Warum Stalin in Russland wieder salonfähig ist
Vor 70 Jahren starb der sowjetische Diktator Joseph Stalin. Heute werden im Land wieder Stalin-Denkmäler eingeweiht. Kehrt der Kult um den Despoten etwa zurück?
Der 5. März 1953, ein Donnerstag, war sogar für Russland ein ungewöhnlich bitterkalter Wintertag. Nach Sonnenuntergang sanken die Thermometer auf minus 18 Grad. Auch in Kunzewo, einem Vorort von Moskau, herrschte eisige Kälte. Hier, in der sogenannten “nahen Datscha”, verbrachte Joseph Stalin, Alleinherrscher und Diktator des Riesenlandes namens Sowjetunion, seine letzten Tage und Stunden.
Gegen 21.50 Uhr stellten die Ärzte den Tod des 74-Jährigen fest. Eine Sonderkommision wurde einberufen, Volkstrauer verhängt, vor dem Säulensaal, der ehemaligen Adelsversammlung, bildeten sich trotz Kälte lange Schlangen. Dort, im Zentrum Moskaus, wurde der Leichnam des “Vaters der Völker” aufgebahrt.
Der 5. März 1953, ein Donnerstag, war sogar für Russland ein ungewöhnlich bitterkalter Wintertag. Nach Sonnenuntergang sanken die Thermometer auf minus 18 Grad. Auch in Kunzewo, einem Vorort von Moskau, herrschte eisige Kälte. Hier, in der sogenannten “nahen Datscha”, verbrachte Joseph Stalin, Alleinherrscher und Diktator des Riesenlandes namens Sowjetunion, seine letzten Tage und Stunden.
Drei Jahre benötigte die Sowjetführung, um sich im Februar 1956 von “Stalins Personenkult” zu distanzieren, erst in den 1960er-Jahren wurde zum ersten Mal öffentlich ausgesprochen, wer er wirklich war: ein Massenmörder.
Vom Stalin-Tod bis zum Neostalinismus
Der als Iosif Dschugaschwili in Georgien geborene Berufsrevolutionär, dessen Pseudonym “der Stählerne” bedeutet, regierte faktisch ab 1923 die Sowjetunion. In den drei Jahrzehnte des “Stalinismus” wurden nach Schätzungen von Historikern bis zu 40 Millionen Menschen Opfer des Terrors – hingerichtet, verhungert, umgekommen oder verkrüppelt. Zugrundegegangen in den GULAGs. Es kam zu Massendeportationen, die Speerspitze der russischen Kultur – führende Schriftsteller, Dichter, Schauspieler, Wissenschaftler, Regisseure – wurden als “Volksfeinde” denunziert, gefoltert und umgebracht.
“Es klingt vielleicht seltsam, aber Stalins Tod ist meine erste bewusste Kindheitserinnerung”, sagt Irina Scherbakowa der DW. Die Front-Frau und Mitgründerin der Menschenrechtsorganisation “Memorial” nahm Ende 2022 den Friedensnobelpreis entgegen.
“Ich war damals zwar ein Kleinkind, 1953, aber ich kann mich gut an Stalins Tod erinnern”, erzählt die 72-jährige Historikerin. “Ich habe es auf eine kindliche Art wahrgenommen, vor allem die Atmosphäre: wie aus der eisigen Kälte und Angst – die letzten Monate der Stalin-Zeit waren sehr bleiern, sehr bedrückend – eine Frühlingserwartung wurde.”
Und der Frühling begann: Das Land befreite sich vom Despoten. Der einbalsamierte Leichnam des Tyrannen, der zunächst der Lenin-Mumie im Mausoleum am Roten Platz Gesellschaft leistete, wurde 1961 in einer nächtlichen Aktion an der Kremlmauer beigesetzt.
Unzählige Stalin-Denkmäler und Büsten in der Sowjetunion und anderen Ländern des Ostblocks, früher fester Bestandteil des Stadtbilds, wurden in großem Stil vernichtet – ein- oder umgeschmolzen, vergraben, in Flüsse geworfen. Die Tauwetterperiode der 1960er-Jahre veränderte das Land nachhaltig und bereitete den Boden für die Perestroika zwanzig Jahre später. 1989 wurde “Memorial” gegründet – ein Netzwerk von Menschenrechtsorganisationen, die sich vor allem um die Aufarbeitung des Stalin-Terrors kümmerten.
Und jetzt? Steht eine Wiedergeburt des Stalin-Kults bevor? Lange Zeit schien dies undenkbar. “Der Gegentrend setzte ungefähr 2014 ein, mit der Annexion der Krim“, stellt die russische Kulturjournalistin und Publizistin Irina Rastorgueva im DW-Gespräch fest, die, wie Scherbakowa, zurzeit in Berlin lebt.
“Die Kollegen des russischen Wikipedia führen ausführlich Buch über alle neostalinistischen Denkmäler“, erzählt Rastorgueva der DW. “Ja, es gab bereits in den 1990er- und 2000er-Jahren die ersten Versuche, Stalin-Denkmäler oder Büsten vor allem in der Provinz oder etwa in Stalins Geburtsort Gori in Georgien aufzustellen. Aber es ist nicht mit allem, was jetzt passiert, zu vergleichen.”
Denn man müsse, so Rastorgueva, zwischen Trotzreaktionen einzelner Menschen, die Stalin zu einer Gegenfigur des postsowjetischen Chaos stilisierten und sich eine Stalin-Büste im Schrebergarten oder gar ein Stalin-Denkmal vor einer Parteizentrale der kommunistischen Partei aufstellten, unterscheiden von einer von oben verordneten Denkmaleinweihung im Zentrum einer Großstadt, wie es am 1. Februar 2023 in Wolgograd geschah.
Zum 70. Jahrestag der Beendigung der Schlacht von Stalingrad wurde in der Millionen-Metropole Wolgograd eine Stalin-Büste eingeweiht. Der Bürgermeister sprach dabei von “gewissen Ländern, die heute das Andenken an den großen Sieg der sowjetischen Armee tilgen wollen.” Das aber würde man nicht zulassen.
Als ob das nicht genug wäre: aus Anlass des Schlacht-Jubiläums wurde Wolgograd sogar einen Tag lang in Stalingrad zurück getauft. “Die hätten die Stadt gleich in Putingrad umbenennen können”, sagt Rastorgueva. Für sie ist die Einweihung des Stalin-Denkmals “ein Beleg für das neue Paradigma, für die von oben verordnete Deutungsart der Geschichte.”
Folgende Logik stecke dahinter: “Der Sieg im Zweiten Weltkrieg ist der letzte gemeinsame Nenner, der letzte Trumpf der russischen Propaganda, denn in der Ukraine sieht alles gerade ziemlich traurig aus. Und wer hat den Krieg gewonnen? Stalin! Und wer ist der Stalin von heute? Na, eben Wladimir Wladimirowitsch. Putin ist unser Stalin, mit ihm werden wir siegen!”
“Dass plötzlich nicht die Alliierten, nicht die Rote Armee, nicht einmal das ‘heldenhafte sowjetische Volk’ (wie Nikita Chruschtschow es in seiner Antistalinismus-Rede 1956 formulierte, Anm. d. Red.) den Zweiten Weltkrieg gewonnen hätten, sondern Stalin persönlich, ist allerdings auch eine Erkenntnis der jüngsten Putin-Zeit”, stellt Irina Scherbakowa fest.
Ein Ende des neostalinistischen Kults? Den sieht Irina Scherbakowa in absehbarer Zukunft nicht, jedenfalls nicht mit Wladimir Putin an der Spitze. Das Land habe den Prozess der Entstalinisierung auch heute, 70 Jahre nach dem Tod des Diktators, nicht abgeschlossen: “Unsere Organisation, ‘Memorial’, hat zwar eine große Arbeit geleistet. Aber wir waren bis zu unserer Schließung nur eine NGO. Es ist die Aufgabe des Staates, sich zu seinen Verbrechen zu bekennen, und eine Aufgabe der Bürger anzuerkennen, dass sie in einem verbrecherischen Staat gelebt haben. Beides ist bis jetzt ausgeblieben.”
Irgendwann, da ist sich die Historikerin Scherbakowa sicher, wird es auch in russischen Schulbüchern die Kapitel “Stalinismus” und auch “Putinismus” geben. “Davor müssen wir aber die Verantwortung dafür übernehmen, was gerade in der Ukraine passiert und den Preis dafür bezahlen. Und dieser Preis wird sehr hoch sein.”
Der 5. März 1953, ein Donnerstag, war sogar für Russland ein ungewöhnlich bitterkalter Wintertag. Nach Sonnenuntergang sanken die Thermometer auf minus 18 Grad. Auch in Kunzewo, einem Vorort von Moskau, herrschte eisige Kälte. Hier, in der sogenannten “nahen Datscha”, verbrachte Joseph Stalin, Alleinherrscher und Diktator des Riesenlandes namens Sowjetunion, seine letzten Tage und Stunden.
Gegen 21.50 Uhr stellten die Ärzte den Tod des 74-Jährigen fest. Eine Sonderkommision wurde einberufen, Volkstrauer verhängt, vor dem Säulensaal, der ehemaligen Adelsversammlung, bildeten sich trotz Kälte lange Schlangen. Dort, im Zentrum Moskaus, wurde der Leichnam des “Vaters der Völker” aufgebahrt.
Vom Stalin-Tod bis zum Neostalinismus
Drei Jahre benötigte die Sowjetführung, um sich im Februar 1956 von “Stalins Personenkult” zu distanzieren, erst in den 1960er-Jahren wurde zum ersten Mal öffentlich ausgesprochen, wer er wirklich war: ein Massenmörder.
Der als Iosif Dschugaschwili in Georgien geborene Berufsrevolutionär, dessen Pseudonym “der Stählerne” bedeutet, regierte faktisch ab 1923 die Sowjetunion. In den drei Jahrzehnte des “Stalinismus” wurden nach Schätzungen von Historikern bis zu 40 Millionen Menschen Opfer des Terrors – hingerichtet, verhungert, umgekommen oder verkrüppelt. Zugrundegegangen in den GULAGs. Es kam zu Massendeportationen, die Speerspitze der russischen Kultur – führende Schriftsteller, Dichter, Schauspieler, Wissenschaftler, Regisseure – wurden als “Volksfeinde” denunziert, gefoltert und umgebracht.
“Es klingt vielleicht seltsam, aber Stalins Tod ist meine erste bewusste Kindheitserinnerung”, sagt Irina Scherbakowa der DW. Die Front-Frau und Mitgründerin der Menschenrechtsorganisation “Memorial” nahm Ende 2022 den Friedensnobelpreis entgegen.
“Ich war damals zwar ein Kleinkind, 1953, aber ich kann mich gut an Stalins Tod erinnern”, erzählt die 72-jährige Historikerin. “Ich habe es auf eine kindliche Art wahrgenommen, vor allem die Atmosphäre: wie aus der eisigen Kälte und Angst – die letzten Monate der Stalin-Zeit waren sehr bleiern, sehr bedrückend – eine Frühlingserwartung wurde.”
Gruß aus Putin-Russland: Stalin schlägt zurück
Und der Frühling begann: Das Land befreite sich vom Despoten. Der einbalsamierte Leichnam des Tyrannen, der zunächst der Lenin-Mumie im Mausoleum am Roten Platz Gesellschaft leistete, wurde 1961 in einer nächtlichen Aktion an der Kremlmauer beigesetzt.
“Mit Stalin/Putin werden wir siegen!”
Unzählige Stalin-Denkmäler und Büsten in der Sowjetunion und anderen Ländern des Ostblocks, früher fester Bestandteil des Stadtbilds, wurden in großem Stil vernichtet – ein- oder umgeschmolzen, vergraben, in Flüsse geworfen. Die Tauwetterperiode der 1960er-Jahre veränderte das Land nachhaltig und bereitete den Boden für die Perestroika zwanzig Jahre später. 1989 wurde “Memorial” gegründet – ein Netzwerk von Menschenrechtsorganisationen, die sich vor allem um die Aufarbeitung des Stalin-Terrors kümmerten.
Und jetzt? Steht eine Wiedergeburt des Stalin-Kults bevor? Lange Zeit schien dies undenkbar. “Der Gegentrend setzte ungefähr 2014 ein, mit der Annexion der Krim“, stellt die russische Kulturjournalistin und Publizistin Irina Rastorgueva im DW-Gespräch fest, die, wie Scherbakowa, zurzeit in Berlin lebt.
“Die Kollegen des russischen Wikipedia führen ausführlich Buch über alle neostalinistischen Denkmäler“, erzählt Rastorgueva der DW. “Ja, es gab bereits in den 1990er- und 2000er-Jahren die ersten Versuche, Stalin-Denkmäler oder Büsten vor allem in der Provinz oder etwa in Stalins Geburtsort Gori in Georgien aufzustellen. Aber es ist nicht mit allem, was jetzt passiert, zu vergleichen.”
Kein Ende des Neostalinismus in Sicht
Denn man müsse, so Rastorgueva, zwischen Trotzreaktionen einzelner Menschen, die Stalin zu einer Gegenfigur des postsowjetischen Chaos stilisierten und sich eine Stalin-Büste im Schrebergarten oder gar ein Stalin-Denkmal vor einer Parteizentrale der kommunistischen Partei aufstellten, unterscheiden von einer von oben verordneten Denkmaleinweihung im Zentrum einer Großstadt, wie es am 1. Februar 2023 in Wolgograd geschah.
Zum 70. Jahrestag der Beendigung der Schlacht von Stalingrad wurde in der Millionen-Metropole Wolgograd eine Stalin-Büste eingeweiht. Der Bürgermeister sprach dabei von “gewissen Ländern, die heute das Andenken an den großen Sieg der sowjetischen Armee tilgen wollen.” Das aber würde man nicht zulassen.
Als ob das nicht genug wäre: aus Anlass des Schlacht-Jubiläums wurde Wolgograd sogar einen Tag lang in Stalingrad zurück getauft. “Die hätten die Stadt gleich in Putingrad umbenennen können”, sagt Rastorgueva. Für sie ist die Einweihung des Stalin-Denkmals “ein Beleg für das neue Paradigma, für die von oben verordnete Deutungsart der Geschichte.”
Folgende Logik stecke dahinter: “Der Sieg im Zweiten Weltkrieg ist der letzte gemeinsame Nenner, der letzte Trumpf der russischen Propaganda, denn in der Ukraine sieht alles gerade ziemlich traurig aus. Und wer hat den Krieg gewonnen? Stalin! Und wer ist der Stalin von heute? Na, eben Wladimir Wladimirowitsch. Putin ist unser Stalin, mit ihm werden wir siegen!”
“Dass plötzlich nicht die Alliierten, nicht die Rote Armee, nicht einmal das ‘heldenhafte sowjetische Volk’ (wie Nikita Chruschtschow es in seiner Antistalinismus-Rede 1956 formulierte, Anm. d. Red.) den Zweiten Weltkrieg gewonnen hätten, sondern Stalin persönlich, ist allerdings auch eine Erkenntnis der jüngsten Putin-Zeit”, stellt Irina Scherbakowa fest.
Ein Ende des neostalinistischen Kults? Den sieht Irina Scherbakowa in absehbarer Zukunft nicht, jedenfalls nicht mit Wladimir Putin an der Spitze. Das Land habe den Prozess der Entstalinisierung auch heute, 70 Jahre nach dem Tod des Diktators, nicht abgeschlossen: “Unsere Organisation, ‘Memorial’, hat zwar eine große Arbeit geleistet. Aber wir waren bis zu unserer Schließung nur eine NGO. Es ist die Aufgabe des Staates, sich zu seinen Verbrechen zu bekennen, und eine Aufgabe der Bürger anzuerkennen, dass sie in einem verbrecherischen Staat gelebt haben. Beides ist bis jetzt ausgeblieben.”
Irgendwann, da ist sich die Historikerin Scherbakowa sicher, wird es auch in russischen Schulbüchern die Kapitel “Stalinismus” und auch “Putinismus” geben. “Davor müssen wir aber die Verantwortung dafür übernehmen, was gerade in der Ukraine passiert und den Preis dafür bezahlen. Und dieser Preis wird sehr hoch sein.”