970er Jahren unter dem damaligen Bundeskanzler Willy Brandt die Entspannungspolitik mit dem Ostblock entwickelt. Nun warf man den Sozialdemokraten vor, zu lange an einer blauäugigen Haltung gegenüber Moskau festgehalten und die Bedrohungen nicht ernst genommen zu haben. Die DW hat darüber mit dem SPD-Abgeordneten Dietmar Nietan gesprochen. Er gehört als Bundesschatzmeister dem Parteivorstand an. Seit November 2010 ist er außerdem Vorstandsvorsitzender der Deutsch-Polnischen Gesellschaft und seit mehr als einem Jahr Polenbeauftragter der Bundesregierung. 

Dietmar Nietan: Erst einmal möchte ich betonen, dass es wichtig ist, dass Politiker, politische Parteien, aber auch Regierungen in der Lage sind, Fehler zu erkennen und sie dann auch öffentlich zuzugeben und für diese Fehler auch einzustehen. Das ist wichtig und deshalb bin ich stolz darauf, dass meine Partei die erste ist, die selbstkritisch ihre Russlandpolitik untersucht hat und jetzt aus den Fehlern lernen will. Was wollen wir anders machen? Wir haben festgestellt, dass wir viel zu wenig auf die Erfahrungen und die Hinweise unserer Freunde in Mittelosteuropa, in Polen und den baltischen Staaten gehört haben. Also: Die erste Lektion ist, dass die alten Westeuropäer in der EU ihren Freunden aus diesen Ländern viel besser zuhören und erkennen müssen, dass die Erfahrungen und Kulturleistungen der Gesellschaften in Polen, in Mittelosteuropa und in den baltischen Staaten eine Bereicherung sind.

Lange hat man das nicht wahrnehmen wollen, stattdessen hat man über die Köpfe der EU-Mitglieder im Osten hinweg nach Russland geschaut. Warum?

Ein Grund war die Ignoranz vieler politischer Eliten in Deutschland, aber auch in anderen EU-Staaten in Bezug auf die Ereignisse hinter dem Eisernen Vorhang, auf die Zeit zwischen 1945 und 1989/90. Der zweite Fehler war, dass wir die Warnungen, dass sich Russland unter Wladimir Putin wieder zu alten imperialistischen Gelüsten zurückentwickelt, nicht ernst genommen haben. Wir hatten da ein falsches Bild.

Woran lag das?

Für Sozialdemokraten ist es konstitutiv, dass wir niemals unsere Verantwortung aus der Nazi-Geschichte vergessen. Und natürlich haben auch die Sowjetunion und ihre Völker, auch das russische Volk, schwer unter den Nazis gelitten und für die Befreiung vom Faschismus hohe Verluste auf sich genommen. Das hat immer dazu geführt, dass wir mit Russland eine besondere Beziehung haben wollten, nach dem Motto: Die Russen sollen nie mehr vor den Deutschen und der NATO Angst haben. Wir haben aber in diesem gutgemeinten Blick einfach nicht erkannt, dass auf der russischen Seite der Wille zu einer neuen gleichberechtigten Friedensordnung in Europa zu kommen, mit jedem Jahr, das Putin regiert hat, kleiner wurde. Das haben wir ausgeblendet, das haben wir nicht wahrhaben wollen, und wir haben ganz naiv gesagt: Wenn wir mit Russland gute Geschäfte machen und wir miteinander wirtschaftlich verflochten sind, dann können wir mehr Einfluss im Guten auf Russland nehmen. Und das war ein Fehler, denn wir haben Russland damit stark gemacht, und wir haben durch die große Abhängigkeit vom russischen Gas Russland auch ein ökonomisches Kampfmittel, wenn man so will, in die Hand gegeben.

Sie behaupten, die SPD hätte Lehren aus diesen Fehlern gezogen. Aber hat man sich innerhalb der Partei wirklich mit den Kräften auseinandergesetzt, die in der Vergangenheit eine fragwürdige Rolle gespielt haben? Man denkt hier zum Beispiel an die umstrittene Klimastiftung in Mecklenburg-Vorpommern. Und Gerhard Schröder ist immer noch in der SPD.

Die SPD ist eine Partei mit fast 400.000 Mitgliedern, und ich glaube, jeder hat jetzt Verständnis dafür, dass ich nicht für jedes dieser 400.000 Mitglieder meine Hand ins Feuer legen würde. Aber es gibt einen Generationswechsel. Die SPD-Fraktion im Bundestag besteht aus 206 Mitgliedern. 50 davon, also ein Viertel, sind jünger als 35 Jahre. Diese jungen Abgeordneten, die in vielen wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen sehr weit links stehen, haben sich fast alle für mehr Waffen und schwere Waffen für die Ukraine ausgesprochen. Das heißt, die Generation von Gerhard Schröder bestimmt nicht mehr die Politik in der SPD, sondern es sind jetzt jüngere wie Lars Klingbeil. Diese junge Generation der SPD hat die richtigen Lehren aus den Fehlern gezogen und blickt auch anders auf Russland, als das vielleicht die heute 70- bis 80-Jährigen in der SPD tun.

Die Jungen, von denen Sie sprechen, sind nur ein Viertel der Fraktion. Und der Rest?

Es gibt für diesen neuen Kurs eine überwältigende Mehrheit in der Bundestagsfraktion. Es gibt eine überwältigende Mehrheit im SPD-Parteivorstand. Noch mal, wir können nicht für jedes Mitglied reden, aber die SPD wird nicht mehr zu ihrer alten Politik zurückkehren. Das kann ich an dieser Stelle garantieren. Ich will aber auch sagen, dass das Lernen aus den Fehlern bei der SPD nicht bedeutet, dass wir den Konservativen, die vor 50 Jahren in Deutschland die Ostpolitik von Willy Brandt bekämpft haben, jetzt im Nachhinein Recht geben, dass diese Politik Schuld an dem Desaster Schuld war.

Ohne Willy Brandt und Helmut Schmidt hätte es keine KSZE (Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) gegeben. Die Fehler haben nicht Willy Brandt und Helmut Schmidt gemacht, die Fehler sind unter Schröder und Merkel passiert. Und noch mal, ein solches Papier, wie es die SPD vorgelegt hat, öffentliche Äußerungen des Vorsitzenden, dass man Fehler gemacht hat und sich ändern will, haben wir bisher von keiner anderen Partei in Deutschland gehört. Frau Merkel sagt, dass sie in den 16 Jahren ihrer Kanzlerschaft keine Fehler gegenüber Russland gemacht hat. Wo ist die Aufarbeitung der Fehler bei den Konservativen? Die gibt es bisher nicht.

Wie soll dann die neue Ostpolitik aussehen, die die SPD anstrebt?

Wir sollten unsere zukünftige Außen- und Sicherheitspolitik viel stärker mit den Nachbarn, insbesondere den Nachbarn in Mittelosteuropa, zusammen entwickeln, zusammen denken. Wir sagen, es gibt keine deutsche Ostpolitik, sondern es muss eine EU-Ostpolitik geben, und eine EU-Ostpolitik muss sehr, sehr stark von den Staaten in Mittel- und Osteuropa geprägt werden, denn sie haben unter dem russischen Imperialismus über Jahrhunderte gelitten, nicht nur heute die Ukraine. Wir müssen die Sicherheitsinteressen der Menschen in Mittelosteuropa viel ernster nehmen, als wir es früher getan haben. Das muss der Maßstab unserer neuen Außen- und Sicherheitspolitik werden.

Die deutsche Haltung gegenüber Russland in den vergangenen Jahren sowie die zögerliche Reaktion auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine haben dem Vertrauen gegenüber Deutschland in Mittelosteuropa nicht gerade gutgetan. Glauben Sie, dass es gut ankommen wird, wenn jetzt ausgerechnet Berlin die neue EU-Ostpolitik verkündet?

Ich glaube, es hängt davon ab, wie Deutschland es macht. Viele haben es nicht gut gefunden, dass in dem Papier steht: Deutschland muss eine führende Rolle einnehmen. Wenn führende Rolle heißt, Deutschland bespricht etwas mit Frankreich und dann müssen das alle in der EU machen, lehne ich das ab. Wenn eine führende Rolle heißt, dass Deutschland immer ein Motor ist, immer gemeinsam mit Staaten in Mittelosteuropa, insbesondere aber immer mit Polen, gemeinsam neue politische Initiativen startet, sein ökonomisches Gewicht in die Waagschale wirft, um eine gute neue Friedensordnung, einen Wiederaufbau in Mittelosteuropa auf den Weg zu bringen, dann finde ich, soll Deutschland eine führende Rolle spielen. Ich meine damit wirklich, sich an vorderster Stelle mit zu engagieren und eben nicht zu dominieren. Das ist der Unterschied.

Wir reden über die Ostpolitik, aber es gibt keine Ostpolitik an Russland vorbei. Wie soll man mit diesem Land umgehen?

Natürlich muss es unser Ziel sein und unsere Hoffnung, dass es irgendwann auch in Russland zu mehr Demokratie kommt, dass dort politische Kräfte eine Chance bekommen, die nicht imperialistisch sind. Doch solange sich die russische Politik nicht ändert, muss gelten: Europa muss sich einig sein in der Zurückweisung der russischen Aggression und des russischen Imperialismus. Das muss das Ziel sein. Eine Friedensordnung, die auf Demokratie, Menschenrechten und Freiheit basiert, ist im Moment nur gegen Russland möglich. Aber wir wollen daran arbeiten, dass wir irgendwann an einen Punkt kommen, wo eine solche Friedensordnung auch mit einem neuen Russland möglich wird. Also: Selbstverständlich gibt es weiterhin Platz für Russland, um miteinander zu reden und an einer echten Friedensordnung zu arbeiten. Wir erinnern uns – nach dem unglaublichen Menschheitsverbrechen der Deutschen im Zweiten Weltkrieg hat man Deutschland in den Vorläufer der EU, die EWG, aufgenommen und hat man Westdeutschland in die NATO aufgenommen, weil man gesagt hat, wenn sich Deutschland zum Guten ändert, geben wir ihm eine Chance.

Wie stark sind die Kräfte in Deutschland, die sich eine Rückkehr zum business as usual mit Russland wünschen?

Sie sind schwach, sie sind zahlenmäßig schwach, sie sind auch politisch schwach. Sie sind aber auch moralisch schwach, weil die deutsche Bevölkerung jeden Tag im Fernsehen, im Internet sehen kann, welche grausamen Verbrechen Putins Armee in der Ukraine verübt, an unschuldigen Frauen und Kindern, nicht nur in Butscha. Das heißt, es gibt selbst für die, die es vielleicht noch wollen, kein Zurück zu den alten Zeiten.

Dietmar Nietan und der polnische Abgeordnete Pawel Kowal lächeln in die Kamera beim Kongress des Bundesverbands der Deutsch-Polnischen Gesellschaften im Oktober 2022
Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder schüttelt die Hand des russischen Staatschefs Wladimir Putin bei dessen Amtseinführung am 7.05.2018 in Moskau
Breschnew und Willy Brandt 1973

Seit Dezember 2021 arbeitet die Kommission für Internationale Politik (KIP) der SPD an einer Neuausrichtung der sozialdemokratischen Außenpolitik. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine im Februar 2022 hat die Notwendigkeit einer solchen Neuformulierung noch einmal verstärkt. Der Krieg löste in Deutschland eine Diskussion um die Russland- und Ostpolitik aus, bei der vor allem die SPD in den Fokus der Kritik rückte. Sie hatte in den 1970er Jahren unter dem damaligen Bundeskanzler Willy Brandt die Entspannungspolitik mit dem Ostblock entwickelt. Nun warf man den Sozialdemokraten vor, zu lange an einer blauäugigen Haltung gegenüber Moskau festgehalten und die Bedrohungen nicht ernst genommen zu haben. Die DW hat darüber mit dem SPD-Abgeordneten Dietmar Nietan gesprochen. Er gehört als Bundesschatzmeister dem Parteivorstand an. Seit November 2010 ist er außerdem Vorstandsvorsitzender der Deutsch-Polnischen Gesellschaft und seit mehr als einem Jahr Polenbeauftragter der Bundesregierung. 

DW: Die SPD hat zu Beginn des Jahres die Ansätze ihrer neuen Außenpolitik vorgestellt, darunter auch eine neue Ostpolitik. Die scheint bitter nötig zu sein, da in den vergangenen Jahren viele Fehler gemacht worden sind, das gibt Ihre Partei selbst zu. Was wollen Sie jetzt anders machen?

Dietmar Nietan: Erst einmal möchte ich betonen, dass es wichtig ist, dass Politiker, politische Parteien, aber auch Regierungen in der Lage sind, Fehler zu erkennen und sie dann auch öffentlich zuzugeben und für diese Fehler auch einzustehen. Das ist wichtig und deshalb bin ich stolz darauf, dass meine Partei die erste ist, die selbstkritisch ihre Russlandpolitik untersucht hat und jetzt aus den Fehlern lernen will. Was wollen wir anders machen? Wir haben festgestellt, dass wir viel zu wenig auf die Erfahrungen und die Hinweise unserer Freunde in Mittelosteuropa, in Polen und den baltischen Staaten gehört haben. Also: Die erste Lektion ist, dass die alten Westeuropäer in der EU ihren Freunden aus diesen Ländern viel besser zuhören und erkennen müssen, dass die Erfahrungen und Kulturleistungen der Gesellschaften in Polen, in Mittelosteuropa und in den baltischen Staaten eine Bereicherung sind.

Lange hat man das nicht wahrnehmen wollen, stattdessen hat man über die Köpfe der EU-Mitglieder im Osten hinweg nach Russland geschaut. Warum?

Ein Grund war die Ignoranz vieler politischer Eliten in Deutschland, aber auch in anderen EU-Staaten in Bezug auf die Ereignisse hinter dem Eisernen Vorhang, auf die Zeit zwischen 1945 und 1989/90. Der zweite Fehler war, dass wir die Warnungen, dass sich Russland unter Wladimir Putin wieder zu alten imperialistischen Gelüsten zurückentwickelt, nicht ernst genommen haben. Wir hatten da ein falsches Bild.

Woran lag das?

Für Sozialdemokraten ist es konstitutiv, dass wir niemals unsere Verantwortung aus der Nazi-Geschichte vergessen. Und natürlich haben auch die Sowjetunion und ihre Völker, auch das russische Volk, schwer unter den Nazis gelitten und für die Befreiung vom Faschismus hohe Verluste auf sich genommen. Das hat immer dazu geführt, dass wir mit Russland eine besondere Beziehung haben wollten, nach dem Motto: Die Russen sollen nie mehr vor den Deutschen und der NATO Angst haben. Wir haben aber in diesem gutgemeinten Blick einfach nicht erkannt, dass auf der russischen Seite der Wille zu einer neuen gleichberechtigten Friedensordnung in Europa zu kommen, mit jedem Jahr, das Putin regiert hat, kleiner wurde. Das haben wir ausgeblendet, das haben wir nicht wahrhaben wollen, und wir haben ganz naiv gesagt: Wenn wir mit Russland gute Geschäfte machen und wir miteinander wirtschaftlich verflochten sind, dann können wir mehr Einfluss im Guten auf Russland nehmen. Und das war ein Fehler, denn wir haben Russland damit stark gemacht, und wir haben durch die große Abhängigkeit vom russischen Gas Russland auch ein ökonomisches Kampfmittel, wenn man so will, in die Hand gegeben.

Sie behaupten, die SPD hätte Lehren aus diesen Fehlern gezogen. Aber hat man sich innerhalb der Partei wirklich mit den Kräften auseinandergesetzt, die in der Vergangenheit eine fragwürdige Rolle gespielt haben? Man denkt hier zum Beispiel an die umstrittene Klimastiftung in Mecklenburg-Vorpommern. Und Gerhard Schröder ist immer noch in der SPD.

Die SPD ist eine Partei mit fast 400.000 Mitgliedern, und ich glaube, jeder hat jetzt Verständnis dafür, dass ich nicht für jedes dieser 400.000 Mitglieder meine Hand ins Feuer legen würde. Aber es gibt einen Generationswechsel. Die SPD-Fraktion im Bundestag besteht aus 206 Mitgliedern. 50 davon, also ein Viertel, sind jünger als 35 Jahre. Diese jungen Abgeordneten, die in vielen wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen sehr weit links stehen, haben sich fast alle für mehr Waffen und schwere Waffen für die Ukraine ausgesprochen. Das heißt, die Generation von Gerhard Schröder bestimmt nicht mehr die Politik in der SPD, sondern es sind jetzt jüngere wie Lars Klingbeil. Diese junge Generation der SPD hat die richtigen Lehren aus den Fehlern gezogen und blickt auch anders auf Russland, als das vielleicht die heute 70- bis 80-Jährigen in der SPD tun.

Die Jungen, von denen Sie sprechen, sind nur ein Viertel der Fraktion. Und der Rest?

Es gibt für diesen neuen Kurs eine überwältigende Mehrheit in der Bundestagsfraktion. Es gibt eine überwältigende Mehrheit im SPD-Parteivorstand. Noch mal, wir können nicht für jedes Mitglied reden, aber die SPD wird nicht mehr zu ihrer alten Politik zurückkehren. Das kann ich an dieser Stelle garantieren. Ich will aber auch sagen, dass das Lernen aus den Fehlern bei der SPD nicht bedeutet, dass wir den Konservativen, die vor 50 Jahren in Deutschland die Ostpolitik von Willy Brandt bekämpft haben, jetzt im Nachhinein Recht geben, dass diese Politik Schuld an dem Desaster Schuld war.

Ohne Willy Brandt und Helmut Schmidt hätte es keine KSZE (Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) gegeben. Die Fehler haben nicht Willy Brandt und Helmut Schmidt gemacht, die Fehler sind unter Schröder und Merkel passiert. Und noch mal, ein solches Papier, wie es die SPD vorgelegt hat, öffentliche Äußerungen des Vorsitzenden, dass man Fehler gemacht hat und sich ändern will, haben wir bisher von keiner anderen Partei in Deutschland gehört. Frau Merkel sagt, dass sie in den 16 Jahren ihrer Kanzlerschaft keine Fehler gegenüber Russland gemacht hat. Wo ist die Aufarbeitung der Fehler bei den Konservativen? Die gibt es bisher nicht.

Wie soll dann die neue Ostpolitik aussehen, die die SPD anstrebt?

Wir sollten unsere zukünftige Außen- und Sicherheitspolitik viel stärker mit den Nachbarn, insbesondere den Nachbarn in Mittelosteuropa, zusammen entwickeln, zusammen denken. Wir sagen, es gibt keine deutsche Ostpolitik, sondern es muss eine EU-Ostpolitik geben, und eine EU-Ostpolitik muss sehr, sehr stark von den Staaten in Mittel- und Osteuropa geprägt werden, denn sie haben unter dem russischen Imperialismus über Jahrhunderte gelitten, nicht nur heute die Ukraine. Wir müssen die Sicherheitsinteressen der Menschen in Mittelosteuropa viel ernster nehmen, als wir es früher getan haben. Das muss der Maßstab unserer neuen Außen- und Sicherheitspolitik werden.

Die deutsche Haltung gegenüber Russland in den vergangenen Jahren sowie die zögerliche Reaktion auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine haben dem Vertrauen gegenüber Deutschland in Mittelosteuropa nicht gerade gutgetan. Glauben Sie, dass es gut ankommen wird, wenn jetzt ausgerechnet Berlin die neue EU-Ostpolitik verkündet?

Ich glaube, es hängt davon ab, wie Deutschland es macht. Viele haben es nicht gut gefunden, dass in dem Papier steht: Deutschland muss eine führende Rolle einnehmen. Wenn führende Rolle heißt, Deutschland bespricht etwas mit Frankreich und dann müssen das alle in der EU machen, lehne ich das ab. Wenn eine führende Rolle heißt, dass Deutschland immer ein Motor ist, immer gemeinsam mit Staaten in Mittelosteuropa, insbesondere aber immer mit Polen, gemeinsam neue politische Initiativen startet, sein ökonomisches Gewicht in die Waagschale wirft, um eine gute neue Friedensordnung, einen Wiederaufbau in Mittelosteuropa auf den Weg zu bringen, dann finde ich, soll Deutschland eine führende Rolle spielen. Ich meine damit wirklich, sich an vorderster Stelle mit zu engagieren und eben nicht zu dominieren. Das ist der Unterschied.

Wir reden über die Ostpolitik, aber es gibt keine Ostpolitik an Russland vorbei. Wie soll man mit diesem Land umgehen?

Natürlich muss es unser Ziel sein und unsere Hoffnung, dass es irgendwann auch in Russland zu mehr Demokratie kommt, dass dort politische Kräfte eine Chance bekommen, die nicht imperialistisch sind. Doch solange sich die russische Politik nicht ändert, muss gelten: Europa muss sich einig sein in der Zurückweisung der russischen Aggression und des russischen Imperialismus. Das muss das Ziel sein. Eine Friedensordnung, die auf Demokratie, Menschenrechten und Freiheit basiert, ist im Moment nur gegen Russland möglich. Aber wir wollen daran arbeiten, dass wir irgendwann an einen Punkt kommen, wo eine solche Friedensordnung auch mit einem neuen Russland möglich wird. Also: Selbstverständlich gibt es weiterhin Platz für Russland, um miteinander zu reden und an einer echten Friedensordnung zu arbeiten. Wir erinnern uns – nach dem unglaublichen Menschheitsverbrechen der Deutschen im Zweiten Weltkrieg hat man Deutschland in den Vorläufer der EU, die EWG, aufgenommen und hat man Westdeutschland in die NATO aufgenommen, weil man gesagt hat, wenn sich Deutschland zum Guten ändert, geben wir ihm eine Chance.

Wie stark sind die Kräfte in Deutschland, die sich eine Rückkehr zum business as usual mit Russland wünschen?

Sie sind schwach, sie sind zahlenmäßig schwach, sie sind auch politisch schwach. Sie sind aber auch moralisch schwach, weil die deutsche Bevölkerung jeden Tag im Fernsehen, im Internet sehen kann, welche grausamen Verbrechen Putins Armee in der Ukraine verübt, an unschuldigen Frauen und Kindern, nicht nur in Butscha. Das heißt, es gibt selbst für die, die es vielleicht noch wollen, kein Zurück zu den alten Zeiten.

Das Interview führte Wojciech Szymanski.

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