Deutschland

Ärzteschaft auf dem Land, verzweifelt gesucht

Immer weniger Mediziner in Deutschland wollen auf dem Land arbeiten. Nicht nur die Politik, auch die Ärzte selbst fürchten um die medizinische Versorgung. Zu Besuch bei zwei Landärzten, für die dies ein Traumjob ist.

Für meinen Vater war es nicht nur Beruf, sondern eine Berufung, sagt Stefan Lichtinghagen. 32 Jahre lang führte der Vater erfolgreich seine Hausarztpraxis in der 14.000-Einwohner-Gemeinde Marienheide, 50 Kilometer nordöstlich von Köln. Als er vor knapp 20 Jahren einen Nachfolger sucht, übernimmt der Sohn, der eigentlich als Facharzt für Innere Medizin und Gastroenterologie einen ganz anderen Plan für sein Leben hatte.

“Mein Vater war wirklich von morgens bis abends unterwegs. Ich habe ihn sehr wenig gesehen und immer gedacht, so einen Beruf willst Du nicht machen. Jetzt arbeite ich mittlerweile fast genauso viel”, sagt der Arzt mit einem Lachen. 

Für meinen Vater war es nicht nur Beruf, sondern eine Berufung, sagt Stefan Lichtinghagen. 32 Jahre lang führte der Vater erfolgreich seine Hausarztpraxis in der 14.000-Einwohner-Gemeinde Marienheide, 50 Kilometer nordöstlich von Köln. Als er vor knapp 20 Jahren einen Nachfolger sucht, übernimmt der Sohn, der eigentlich als Facharzt für Innere Medizin und Gastroenterologie einen ganz anderen Plan für sein Leben hatte.

Am Morgen hat Lichtinghagen bei einer 20-Jährigen eine Blinddarmentzündung entdeckt, die vom Notfalldienst mit der Diagnose Blasenentzündung zu ihm geschickt wurde. Er hat einen Freund aus der Nachbarschaft mit Atemwegsproblemen behandelt, den er schon aus der Jugendgruppe in der Kirche kennt. Und die Platzwunde eines 91-Jährigen versorgt, der bei der Gartenarbeit nach einem Schwindelanfall auf den Kopf geknallt war.

50-Stunden-Woche, aber eigener Chef

Lichtinghagen kommt mit seinen 3300 Patienten pro Quartal und den Hausbesuchen locker auf eine 50-Stunden-Woche, seine Entscheidung hat er trotzdem zu keinem Zeitpunkt bereut. Vor allem, weil er von seinen Patientinnen und Patienten, deren Krankengeschichte er in- und auswendig kennt, so unglaublich viel zurückbekomme.

“Kollegen und Kolleginnen werden wegen der bürokratischen Hürden abgeschreckt, sich niederzulassen”, Stichwort Dokumentations- und Verwaltungsarbeit, “nichtsdestotrotz ist man mit der eigenen Praxis sein eigener Chef und kann frei gestalten.”

Lichtinghagen führt die Praxis seit 2005 gemeinsam mit einer Kollegin – allein, sagt er, wäre er nicht in die väterliche Praxis eingestiegen, Einzelkämpfer zu sein sei out. Doch immer weniger junge Ärztinnen und Ärzte in Deutschland wagen diesen Schritt, bis 2035 sollen hierzulande laut einer Studie der Robert-Bosch-Stiftung 11.000 Hausarztstellen unbesetzt sein.

Mit dramatischen Folgen für das Land: 40 Prozent der Landkreise droht die hausärztliche Unterversorgung. Tendenz steigend, denn jeder dritte Hausarzt in Deutschland ist heutzutage älter als 60 Jahre und kurz vor dem Ruhestand. Schon jetzt behandeln Lichtinghagen und sein Team Patienten aus 25 Kilometern Entfernung und können keine neuen Patienten mehr aufnehmen. “Wir haben jeden Tag fast fünf Anfragen. Wir sagen mittlerweile gnadenlos ab, nehmen nicht mal den Ehemann oder die Kinder auf.” 

Deutschland, das sich für seine Gesundheitsversorgung rühmt, droht vor allem auf dem Land zu einem Langzeitpatienten zu werden. Die Politik versucht verzweifelt, gegenzusteuern und Ärztinnen und Ärzte mit Geld aufs Land zu locken. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach fordert 5000 zusätzliche Studienplätze für Medizin, um die Generation der Babyboomer adäquat versorgen zu können.

Das Bundesgesundheitsministerium stellt mit verschiedenen Projekten 23 Millionen Euro gegen den Landarztmangel bereit. Im Koalitionsvertrag wurde u.a. vereinbart, Wartezeiten auf einen Behandlungsplatz, insbesondere für Kinder- und Jugendliche, aber auch in ländlichen und strukturschwachen Gebieten deutlich zu reduzieren. Derzeit prüft das Bundesministerium für Gesundheit umfassend und in Abstimmung mit den maßgeblichen Akteuren Möglichkeiten der Umsetzung dieses Ziels.

Neun von 16 Bundesländern haben bereits die sogenannte Landarztquote eingeführt: Bis zu zehn Prozent an Studienplätzen wird unter der Bedingung vergeben, zehn Jahre in einer medizinisch unterversorgten Region zu arbeiten, selbst ein schlechteres Abitur ist kein Hindernis. Auch Lichtinghagen, der dieser Quote erst skeptisch gegenüberstand, hält sie mittlerweile für einen ersten Schritt in die richtige Richtung.

“Ich dachte zuerst, man kann doch nicht einen jungen Menschen mit 18, 19, 20 Jahren schon zum Hausarzt verdonnern, wenn er im Studium plötzlich feststellt, Gelenkchirurgie ist mein Faible”, so der Hausarzt, “aber wir müssen ja etwas tun: Fachärzte kann man sich auch anders organisieren, aber ohne Hausärzte geht es nicht. Mich wundert schon, dass da der Aufschrei der Bevölkerung nicht größer ist.”

Um noch mehr zu verstehen, wie wichtig die hausärztliche Versorgung ist, muss man von Stefan Lichtinghagens Praxis 100 Kilometer nach Süden fahren, zu Klaus Korte nach Ahrbrück. Der Allgemeinmediziner war vor zwei Jahren der vielleicht wichtigste Hausarzt Deutschlands, als durch die Flutkatastrophe im Ahrtal 134 Menschen ihr Leben verloren und hunderte Personen verletzt wurden. Auch Kortes Praxis war durch die Wassermassen zerstört worden, der Hausarzt hielt die Notfallversorgung sechs Wochen lang provisorisch in einer Grundschule aufrecht.

Korte sagt: “Hausarzt zu sein ist das Schönste, was ich mir vorstellen kann. Die Menschen hier in der Region sind mir in den letzten 20 Jahren ans Herz gewachsen, aber in diesen zwei Jahren nach der Flut nochmal ganz besonders. Diese tausende Schicksale an der Ahr haben uns nochmal ganz anders zusammengeschweißt.”

Das geht so weit, dass dem Arzt Patientinnen und Patienten treu geblieben sind, die heute über 100 Kilometer entfernt in Notunterkünften wohnen. Und wenn diese die Baustellen ihrer von der Flut zerstörten Häuser besuchen, dies mit einem Termin bei ihrem Hausarzt des Vertrauens verbinden. Dabei würde Ahrbrück auch auf die Liste der Gemeinden kommen, wo der Landarztmangel voll durchschlägt. Als Korte vor 20 Jahren anfing, gab es hier noch fünf Hausarztpraxen. Jetzt sind es zwei, Mangelgebiet, sagt er.

Klaus Korte kennt die Vorurteile, die auch heute noch über Hausärzte die Runde machen. Die Kollegen, die abschätzig von Ärzten zweiter Klasse sprechen. Die Dozenten im Studium, die sagen, das müsse auch ein Landarzt in der Eifel wissen. Oder auch die Klinikärzte, die ausrufen: “Mein Gott, was hat der Hausarzt denn da schon wieder gemacht?” Korte lacht das weg, für ihn sind Hausärzte die “Goalkeeper”, die als Torhüter immer wachsam sein und aufpassen müssten.

“Hier ist kein Oberarzt oder Facharzt, den Sie fragen können. Wir müssen die richtigen Entscheidungen treffen, um schwerwiegende Verläufe abzuwenden, bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder auch der Entdeckung von Tumoren. Natürlich machen wir keine invasive Medizin oder Intensivmedizin, aber man kann in der Hausarztpraxis Leben retten, und nicht zu knapp.”

Hinzu kommt noch etwas anderes. Klaus Korte sagt, er könne seine Patientinnen und Patienten ganz anders behandeln, weil er den Vater kennt, der vor drei Jahren elendig an Krebs verstorben ist. Weil die Schwester bei ihm war, die wegen Magersucht in der Psychiatrie gelandet ist. Und weil auch er den kräftezehrenden Nachbarschaftsstreit mitbekommen hat. Sein Appell: Deutschland müsse dringend mehr gegen den Landärztemangel tun.

“Es gibt keinen Zweig in der Medizin, wo sie so nahe an den Menschen dran sind wie der Hausarzt. Er ist das Herz der ambulanten Medizin, mit weniger Hausärzten reißen sie diesem Land das Herz heraus. Das ist die Basis, und wenn die Basis fehlt, wird das darüber gelegene Gebäude zusammenfallen.”

Arzt hört Patient ab
Arzt vor Computer mit Patienten
Karl Lauterbach

Für meinen Vater war es nicht nur Beruf, sondern eine Berufung, sagt Stefan Lichtinghagen. 32 Jahre lang führte der Vater erfolgreich seine Hausarztpraxis in der 14.000-Einwohner-Gemeinde Marienheide, 50 Kilometer nordöstlich von Köln. Als er vor knapp 20 Jahren einen Nachfolger sucht, übernimmt der Sohn, der eigentlich als Facharzt für Innere Medizin und Gastroenterologie einen ganz anderen Plan für sein Leben hatte.

“Mein Vater war wirklich von morgens bis abends unterwegs. Ich habe ihn sehr wenig gesehen und immer gedacht, so einen Beruf willst Du nicht machen. Jetzt arbeite ich mittlerweile fast genauso viel”, sagt der Arzt mit einem Lachen. 

50-Stunden-Woche, aber eigener Chef

Am Morgen hat Lichtinghagen bei einer 20-Jährigen eine Blinddarmentzündung entdeckt, die vom Notfalldienst mit der Diagnose Blasenentzündung zu ihm geschickt wurde. Er hat einen Freund aus der Nachbarschaft mit Atemwegsproblemen behandelt, den er schon aus der Jugendgruppe in der Kirche kennt. Und die Platzwunde eines 91-Jährigen versorgt, der bei der Gartenarbeit nach einem Schwindelanfall auf den Kopf geknallt war.

Lichtinghagen kommt mit seinen 3300 Patienten pro Quartal und den Hausbesuchen locker auf eine 50-Stunden-Woche, seine Entscheidung hat er trotzdem zu keinem Zeitpunkt bereut. Vor allem, weil er von seinen Patientinnen und Patienten, deren Krankengeschichte er in- und auswendig kennt, so unglaublich viel zurückbekomme.

“Kollegen und Kolleginnen werden wegen der bürokratischen Hürden abgeschreckt, sich niederzulassen”, Stichwort Dokumentations- und Verwaltungsarbeit, “nichtsdestotrotz ist man mit der eigenen Praxis sein eigener Chef und kann frei gestalten.”

Lichtinghagen führt die Praxis seit 2005 gemeinsam mit einer Kollegin – allein, sagt er, wäre er nicht in die väterliche Praxis eingestiegen, Einzelkämpfer zu sein sei out. Doch immer weniger junge Ärztinnen und Ärzte in Deutschland wagen diesen Schritt, bis 2035 sollen hierzulande laut einer Studie der Robert-Bosch-Stiftung 11.000 Hausarztstellen unbesetzt sein.

Schon jetzt Unterversorgung bei den Hausärzten

Mit dramatischen Folgen für das Land: 40 Prozent der Landkreise droht die hausärztliche Unterversorgung. Tendenz steigend, denn jeder dritte Hausarzt in Deutschland ist heutzutage älter als 60 Jahre und kurz vor dem Ruhestand. Schon jetzt behandeln Lichtinghagen und sein Team Patienten aus 25 Kilometern Entfernung und können keine neuen Patienten mehr aufnehmen. “Wir haben jeden Tag fast fünf Anfragen. Wir sagen mittlerweile gnadenlos ab, nehmen nicht mal den Ehemann oder die Kinder auf.” 

23 Millionen Euro für Förderprojekte

Deutschland, das sich für seine Gesundheitsversorgung rühmt, droht vor allem auf dem Land zu einem Langzeitpatienten zu werden. Die Politik versucht verzweifelt, gegenzusteuern und Ärztinnen und Ärzte mit Geld aufs Land zu locken. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach fordert 5000 zusätzliche Studienplätze für Medizin, um die Generation der Babyboomer adäquat versorgen zu können.

Das Bundesgesundheitsministerium stellt mit verschiedenen Projekten 23 Millionen Euro gegen den Landarztmangel bereit. Im Koalitionsvertrag wurde u.a. vereinbart, Wartezeiten auf einen Behandlungsplatz, insbesondere für Kinder- und Jugendliche, aber auch in ländlichen und strukturschwachen Gebieten deutlich zu reduzieren. Derzeit prüft das Bundesministerium für Gesundheit umfassend und in Abstimmung mit den maßgeblichen Akteuren Möglichkeiten der Umsetzung dieses Ziels.

Neun von 16 Bundesländern haben bereits die sogenannte Landarztquote eingeführt: Bis zu zehn Prozent an Studienplätzen wird unter der Bedingung vergeben, zehn Jahre in einer medizinisch unterversorgten Region zu arbeiten, selbst ein schlechteres Abitur ist kein Hindernis. Auch Lichtinghagen, der dieser Quote erst skeptisch gegenüberstand, hält sie mittlerweile für einen ersten Schritt in die richtige Richtung.

Landarztquote im Studium als Modellprojekt

“Ich dachte zuerst, man kann doch nicht einen jungen Menschen mit 18, 19, 20 Jahren schon zum Hausarzt verdonnern, wenn er im Studium plötzlich feststellt, Gelenkchirurgie ist mein Faible”, so der Hausarzt, “aber wir müssen ja etwas tun: Fachärzte kann man sich auch anders organisieren, aber ohne Hausärzte geht es nicht. Mich wundert schon, dass da der Aufschrei der Bevölkerung nicht größer ist.”

Um noch mehr zu verstehen, wie wichtig die hausärztliche Versorgung ist, muss man von Stefan Lichtinghagens Praxis 100 Kilometer nach Süden fahren, zu Klaus Korte nach Ahrbrück. Der Allgemeinmediziner war vor zwei Jahren der vielleicht wichtigste Hausarzt Deutschlands, als durch die Flutkatastrophe im Ahrtal 134 Menschen ihr Leben verloren und hunderte Personen verletzt wurden. Auch Kortes Praxis war durch die Wassermassen zerstört worden, der Hausarzt hielt die Notfallversorgung sechs Wochen lang provisorisch in einer Grundschule aufrecht.

Landärztemangel auch im Flutgebiet im Ahrtal

Korte sagt: “Hausarzt zu sein ist das Schönste, was ich mir vorstellen kann. Die Menschen hier in der Region sind mir in den letzten 20 Jahren ans Herz gewachsen, aber in diesen zwei Jahren nach der Flut nochmal ganz besonders. Diese tausende Schicksale an der Ahr haben uns nochmal ganz anders zusammengeschweißt.”

Die Bedeutung der “Goalkeeper” 

Das geht so weit, dass dem Arzt Patientinnen und Patienten treu geblieben sind, die heute über 100 Kilometer entfernt in Notunterkünften wohnen. Und wenn diese die Baustellen ihrer von der Flut zerstörten Häuser besuchen, dies mit einem Termin bei ihrem Hausarzt des Vertrauens verbinden. Dabei würde Ahrbrück auch auf die Liste der Gemeinden kommen, wo der Landarztmangel voll durchschlägt. Als Korte vor 20 Jahren anfing, gab es hier noch fünf Hausarztpraxen. Jetzt sind es zwei, Mangelgebiet, sagt er.

Klaus Korte kennt die Vorurteile, die auch heute noch über Hausärzte die Runde machen. Die Kollegen, die abschätzig von Ärzten zweiter Klasse sprechen. Die Dozenten im Studium, die sagen, das müsse auch ein Landarzt in der Eifel wissen. Oder auch die Klinikärzte, die ausrufen: “Mein Gott, was hat der Hausarzt denn da schon wieder gemacht?” Korte lacht das weg, für ihn sind Hausärzte die “Goalkeeper”, die als Torhüter immer wachsam sein und aufpassen müssten.

“Hier ist kein Oberarzt oder Facharzt, den Sie fragen können. Wir müssen die richtigen Entscheidungen treffen, um schwerwiegende Verläufe abzuwenden, bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder auch der Entdeckung von Tumoren. Natürlich machen wir keine invasive Medizin oder Intensivmedizin, aber man kann in der Hausarztpraxis Leben retten, und nicht zu knapp.”

Hinzu kommt noch etwas anderes. Klaus Korte sagt, er könne seine Patientinnen und Patienten ganz anders behandeln, weil er den Vater kennt, der vor drei Jahren elendig an Krebs verstorben ist. Weil die Schwester bei ihm war, die wegen Magersucht in der Psychiatrie gelandet ist. Und weil auch er den kräftezehrenden Nachbarschaftsstreit mitbekommen hat. Sein Appell: Deutschland müsse dringend mehr gegen den Landärztemangel tun.

“Es gibt keinen Zweig in der Medizin, wo sie so nahe an den Menschen dran sind wie der Hausarzt. Er ist das Herz der ambulanten Medizin, mit weniger Hausärzten reißen sie diesem Land das Herz heraus. Das ist die Basis, und wenn die Basis fehlt, wird das darüber gelegene Gebäude zusammenfallen.”

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