Nach Polizistenmorden: Taumelt Haiti vollends in die Anarchie?
In Haiti entgleitet der Regierung zunehmend die Macht. Nach mehreren Polizistenmorden haben Beamte randaliert und Premier Ariel Henry attackiert. Die Vereinten Nationen erwägen eine Intervention in dem Krisenstaat.
Haiti steckt seit Jahren in einer politischen und humanitären Dauerkrise. Nun haben Polizisten in Zivil den Wohnsitz von Interims-Premierminister Ariel Henry attackiert, während er sich auf dem Rückweg vom Gipfel Lateinamerikanischer Staaten (CELAC) befand. Später stürmten Demonstranten, die sich ebenfalls mehrheitlich als Polizisten ausgaben, den Flughafen der Hauptstadt Port-au-Prince, um den Premier dort zu empfangen.
Die Randale gilt als Reaktion auf eine Häufung von Polizistenmorden: Allein in den vergangenen zwei Wochen ermordeten mutmaßliche Gangmitglieder laut der haitianischen Polizeigewerkschaft 15 Polizisten. Die aufgebrachten Beamten werfen dem Regierungschef vor, ihnen nicht beizustehen; einige mutmaßen sogar, dass er mit den Banden gemeinsame Sache macht. Seit Henry die Regierungsgeschäfte übernommen hat, wurden nach Angaben der haitianischen Menschenrechtsorganisation RNDDH schon 78 Sicherheitsbeamte getötet.
Haiti steckt seit Jahren in einer politischen und humanitären Dauerkrise. Nun haben Polizisten in Zivil den Wohnsitz von Interims-Premierminister Ariel Henry attackiert, während er sich auf dem Rückweg vom Gipfel Lateinamerikanischer Staaten (CELAC) befand. Später stürmten Demonstranten, die sich ebenfalls mehrheitlich als Polizisten ausgaben, den Flughafen der Hauptstadt Port-au-Prince, um den Premier dort zu empfangen.
Ariel Henry war Mitte 2021 vom damaligen Präsidenten Jovenel Moise zum neuen Premierminister ernannt worden. Doch nur zwei Tage später, vor Henrys Vereidigung, wurde Moise ermordet. Ein Parlament, das Henry verfassungsgemäß im Amt bestätigen könnte, gibt es nicht, weil die Haitianer seit 2015 keines mehr gewählt haben.
Desolate politische Lage
Die für November 2021 angesetzten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen fanden nicht statt, weil Henry das Wahlkomitee wegen Befangenheitsvorwürfen auflöste. Seither blieb es bei Wahlankündigungen. Deshalb gilt Henry vielen Haitianern als illegitimer Regent. Nicht wenige wittern ausländische Machenschaften hinter seiner Machtübernahme, wie auch hinter dem Mord an Präsident Moise.
Bereits vor dem Präsidentenmord galt die politische Lage in Haiti als desolat. Schon vor Jahren hat die Regierung faktisch die Kontrolle über Teile des Landes an Kriminelle verloren. In der Hauptstadt Port-au-Prince haben ihre Gangs in mehr als der Hälfte der Stadtteile das Sagen. Angesichts der katastrophalen Sicherheitslage halten auch Beobachter demokratische Wahlen derzeit für kaum durchführbar.
Im Oktober 2022 bat Premierminister Henry die Vereinten Nationen (UN) und befreundete Länder darum, Truppen zum Kampf gegen die Gangs zu entsenden, um der Lage Herr zu werden. Erst Anfang dieser Woche betonte UN-Generalsekretär Antonio Guterres die Dringlichkeit, bewaffnete Kräfte in den Karibikstaat zu schicken, um die Bevölkerung zu schützen und Wege für humanitäre Hilfe zu sichern. Doch niemand, so scheint es, will sich dem annehmen: “Die Risiken sind hoch, die Erfolgsaussichten zweifelhaft”, sagt Judith Vorrath von der Stiftung Wissenschaft und Politik.
Selbst wenn es gelänge, die Gangs zurückzudrängen und kritische Infrastrukturen wie den Hafen und wichtige Zugangsstraßen zu sichern, wäre das keine Dauerlösung: “Niemand weiß, wie man das Land wieder verlassen könnte, wenn Fortschritte beim politischen Prozess ausbleiben.”
Zudem hätten ausländische Truppen wohl mit erheblichem Widerstand zu kämpfen – nicht nur seitens der Gangs, stellt die International Crisis Group fest. Die politische Opposition und große Teile der haitianischen Bevölkerung lehnen eine Intervention ab. Zu schlecht sind die Erfahrungen mit UN-Einsätzen. Blauhelme der MINUSTAH (2004 bis 2017) gingen brutal gegen Oppositionelle vor, vergewaltigten Einheimische und beteiligten sich an der sexuellen Ausbeutung Minderjähriger. Nach dem verheerenden Erdbeben 2010 schleppten sie die Cholera ein; mehr als eine halbe Million Menschen erkrankte, bis zu 10.000 erlagen der Epidemie.
Auch die politische UN-Mission BINUH, die seit 2019 im Land ist, leidet unter diesem Misstrauen. “Viele Menschen – auch in anderen Ländern, in denen die UN agieren – unterscheiden nicht unbedingt zwischen Friedensmissionen, anderer UN-Präsenz und weiteren Missionen, die vom UN-Sicherheitsrat gedeckt sind”, erklärt Politikwissenschaftlerin Vorrath.
Hinzu kommt die Erzählung vom rassistischen Imperialismus der USA, die in Lateinamerika weit verbreitet ist und auch Haitianer gegen ausländische Interventionen einnimmt, die irgendeinen Bezug zu der Weltmacht im Norden haben. Nicht wenige in Haiti gehen davon aus, dass der Mord an Präsident Moise von ausländischen Geheimdiensten gesteuert oder gar verübt wurde.
“Diese massiven Vorbehalte sind sicher auch ein Grund für die Zurückhaltung in Ländern, die – wie etwa Kanada – für einen Einsatz in Haiti in Frage kämen”, meint Vorrath. Die Regierung in Ottawa hat dem Land allein im vergangenen Jahr Hilfen im Wert von 98 Millionen US-Dollar (ca. 90 Millionen Euro) zukommen lassen – unter anderem, um Sicherheitskräfte und Justiz zu stärken. Mitte Januar hat sie der haitianischen Polizei gepanzerte Fahrzeuge für den Kampf gegen die Gangs geliefert.
Die haitianischen Gangs verüben vor allem typische Aktivitäten von Bandenkriminalität: Raub, Schutzgelderpressung, Drogenhandel etc. Dabei kämpfen sie um die Vorherrschaft in recht begrenzten Territorien. Einem UN-Bericht zufolge tyrannisieren sie die Bevölkerung dort auch durch sexualisierte Gewalt, um Schrecken zu verbreiten.
Viele der unzähligen Banden sind allerdings mittlerweile in zwei großen Koalitionen organisiert. Bei Zusammenstößen im vergangenen Sommer wurden rund 500 Menschen getötet, die meisten von ihnen Zivilisten. Der Anführer der Bandenallianz “G9”, Jimmy “Barbecue” Chérizier, steht auf den Sanktionslisten der UN und diverser Mitgliedstaaten.
Nun scheint es, dass mit ihrer Ausbreitung und stärkeren Organisation nicht nur die Gewalt zunimmt, sondern auch ihr Einfluss wächst: “Die Gangs wurden schon immer politisch instrumentalisiert – etwa, um Wahlen zu manipulieren oder um politische Gegner auszuschalten”, erklärt Forscherin Vorrath. “Die Frage ist nun, ob sie sich mit zunehmender Macht von ihren Auftraggebern und Protegés in der Politik loslösen, auch wenn sie wahrscheinlich noch keine eigene politische Agenda im engeren Sinne verfolgen.”
Dass die Gangs immer weiter Zulauf erhalten, ist auch der Armut im Land geschuldet. Haiti ist das ärmste Land der westlichen Hemisphäre. Die Hilfsorganisation International Rescue Committee zählt die humanitäre Krise dort zu den zehn schlimmsten der Welt.
Haiti steckt seit Jahren in einer politischen und humanitären Dauerkrise. Nun haben Polizisten in Zivil den Wohnsitz von Interims-Premierminister Ariel Henry attackiert, während er sich auf dem Rückweg vom Gipfel Lateinamerikanischer Staaten (CELAC) befand. Später stürmten Demonstranten, die sich ebenfalls mehrheitlich als Polizisten ausgaben, den Flughafen der Hauptstadt Port-au-Prince, um den Premier dort zu empfangen.
Die Randale gilt als Reaktion auf eine Häufung von Polizistenmorden: Allein in den vergangenen zwei Wochen ermordeten mutmaßliche Gangmitglieder laut der haitianischen Polizeigewerkschaft 15 Polizisten. Die aufgebrachten Beamten werfen dem Regierungschef vor, ihnen nicht beizustehen; einige mutmaßen sogar, dass er mit den Banden gemeinsame Sache macht. Seit Henry die Regierungsgeschäfte übernommen hat, wurden nach Angaben der haitianischen Menschenrechtsorganisation RNDDH schon 78 Sicherheitsbeamte getötet.
Desolate politische Lage
Ariel Henry war Mitte 2021 vom damaligen Präsidenten Jovenel Moise zum neuen Premierminister ernannt worden. Doch nur zwei Tage später, vor Henrys Vereidigung, wurde Moise ermordet. Ein Parlament, das Henry verfassungsgemäß im Amt bestätigen könnte, gibt es nicht, weil die Haitianer seit 2015 keines mehr gewählt haben.
Die für November 2021 angesetzten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen fanden nicht statt, weil Henry das Wahlkomitee wegen Befangenheitsvorwürfen auflöste. Seither blieb es bei Wahlankündigungen. Deshalb gilt Henry vielen Haitianern als illegitimer Regent. Nicht wenige wittern ausländische Machenschaften hinter seiner Machtübernahme, wie auch hinter dem Mord an Präsident Moise.
Bereits vor dem Präsidentenmord galt die politische Lage in Haiti als desolat. Schon vor Jahren hat die Regierung faktisch die Kontrolle über Teile des Landes an Kriminelle verloren. In der Hauptstadt Port-au-Prince haben ihre Gangs in mehr als der Hälfte der Stadtteile das Sagen. Angesichts der katastrophalen Sicherheitslage halten auch Beobachter demokratische Wahlen derzeit für kaum durchführbar.
Im Oktober 2022 bat Premierminister Henry die Vereinten Nationen (UN) und befreundete Länder darum, Truppen zum Kampf gegen die Gangs zu entsenden, um der Lage Herr zu werden. Erst Anfang dieser Woche betonte UN-Generalsekretär Antonio Guterres die Dringlichkeit, bewaffnete Kräfte in den Karibikstaat zu schicken, um die Bevölkerung zu schützen und Wege für humanitäre Hilfe zu sichern. Doch niemand, so scheint es, will sich dem annehmen: “Die Risiken sind hoch, die Erfolgsaussichten zweifelhaft”, sagt Judith Vorrath von der Stiftung Wissenschaft und Politik.
Werden ausländische Truppen in Haiti intervenieren?
Selbst wenn es gelänge, die Gangs zurückzudrängen und kritische Infrastrukturen wie den Hafen und wichtige Zugangsstraßen zu sichern, wäre das keine Dauerlösung: “Niemand weiß, wie man das Land wieder verlassen könnte, wenn Fortschritte beim politischen Prozess ausbleiben.”
Innerer Widerstand gegen äußere Eingriffe
Zudem hätten ausländische Truppen wohl mit erheblichem Widerstand zu kämpfen – nicht nur seitens der Gangs, stellt die International Crisis Group fest. Die politische Opposition und große Teile der haitianischen Bevölkerung lehnen eine Intervention ab. Zu schlecht sind die Erfahrungen mit UN-Einsätzen. Blauhelme der MINUSTAH (2004 bis 2017) gingen brutal gegen Oppositionelle vor, vergewaltigten Einheimische und beteiligten sich an der sexuellen Ausbeutung Minderjähriger. Nach dem verheerenden Erdbeben 2010 schleppten sie die Cholera ein; mehr als eine halbe Million Menschen erkrankte, bis zu 10.000 erlagen der Epidemie.
Auch die politische UN-Mission BINUH, die seit 2019 im Land ist, leidet unter diesem Misstrauen. “Viele Menschen – auch in anderen Ländern, in denen die UN agieren – unterscheiden nicht unbedingt zwischen Friedensmissionen, anderer UN-Präsenz und weiteren Missionen, die vom UN-Sicherheitsrat gedeckt sind”, erklärt Politikwissenschaftlerin Vorrath.
Hinzu kommt die Erzählung vom rassistischen Imperialismus der USA, die in Lateinamerika weit verbreitet ist und auch Haitianer gegen ausländische Interventionen einnimmt, die irgendeinen Bezug zu der Weltmacht im Norden haben. Nicht wenige in Haiti gehen davon aus, dass der Mord an Präsident Moise von ausländischen Geheimdiensten gesteuert oder gar verübt wurde.
Ist Haiti Spielball ausländischer Mächte?
“Diese massiven Vorbehalte sind sicher auch ein Grund für die Zurückhaltung in Ländern, die – wie etwa Kanada – für einen Einsatz in Haiti in Frage kämen”, meint Vorrath. Die Regierung in Ottawa hat dem Land allein im vergangenen Jahr Hilfen im Wert von 98 Millionen US-Dollar (ca. 90 Millionen Euro) zukommen lassen – unter anderem, um Sicherheitskräfte und Justiz zu stärken. Mitte Januar hat sie der haitianischen Polizei gepanzerte Fahrzeuge für den Kampf gegen die Gangs geliefert.
Die haitianischen Gangs verüben vor allem typische Aktivitäten von Bandenkriminalität: Raub, Schutzgelderpressung, Drogenhandel etc. Dabei kämpfen sie um die Vorherrschaft in recht begrenzten Territorien. Einem UN-Bericht zufolge tyrannisieren sie die Bevölkerung dort auch durch sexualisierte Gewalt, um Schrecken zu verbreiten.
Kontrollieren kriminelle Banden die haitianische Politik?
Viele der unzähligen Banden sind allerdings mittlerweile in zwei großen Koalitionen organisiert. Bei Zusammenstößen im vergangenen Sommer wurden rund 500 Menschen getötet, die meisten von ihnen Zivilisten. Der Anführer der Bandenallianz “G9”, Jimmy “Barbecue” Chérizier, steht auf den Sanktionslisten der UN und diverser Mitgliedstaaten.
Nun scheint es, dass mit ihrer Ausbreitung und stärkeren Organisation nicht nur die Gewalt zunimmt, sondern auch ihr Einfluss wächst: “Die Gangs wurden schon immer politisch instrumentalisiert – etwa, um Wahlen zu manipulieren oder um politische Gegner auszuschalten”, erklärt Forscherin Vorrath. “Die Frage ist nun, ob sie sich mit zunehmender Macht von ihren Auftraggebern und Protegés in der Politik loslösen, auch wenn sie wahrscheinlich noch keine eigene politische Agenda im engeren Sinne verfolgen.”
Dass die Gangs immer weiter Zulauf erhalten, ist auch der Armut im Land geschuldet. Haiti ist das ärmste Land der westlichen Hemisphäre. Die Hilfsorganisation International Rescue Committee zählt die humanitäre Krise dort zu den zehn schlimmsten der Welt.