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Ein Jahr nach der Befreiung: Zähe Ermittlungen in Butscha

Vor einem Jahr wurde die Stadt Butscha bei Kiew von der russischen Besatzung befreit. Dabei wurden viele mutmaßliche Kriegsverbrechen entdeckt. Wie ist der Stand der Untersuchungen? Angehörige von Opfern berichten.

Walentyna Sen wurde von den russischen Besatzern im Hof ihres Hauses erschossen. Sechs Tage lang lag die Leiche der 69-jährigen Rentnerin dort, bis zur Befreiung des Kiewer Vororts Butscha durch die ukrainische Armee am 31. März 2022.

Tochter Tetjana war in den ersten Wochen nach dem russischen Einmarsch bei ihrer Mutter geblieben. Aber einen Tag vor ihrer Ermordung wurden Tetjana und ihr Kind in die nahe Hauptstadt gebracht. Walentyna wollte nicht mit.

Walentyna Sen wurde von den russischen Besatzern im Hof ihres Hauses erschossen. Sechs Tage lang lag die Leiche der 69-jährigen Rentnerin dort, bis zur Befreiung des Kiewer Vororts Butscha durch die ukrainische Armee am 31. März 2022.

Die Nachbarn hatten gesehen, was Walentyna Sen zugestoßen war. Sie sei Wasser holen gegangen, in die Sklosawodska-Straße, ausgerechnet dort, wo damals die russischen Soldaten standen. Diese seien noch am selben Tag in Walentynas Hof gekommen und hätten einfach geschossen.

“Meine Mutter ist verblutet”

“Sie töteten jeden Tag mindestens zwei Menschen in den Höfen”, berichtet Tetjana. “Meine Mutter telefonierte gerade, als sie die Russen sah und Schüsse hörte. Aus Angst rannte sie los und schaffte es noch ins Haus, aber eine Kugel traf sie durch die Tür und durchbohrte ihre Leber. Meine Mutter ist verblutet.” Dies alles habe sie von den Nachbarn erfahren.

Ein Jahr nach dem Mord an ihrer Mutter ist Tetjana noch nicht von den Ermittlern befragt worden. Die Familie weiß auch nicht, ob überhaupt ein Verfahren eingeleitet wurde. Nur einmal, im April 2022, wurde Tetjanas Sohn befragt. Er hatte seine Großmutter tot aufgefunden, nachdem die ukrainische Armee nach Butscha eingerückt war. Eigenhändig begrub er Walentyna später im Ort.

Ähnlich erging es im vergangenen Jahr Serhij aus Butscha. Sein Vater, Oleksandr Jaremytsch, wurde am 25. März, kurz vor der Befreiung der Region Kiew, von den Russen getötet. Er hatte an Bürger von Butscha unweit von russischen Kontrollposten Lebensmittel verteilt. Acht seiner Freunde waren Anfang des Monats in der Jablunska-Straße einfach erschossen worden. Oleksandr starb zwei Wochen später, nach einer Hausdurchsuchung.

Die russischen Militärs hatten bei seinem Vater ein Mobiltelefon gefunden, berichtet Serhij. Kurz zuvor habe Oleksandr damit noch telefoniert. Nach der Durchsuchung sei sein Vater von den Russen in den Wald gebracht und dort von ihnen erschossen worden.

Offiziell wurde ein Strafverfahren wegen Mordes eröffnet. Serhij versuchte ein Jahr lang die Behörden zu erreichen, um sich über den Stand der Ermittlungen zu informieren. Doch zunächst sei eine Exhumierung und Beweisaufnahme durchgeführt worden. Und nach einigen Monaten habe der Ermittler gewechselt, erzählt Serhij. Erst vor kurzem sei er endlich befragt worden.

“Es läuft langsam, aber es gibt doch Fortschritte. Sie berichten, was sie getan haben. Sie sagen, was der nächste Schritt ist. Das ist ein langwieriges Verfahren. Ich glaube nicht, dass es in einem Jahr abgeschlossen sein wird”, stellt Serhij fest.

Die Generalstaatsanwaltschaft der Ukraine zählt fast 11.000 Kriegsverbrechen, die von der russischen Armee allein in der Region Kiew begangen wurden. Davon wurden 700 in Butscha registriert. Es gibt bereits mehr als 7000 Strafverfahren, 118 Verdächtige und 50 Personen wurden in Abwesenheit vor Gericht gestellt, von denen vier verurteilt wurden.

Im vergangenen Jahr, so die regionale Staatsanwaltschaft von Kiew, untersuchten Ermittler des Sicherheitsdienstes der Ukraine (SBU) mit Unterstützung der Polizei das befreite Gebiet. Dort wurden Exhumierungen durchgeführt und Beweise für die laufenden Verfahren gesammelt. Freiwillige halfen den Ermittlern – und so kam eine große Menge an Daten über Kriegsverbrechen zusammen.

Die Ermittlungen seien auch deshalb so langwierig, weil die Täter so schwierig zu identifizieren seien, berichten die Staatsanwälte. Und Festnahmen seien eigentlich unmöglich. “Das Hauptziel in dieser Phase der Ermittlungen ist, Zeugenaussagen und eine vollständige Beweisgrundlage zusammenzutragen. Oft gelingt es durch die Vernehmung russischer Kriegsgefangener, die Identität des einen oder anderen Kriegsverbrechers festzustellen”, berichtet Oleh Tkalenko, stellvertretender Leiter der Staatsanwaltschaft in der Region Kiew. Kriegsgefangene würden die Namen von Tätern kennen, die oft damit prahlen, wie viele Zivilisten sie getötet, gefoltert oder missbraucht hätten.

Trotz langwieriger Untersuchungen und fragmentarischer Beweise wolle die Staatsanwaltschaft noch in diesem Jahr viele Verdächtige vor Gericht stellen und Urteile erwirken, fügt Tkalenko hinzu. “Danach wird die betreffende Person auf einer internationalen Fahndungsliste stehen. Die Ukraine hat eine Reihe von internationalen Rechtsabkommen über die Auslieferung solcher Straftäter unterzeichnet. Wir hoffen, dass einige von ihnen im Ausland festgenommen und hierher gebracht werden, um ihre Strafe noch während des Krieges zu verbüßen. Nach unserem Sieg werden wir alle anderen finden.”

Neben den Ermittlungen innerhalb der Ukraine haben inzwischen mehr als 20 Länder weltweit im Rahmen ihrer nationalen Gesetzgebung Verfahren wegen russischer Kriegsverbrechen eingeleitet. Kürzlich erließ der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag Haftbefehle gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin und die Kinderrechtsbeauftragte Maria Lwowa-Belowa, wegen des Verdachts der Verschleppung ukrainischer Kinder nach Russland.

Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk

Tetjana hält auf einem Friedbof in Butscha ein Foto ihrer Mutter Walentyna Sen
Bild von Serhij Jaremytsch in Butscha

Walentyna Sen wurde von den russischen Besatzern im Hof ihres Hauses erschossen. Sechs Tage lang lag die Leiche der 69-jährigen Rentnerin dort, bis zur Befreiung des Kiewer Vororts Butscha durch die ukrainische Armee am 31. März 2022.

Tochter Tetjana war in den ersten Wochen nach dem russischen Einmarsch bei ihrer Mutter geblieben. Aber einen Tag vor ihrer Ermordung wurden Tetjana und ihr Kind in die nahe Hauptstadt gebracht. Walentyna wollte nicht mit.

“Meine Mutter ist verblutet”

Die Nachbarn hatten gesehen, was Walentyna Sen zugestoßen war. Sie sei Wasser holen gegangen, in die Sklosawodska-Straße, ausgerechnet dort, wo damals die russischen Soldaten standen. Diese seien noch am selben Tag in Walentynas Hof gekommen und hätten einfach geschossen.

“Sie töteten jeden Tag mindestens zwei Menschen in den Höfen”, berichtet Tetjana. “Meine Mutter telefonierte gerade, als sie die Russen sah und Schüsse hörte. Aus Angst rannte sie los und schaffte es noch ins Haus, aber eine Kugel traf sie durch die Tür und durchbohrte ihre Leber. Meine Mutter ist verblutet.” Dies alles habe sie von den Nachbarn erfahren.

Ein Jahr nach dem Mord an ihrer Mutter ist Tetjana noch nicht von den Ermittlern befragt worden. Die Familie weiß auch nicht, ob überhaupt ein Verfahren eingeleitet wurde. Nur einmal, im April 2022, wurde Tetjanas Sohn befragt. Er hatte seine Großmutter tot aufgefunden, nachdem die ukrainische Armee nach Butscha eingerückt war. Eigenhändig begrub er Walentyna später im Ort.

Ähnlich erging es im vergangenen Jahr Serhij aus Butscha. Sein Vater, Oleksandr Jaremytsch, wurde am 25. März, kurz vor der Befreiung der Region Kiew, von den Russen getötet. Er hatte an Bürger von Butscha unweit von russischen Kontrollposten Lebensmittel verteilt. Acht seiner Freunde waren Anfang des Monats in der Jablunska-Straße einfach erschossen worden. Oleksandr starb zwei Wochen später, nach einer Hausdurchsuchung.

Erschießung im Wald

Die russischen Militärs hatten bei seinem Vater ein Mobiltelefon gefunden, berichtet Serhij. Kurz zuvor habe Oleksandr damit noch telefoniert. Nach der Durchsuchung sei sein Vater von den Russen in den Wald gebracht und dort von ihnen erschossen worden.

Viele Daten zu Kriegsverbrechen

Offiziell wurde ein Strafverfahren wegen Mordes eröffnet. Serhij versuchte ein Jahr lang die Behörden zu erreichen, um sich über den Stand der Ermittlungen zu informieren. Doch zunächst sei eine Exhumierung und Beweisaufnahme durchgeführt worden. Und nach einigen Monaten habe der Ermittler gewechselt, erzählt Serhij. Erst vor kurzem sei er endlich befragt worden.

“Es läuft langsam, aber es gibt doch Fortschritte. Sie berichten, was sie getan haben. Sie sagen, was der nächste Schritt ist. Das ist ein langwieriges Verfahren. Ich glaube nicht, dass es in einem Jahr abgeschlossen sein wird”, stellt Serhij fest.

Die Generalstaatsanwaltschaft der Ukraine zählt fast 11.000 Kriegsverbrechen, die von der russischen Armee allein in der Region Kiew begangen wurden. Davon wurden 700 in Butscha registriert. Es gibt bereits mehr als 7000 Strafverfahren, 118 Verdächtige und 50 Personen wurden in Abwesenheit vor Gericht gestellt, von denen vier verurteilt wurden.

Im vergangenen Jahr, so die regionale Staatsanwaltschaft von Kiew, untersuchten Ermittler des Sicherheitsdienstes der Ukraine (SBU) mit Unterstützung der Polizei das befreite Gebiet. Dort wurden Exhumierungen durchgeführt und Beweise für die laufenden Verfahren gesammelt. Freiwillige halfen den Ermittlern – und so kam eine große Menge an Daten über Kriegsverbrechen zusammen.

Die Ermittlungen seien auch deshalb so langwierig, weil die Täter so schwierig zu identifizieren seien, berichten die Staatsanwälte. Und Festnahmen seien eigentlich unmöglich. “Das Hauptziel in dieser Phase der Ermittlungen ist, Zeugenaussagen und eine vollständige Beweisgrundlage zusammenzutragen. Oft gelingt es durch die Vernehmung russischer Kriegsgefangener, die Identität des einen oder anderen Kriegsverbrechers festzustellen”, berichtet Oleh Tkalenko, stellvertretender Leiter der Staatsanwaltschaft in der Region Kiew. Kriegsgefangene würden die Namen von Tätern kennen, die oft damit prahlen, wie viele Zivilisten sie getötet, gefoltert oder missbraucht hätten.

Trotz langwieriger Untersuchungen und fragmentarischer Beweise wolle die Staatsanwaltschaft noch in diesem Jahr viele Verdächtige vor Gericht stellen und Urteile erwirken, fügt Tkalenko hinzu. “Danach wird die betreffende Person auf einer internationalen Fahndungsliste stehen. Die Ukraine hat eine Reihe von internationalen Rechtsabkommen über die Auslieferung solcher Straftäter unterzeichnet. Wir hoffen, dass einige von ihnen im Ausland festgenommen und hierher gebracht werden, um ihre Strafe noch während des Krieges zu verbüßen. Nach unserem Sieg werden wir alle anderen finden.”

Neben den Ermittlungen innerhalb der Ukraine haben inzwischen mehr als 20 Länder weltweit im Rahmen ihrer nationalen Gesetzgebung Verfahren wegen russischer Kriegsverbrechen eingeleitet. Kürzlich erließ der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag Haftbefehle gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin und die Kinderrechtsbeauftragte Maria Lwowa-Belowa, wegen des Verdachts der Verschleppung ukrainischer Kinder nach Russland.

Leichen liegen auf einer Straße von Butscha

Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk

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