Kultur

Zurückgezogene Winnetou-Bücher sorgen für Sturm der Entrüstung

Deutschland ringt mit dem Erbe des Autoren Karl May, dessen fiktiver indianischer Held Winnetou die verklärte Liebe der Deutschen zu einem romantisierten Wilden Westen verkörpert.

Ein neuer Tag, eine neue Debatte im Netz zum Thema “Cancel Culture“. Auf Twitter schlugen die Wellen der Entrüstung hoch, nachdem der deutsche Verlag Ravensburger angekündigt hatte, dass er zwei Kinderbücher, ein Stickerbuch und ein Puzzle aus seinem Sortiment nehmen würde. 

Die Bücher wurden von den Wild-West-Geschichten des äußerst beliebten und zunehmend umstrittenen deutschen Schriftstellers Karl May (1842-1912) inspiriert. Darin geht es um die Kindheit von Mays berühmtestem Romanhelden: dem furchtlosen Apachen Winnetou, einem fiktiven Häuptling der amerikanischen Ureinwohner. 1875 tauchte er zum ersten Mal auf, seine Abenteuer wurden in zahlreichen Romanen erzählt. Weltweit wurden Mays Bücher rund 200 Millionen Mal verkauft – außerdem gibt es mehrere Filme und sogar eine Zeichentrickserie.

Ein neuer Tag, eine neue Debatte im Netz zum Thema “Cancel Culture“. Auf Twitter schlugen die Wellen der Entrüstung hoch, nachdem der deutsche Verlag Ravensburger angekündigt hatte, dass er zwei Kinderbücher, ein Stickerbuch und ein Puzzle aus seinem Sortiment nehmen würde. 

Die neuen Bücher erschienen begleitend zum Film “Der junge Häuptling Winnetou”, der am 11. August in den deutschen Kinos anlief. Mittlerweile gibt es auch Forderungen, den Film abzusetzen, unter anderem wegen Redfacing.

Deutschlands Leidenschaft für den Wilden Westen

Unter Berufung auf die “vielen negativen Reaktionen” rund um die “romantisierte” und “klischeehafte” Darstellung der amerikanischen Ureinwohner in den Büchern strich der Ravensburger Verlag die Titel aus seinem Programm und entschuldigte sich, sollte er jemandes Gefühle verletzt haben.

Die Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten. “#Winnetou” trendet seitdem im Netz – wobei die Mehrheit der User schimpft – ganz im Tenor der deutschen Boulevardzeitung “Bild”, die eine “erwachte Hysterie” zu erkennen meint, die “den Helden unserer Kindheit auf dem Scheiterhaufen verbrennt”.

Hinter der Online-Wut steckt die verklärte Liebe der Deutschen zu einem romantisierten Wilden Westen – eine Zuneigung, die direkt auf Karl May und seine idealisierte Darstellung Amerikas im 19. Jahrhundert zurückgeführt werden kann.

Mays Charaktere – der edle, heldenhafte Winnetou und sein “Blutsbruder” Old Shatterhand, ein eingewanderter deutscher Landvermesser – sind in Deutschland ebenso verankert wie die Figuren aus Grimms Märchen.

In fast jedem Haushalt findet man Winnetou-Bücher und -Schallplatten. In den 1960er-Jahren gedrehte Filme, die auf Karl Mays Büchern basieren, werden bis heute regelmäßig im Fernsehen gezeigt. Im ganzen Land gibt es Karl-May-Festspiele und Themenparks.

Besonders beliebt sind die Aufführungen im schleswig-holsteinischen Bad Segeberg samt angrenzendem “Indian Village”. Jährlich kommen rund 250.000 Menschen hierher.

Die unreflektierte Darstellungsweise sehen viele als Problem an. Sie kritisieren, dass Mays Vision von der Kultur der amerikanischen Ureinwohner kaum mehr als eine Art naive Utopie und praktische Fiktion ist, die die schlimmen Wahrheiten über den Völkermord an indigenen Völkern durch weiße Siedler ignoriert. Dabei wird ein weiteres Argument relevant: Karl May schrieb als weißer Mann über eine Kultur, von der er keinerlei Kenntnisse aus erster Hand hatte.

May besuchte Amerika nur einmal, nachdem er bereits ein erfolgreicher Romanautor war – und kam nicht weiter westlich als bis nach New York.

Die Winnetou-Filme, einschließlich der neuesten, zeigen alle weiße Schauspielerinnen und Schauspieler in den Rollen der Ureinwohner. Der berühmteste Winnetou ist Pierre Brice, ein Franzose, der den Apachen-Häuptling von 1962 bis 1968 in fast einem Dutzend Filmen, bei den Karl-May-Festspielen in Elspe und Bad Segeberg sowie in den 1980er-Jahren in einer Fernsehserie spielte.

Der Ravensburger Verlag holte die Bücher aus den Regalen, weil auch in diesen Neuauflagen das koloniale Klischee vom “edlen Wilden” bedient wurde – allen voran Winnetou.

Mays Eingeborene seien keine echten Menschen, so das Argument der Kritiker, sondern idealisierte, fast magische Gestalten, deren Hauptaufgabe es sei, sich zugunsten des weißen Protagonisten zu opfern.

Immerhin: Karl May schloss sich nicht der damals gängigen Darstellung von “wilden Indianern” und “zivilisierten Cowboys” an, sondern porträtierte indigene Amerikaner (zumindest Winnetou und seine Freunde) als Helden und weiße Siedler hauptsächlich als Bösewichte.

Der Historiker und Indigenen-Forscher Hartmut Lutz ist ein scharfer Kritiker Karl Mays. Trotzdem räumt er in seinem 2020 erschienenen Buch “Indianthusiasm” ein, dass die eskapistischen Fantasien des Autors das Interesse an der indigenen Kultur in Deutschland geweckt und Generationen deutscher Akademikerinnen und Akademiker dazu inspiriert haben, die Wahrheit hinter den Geschichten herauszufinden. 

Jeder, der einen realistischeren Einblick in das Leben der Ureinwohner erhalten möchte, sollte sich die Serie “Reservation Dogs” ansehen: Urkomisch wird hier von Teenagern berichtet, die in einem Reservat in Oklahoma aufwachsen. Vor und hinter der Kamera stehen Indigene. Oder sehen Sie sich den Science-Fiction-Thriller “Night Raiders” der kanadischen Filmemacherin Danis Goulet an, der 2021 im Rahmen der Internationalen Filmfestspiele Berlin seine Premiere feierte. In dem dystopischen Film, der Mitte des 21. Jahrhunderts in einem vom Militär regierten Nordamerika spielt, schließt sich eine Frau vom Stamm der Cree einer Widerstandsgruppe an, um ihre Tochter aus einer staatlichen Militärakademie zu befreien.

Adaption aus dem Englischen: Suzanne Cords 

Mika Ullritz als Winnetou spannt einen Bogen.
Old Shatterhand (Lex Barker, r) und Winnetou (Pierre Brice, l) schließen Blutsbrüderschaft, im Hintergrund stehen Apachen.

Ein neuer Tag, eine neue Debatte im Netz zum Thema “Cancel Culture“. Auf Twitter schlugen die Wellen der Entrüstung hoch, nachdem der deutsche Verlag Ravensburger angekündigt hatte, dass er zwei Kinderbücher, ein Stickerbuch und ein Puzzle aus seinem Sortiment nehmen würde. 

Die Bücher wurden von den Wild-West-Geschichten des äußerst beliebten und zunehmend umstrittenen deutschen Schriftstellers Karl May (1842-1912) inspiriert. Darin geht es um die Kindheit von Mays berühmtestem Romanhelden: dem furchtlosen Apachen Winnetou, einem fiktiven Häuptling der amerikanischen Ureinwohner. 1875 tauchte er zum ersten Mal auf, seine Abenteuer wurden in zahlreichen Romanen erzählt. Weltweit wurden Mays Bücher rund 200 Millionen Mal verkauft – außerdem gibt es mehrere Filme und sogar eine Zeichentrickserie.

Deutschlands Leidenschaft für den Wilden Westen

Die neuen Bücher erschienen begleitend zum Film “Der junge Häuptling Winnetou”, der am 11. August in den deutschen Kinos anlief. Mittlerweile gibt es auch Forderungen, den Film abzusetzen, unter anderem wegen Redfacing.

Unter Berufung auf die “vielen negativen Reaktionen” rund um die “romantisierte” und “klischeehafte” Darstellung der amerikanischen Ureinwohner in den Büchern strich der Ravensburger Verlag die Titel aus seinem Programm und entschuldigte sich, sollte er jemandes Gefühle verletzt haben.

Die Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten. “#Winnetou” trendet seitdem im Netz – wobei die Mehrheit der User schimpft – ganz im Tenor der deutschen Boulevardzeitung “Bild”, die eine “erwachte Hysterie” zu erkennen meint, die “den Helden unserer Kindheit auf dem Scheiterhaufen verbrennt”.

Hinter der Online-Wut steckt die verklärte Liebe der Deutschen zu einem romantisierten Wilden Westen – eine Zuneigung, die direkt auf Karl May und seine idealisierte Darstellung Amerikas im 19. Jahrhundert zurückgeführt werden kann.

Mays Charaktere – der edle, heldenhafte Winnetou und sein “Blutsbruder” Old Shatterhand, ein eingewanderter deutscher Landvermesser – sind in Deutschland ebenso verankert wie die Figuren aus Grimms Märchen.

Das Klischee vom “edlen Wilden”

In fast jedem Haushalt findet man Winnetou-Bücher und -Schallplatten. In den 1960er-Jahren gedrehte Filme, die auf Karl Mays Büchern basieren, werden bis heute regelmäßig im Fernsehen gezeigt. Im ganzen Land gibt es Karl-May-Festspiele und Themenparks.

Authentischere Einblicke in die Lebensrealität

Besonders beliebt sind die Aufführungen im schleswig-holsteinischen Bad Segeberg samt angrenzendem “Indian Village”. Jährlich kommen rund 250.000 Menschen hierher.

Die unreflektierte Darstellungsweise sehen viele als Problem an. Sie kritisieren, dass Mays Vision von der Kultur der amerikanischen Ureinwohner kaum mehr als eine Art naive Utopie und praktische Fiktion ist, die die schlimmen Wahrheiten über den Völkermord an indigenen Völkern durch weiße Siedler ignoriert. Dabei wird ein weiteres Argument relevant: Karl May schrieb als weißer Mann über eine Kultur, von der er keinerlei Kenntnisse aus erster Hand hatte.

May besuchte Amerika nur einmal, nachdem er bereits ein erfolgreicher Romanautor war – und kam nicht weiter westlich als bis nach New York.

Die Winnetou-Filme, einschließlich der neuesten, zeigen alle weiße Schauspielerinnen und Schauspieler in den Rollen der Ureinwohner. Der berühmteste Winnetou ist Pierre Brice, ein Franzose, der den Apachen-Häuptling von 1962 bis 1968 in fast einem Dutzend Filmen, bei den Karl-May-Festspielen in Elspe und Bad Segeberg sowie in den 1980er-Jahren in einer Fernsehserie spielte.

Der Ravensburger Verlag holte die Bücher aus den Regalen, weil auch in diesen Neuauflagen das koloniale Klischee vom “edlen Wilden” bedient wurde – allen voran Winnetou.

Mays Eingeborene seien keine echten Menschen, so das Argument der Kritiker, sondern idealisierte, fast magische Gestalten, deren Hauptaufgabe es sei, sich zugunsten des weißen Protagonisten zu opfern.

Immerhin: Karl May schloss sich nicht der damals gängigen Darstellung von “wilden Indianern” und “zivilisierten Cowboys” an, sondern porträtierte indigene Amerikaner (zumindest Winnetou und seine Freunde) als Helden und weiße Siedler hauptsächlich als Bösewichte.

Der Historiker und Indigenen-Forscher Hartmut Lutz ist ein scharfer Kritiker Karl Mays. Trotzdem räumt er in seinem 2020 erschienenen Buch “Indianthusiasm” ein, dass die eskapistischen Fantasien des Autors das Interesse an der indigenen Kultur in Deutschland geweckt und Generationen deutscher Akademikerinnen und Akademiker dazu inspiriert haben, die Wahrheit hinter den Geschichten herauszufinden. 

Jeder, der einen realistischeren Einblick in das Leben der Ureinwohner erhalten möchte, sollte sich die Serie “Reservation Dogs” ansehen: Urkomisch wird hier von Teenagern berichtet, die in einem Reservat in Oklahoma aufwachsen. Vor und hinter der Kamera stehen Indigene. Oder sehen Sie sich den Science-Fiction-Thriller “Night Raiders” der kanadischen Filmemacherin Danis Goulet an, der 2021 im Rahmen der Internationalen Filmfestspiele Berlin seine Premiere feierte. In dem dystopischen Film, der Mitte des 21. Jahrhunderts in einem vom Militär regierten Nordamerika spielt, schließt sich eine Frau vom Stamm der Cree einer Widerstandsgruppe an, um ihre Tochter aus einer staatlichen Militärakademie zu befreien.

Adaption aus dem Englischen: Suzanne Cords 

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