“Wir werden Tag und Nacht beschossen” – Wie das Leben in Nikopol trotzdem weitergeht
Russische Truppen beschießen von Enerhodar aus immer wieder Nikopol, nahe dem besetzten AKW Saporischschja. Wie schaffen es die Einwohner der Stadt, unter Beschuss zu leben und warum wollen nicht alle evakuiert werden?
Am Stadtrand von Nikopol, das am nördlichen Ufer des Dnipro liegt, sind fast keine Fahrzeuge zu sehen, weder zivile noch militärische. Das üppige, frische Grün der Bäume auf beiden Seiten der Straße verdeckt den Blick auf die vom Krieg zerstörten Gebäude. In etwa sieben Kilometer Entfernung am gegenüberliegenden Ufer des breiten Flusses sind die sechs Reaktoren des von russischen Truppen besetzten Atomkraftwerks Saporischschja zu erkennen.
Ab und zu sind Explosionen aus verschiedenen Richtungen zu hören. “Da schießen unsere Soldaten und die Besatzer”, sagt der 37-jährige Oleksandr aus Nikopol. Schnell tankt er sein Auto an der Tankstelle auf und macht sich auf den Weg. Doch er rät noch schnell, sich nicht lange in Nikopol aufzuhalten. “Heute Morgen war es mehr oder weniger ruhig. Aber ein Geschoss braucht von dort nur 15 bis 30 Sekunden hierher”, warnt er.
Am Stadtrand von Nikopol, das am nördlichen Ufer des Dnipro liegt, sind fast keine Fahrzeuge zu sehen, weder zivile noch militärische. Das üppige, frische Grün der Bäume auf beiden Seiten der Straße verdeckt den Blick auf die vom Krieg zerstörten Gebäude. In etwa sieben Kilometer Entfernung am gegenüberliegenden Ufer des breiten Flusses sind die sechs Reaktoren des von russischen Truppen besetzten Atomkraftwerks Saporischschja zu erkennen.
Immer wieder beschießt die russische Artillerie Nikopol vom AKW Saporischschja aus. Dadurch wurden seit Beginn von Russlands Angriffskrieg im Februar 2022 bislang 44 Einwohner getötet und 210 verletzt. Als jüngst von den russischen Besatzern eine Evakuierung der Stadt Enerhodar, die am Kernkraftwerk liegt, angekündigt wurde, kam es zu verstärktem Beschuss von Nikopol. Getroffen wurden laut Augenzeugen meist Wohngebiete in der Nähe des Flusses. Vor dem Krieg hatte Nikopol etwa 100.000 Einwohner. Davon sind, so die Behörden, heute noch 40 bis 50 Prozent in der Stadt.
Wie der Alltag in Kriegszeiten aussieht
Den ganzen Tag über schaffen Mitarbeiter kommunaler Betriebe Berge von zertrümmerten Ziegeln, zerbrochenem Glas und Fensterrahmen mit Traktoren und Anhängern weg. In einigen Straßen reparieren Techniker Stromleitungen. “Wir werden ständig beschossen! Tag und Nacht. Wir stellen die Versorgung wieder her, damit, wenn wir siegen, überall Licht ist!”, sagt voller Optimismus ein Techniker, der Viktor heißt.
Nach Angaben der Behörden ist die von Zerstörung betroffene Fläche ziemlich groß – in der Stadt Nikopol selbst entlang des gesamten Ufers des Dnipro. Seit Beginn der russischen Invasion sind, so Jewhen Jewtuschenko, Leiter der regionalen Militärverwaltung vor Ort, fast 3000 Wohnhäuser ganz oder teilweise zerstört worden. Ihm zufolge bedeutet die von den Invasoren angekündigte Evakuierung der Zivilbevölkerung aus Enerhodar und anderen besetzten Bezirken der Region Saporischschja nicht, dass die russischen Truppen von dort abziehen oder den Beschuss einstellen werden.
Oleksandr, Mitarbeiter des Ferrolegierungswerks Nikopol, war während des jüngsten Beschusses auf Nachtschicht. Als er nach Hause kam, sah er, dass das Dach seines Hauses zerstört, die Wände und das Auto beschädigt waren und der Hund tot war. “In einer Sekunde kann hier alles vernichtet sein! Gut, dass niemand aus der Familie verletzt wurde. Meine Frau konnte noch in den Keller rennen als es die ersten Explosionen gab und dann hier eine Mine einschlug”, berichtet er und sagt, er könne all dies immer noch nicht fassen. Oleksandr ist den kommunalen Diensten für die schnelle Hilfe dankbar, die eine spezielle Kunststofffolie über das Haus spannten und halfen, Trümmer zu beseitigen.
In Nikopol gibt es Wasser, Gas und Strom, auch öffentliche Verkehrsmittel funktionieren und Krankenhäuser sind in Betrieb. Im Stadtzentrum sind Geschäfte und Märkte geöffnet und im Gegensatz zu den leeren Straßen am Stadtrand sind hier viele Menschen unterwegs. In einem Park schenkt ein Mann einer jungen Frau Blumen, sie küssen sich und lächeln. Plötzlich ertönt Luftalarm, doch weder sie noch eine Frau mit einem kleinen Mädchen reagieren darauf. Auf die Frage, warum sie nicht weglaufen, sagt die Frau, dass es heute keinen Beschuss geben werde. “Es gibt einen Telegram-Kanal, wo Infos aus Enerhodar gepostet werden. Heute wird auf der anderen Seite nur Gerät bewegt”, sagt sie.
Natalia arbeitet an einem Blumenbeet gegenüber dem Eingang des Betriebs, für den sie tätig ist. Auf die Frage, warum sie dies während eines Luftalarms tue, sagt sie, dass viele Einwohner der Stadt solche Situationen schon gewohnt seien. “Ich bin ruhig, weil ich an eine siegreiche Gegenoffensive der ukrainischen Armee glaube. Mehr noch, wir tun das alle. Wir haben sogar alles in unseren Gemüsegärten gepflanzt. Also, in den Gärten und Höfen herrscht Ordnung!”, sagt die 39-Jährige und betont, man dürfe nicht in Panik geraten, auch wenn man so nah an der Front sei.
Die 69-jährige Viktoria ist nicht so mutig. “Ich habe ständig große Angst. Ich kann den Lärm nicht ertragen, wenn etwas angeflogen kommt und dann explodiert”, gibt sie offen zu. Sie zeigt den Vorhof ihres Wohnhauses, in den bereits mehrfach Granaten eingeschlagen sind, und erzählt, dass sie fast jede Nacht mit ihrem Mann im Keller übernachtet, weil ihre Wohnung in der obersten Etage liegt. “Von den oberen Stockwerken fast aller Häuser kann man das Atomkraftwerk sehen und auch, wie dort geschossen wird. Alle diese oberen Stockwerke liegen in direkter Schusslinie”, so die Rentnerin.
Viktoria erzählt, der Krieg habe sie sehr verändert. Sie habe stark abgenommen, sei im Keller mehrfach schwer krank geworden und auch psychisch sei der Krieg eine große Belastung. “Vor dem Krieg war ich ein völlig anderer Mensch”, sagt sie unter Tränen. Sie sei fröhlicher Natur gewesen, habe anderen Menschen geholfen und gedacht, glücklich alt werden zu können.
Trotz des Beschusses will Viktoria Nikopol aber nicht verlassen, weil sie zuhause und in der Nähe ihrer Tochter leben möchte, die wiederum ihren Job nicht aufgeben will. Auch der Arbeiter des Ferrolegierungswerks Oleksandr will nicht weg aus Nikopol – trotz des Beschusses und der nuklearen Gefahr, die von der russischen Besetzung des nahen Atomkraftwerks ausgeht. Er könne sich nicht vorstellen, in einer anderen Region des Landes, geschweige denn im Ausland zu leben. “Wer braucht uns noch, Menschen, die bald in Rente gehen. Und was die nukleare Gefahr betrifft, so leben immer noch Menschen in der Zone um Tschernobyl“, so der Mann.
Die Bewohner von Nikopol haben vor einigen Monaten Jodtabletten für den Fall eines Unglücks im AKW Saporischschja erhalten. Noch im März kündigten die lokalen Behörden eine freiwillige Evakuierung aus der Stadt an. Diese Empfehlung wurde bisher noch nicht zurückgenommen.
Alle Einwohner von Nikopol, mit denen die DW sprechen konnte, befürchten, dass vor dem Hintergrund der erwarteten Gegenoffensive der ukrainischen Streitkräfte der Beschuss durch russische Truppen deutlich zunehmen könnte. “Ich hoffe, dass sich bei uns das Schicksal von Bachmut nicht wiederholt. Wir sind Geiseln der Situation, denn die ukrainische Armee wird nicht von Nikopol aus in Richtung AKW schießen können”, sagt ein älterer Mann namens Mykola, der sich nach Ende des Luftalarms in einem Geschäft im Zentrum von Nikopol für mehrere Tage mit Milch und Brot eindeckt. “Nur für alle Fälle”, wie er sagt.
Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk
Am Stadtrand von Nikopol, das am nördlichen Ufer des Dnipro liegt, sind fast keine Fahrzeuge zu sehen, weder zivile noch militärische. Das üppige, frische Grün der Bäume auf beiden Seiten der Straße verdeckt den Blick auf die vom Krieg zerstörten Gebäude. In etwa sieben Kilometer Entfernung am gegenüberliegenden Ufer des breiten Flusses sind die sechs Reaktoren des von russischen Truppen besetzten Atomkraftwerks Saporischschja zu erkennen.
Ab und zu sind Explosionen aus verschiedenen Richtungen zu hören. “Da schießen unsere Soldaten und die Besatzer”, sagt der 37-jährige Oleksandr aus Nikopol. Schnell tankt er sein Auto an der Tankstelle auf und macht sich auf den Weg. Doch er rät noch schnell, sich nicht lange in Nikopol aufzuhalten. “Heute Morgen war es mehr oder weniger ruhig. Aber ein Geschoss braucht von dort nur 15 bis 30 Sekunden hierher”, warnt er.
Wie der Alltag in Kriegszeiten aussieht
Immer wieder beschießt die russische Artillerie Nikopol vom AKW Saporischschja aus. Dadurch wurden seit Beginn von Russlands Angriffskrieg im Februar 2022 bislang 44 Einwohner getötet und 210 verletzt. Als jüngst von den russischen Besatzern eine Evakuierung der Stadt Enerhodar, die am Kernkraftwerk liegt, angekündigt wurde, kam es zu verstärktem Beschuss von Nikopol. Getroffen wurden laut Augenzeugen meist Wohngebiete in der Nähe des Flusses. Vor dem Krieg hatte Nikopol etwa 100.000 Einwohner. Davon sind, so die Behörden, heute noch 40 bis 50 Prozent in der Stadt.
Den ganzen Tag über schaffen Mitarbeiter kommunaler Betriebe Berge von zertrümmerten Ziegeln, zerbrochenem Glas und Fensterrahmen mit Traktoren und Anhängern weg. In einigen Straßen reparieren Techniker Stromleitungen. “Wir werden ständig beschossen! Tag und Nacht. Wir stellen die Versorgung wieder her, damit, wenn wir siegen, überall Licht ist!”, sagt voller Optimismus ein Techniker, der Viktor heißt.
Nach Angaben der Behörden ist die von Zerstörung betroffene Fläche ziemlich groß – in der Stadt Nikopol selbst entlang des gesamten Ufers des Dnipro. Seit Beginn der russischen Invasion sind, so Jewhen Jewtuschenko, Leiter der regionalen Militärverwaltung vor Ort, fast 3000 Wohnhäuser ganz oder teilweise zerstört worden. Ihm zufolge bedeutet die von den Invasoren angekündigte Evakuierung der Zivilbevölkerung aus Enerhodar und anderen besetzten Bezirken der Region Saporischschja nicht, dass die russischen Truppen von dort abziehen oder den Beschuss einstellen werden.
Oleksandr, Mitarbeiter des Ferrolegierungswerks Nikopol, war während des jüngsten Beschusses auf Nachtschicht. Als er nach Hause kam, sah er, dass das Dach seines Hauses zerstört, die Wände und das Auto beschädigt waren und der Hund tot war. “In einer Sekunde kann hier alles vernichtet sein! Gut, dass niemand aus der Familie verletzt wurde. Meine Frau konnte noch in den Keller rennen als es die ersten Explosionen gab und dann hier eine Mine einschlug”, berichtet er und sagt, er könne all dies immer noch nicht fassen. Oleksandr ist den kommunalen Diensten für die schnelle Hilfe dankbar, die eine spezielle Kunststofffolie über das Haus spannten und halfen, Trümmer zu beseitigen.
“Man darf nicht in Panik geraten”
In Nikopol gibt es Wasser, Gas und Strom, auch öffentliche Verkehrsmittel funktionieren und Krankenhäuser sind in Betrieb. Im Stadtzentrum sind Geschäfte und Märkte geöffnet und im Gegensatz zu den leeren Straßen am Stadtrand sind hier viele Menschen unterwegs. In einem Park schenkt ein Mann einer jungen Frau Blumen, sie küssen sich und lächeln. Plötzlich ertönt Luftalarm, doch weder sie noch eine Frau mit einem kleinen Mädchen reagieren darauf. Auf die Frage, warum sie nicht weglaufen, sagt die Frau, dass es heute keinen Beschuss geben werde. “Es gibt einen Telegram-Kanal, wo Infos aus Enerhodar gepostet werden. Heute wird auf der anderen Seite nur Gerät bewegt”, sagt sie.
“Wir sind Geiseln der Situation”
Natalia arbeitet an einem Blumenbeet gegenüber dem Eingang des Betriebs, für den sie tätig ist. Auf die Frage, warum sie dies während eines Luftalarms tue, sagt sie, dass viele Einwohner der Stadt solche Situationen schon gewohnt seien. “Ich bin ruhig, weil ich an eine siegreiche Gegenoffensive der ukrainischen Armee glaube. Mehr noch, wir tun das alle. Wir haben sogar alles in unseren Gemüsegärten gepflanzt. Also, in den Gärten und Höfen herrscht Ordnung!”, sagt die 39-Jährige und betont, man dürfe nicht in Panik geraten, auch wenn man so nah an der Front sei.
Die 69-jährige Viktoria ist nicht so mutig. “Ich habe ständig große Angst. Ich kann den Lärm nicht ertragen, wenn etwas angeflogen kommt und dann explodiert”, gibt sie offen zu. Sie zeigt den Vorhof ihres Wohnhauses, in den bereits mehrfach Granaten eingeschlagen sind, und erzählt, dass sie fast jede Nacht mit ihrem Mann im Keller übernachtet, weil ihre Wohnung in der obersten Etage liegt. “Von den oberen Stockwerken fast aller Häuser kann man das Atomkraftwerk sehen und auch, wie dort geschossen wird. Alle diese oberen Stockwerke liegen in direkter Schusslinie”, so die Rentnerin.
Viktoria erzählt, der Krieg habe sie sehr verändert. Sie habe stark abgenommen, sei im Keller mehrfach schwer krank geworden und auch psychisch sei der Krieg eine große Belastung. “Vor dem Krieg war ich ein völlig anderer Mensch”, sagt sie unter Tränen. Sie sei fröhlicher Natur gewesen, habe anderen Menschen geholfen und gedacht, glücklich alt werden zu können.
Trotz des Beschusses will Viktoria Nikopol aber nicht verlassen, weil sie zuhause und in der Nähe ihrer Tochter leben möchte, die wiederum ihren Job nicht aufgeben will. Auch der Arbeiter des Ferrolegierungswerks Oleksandr will nicht weg aus Nikopol – trotz des Beschusses und der nuklearen Gefahr, die von der russischen Besetzung des nahen Atomkraftwerks ausgeht. Er könne sich nicht vorstellen, in einer anderen Region des Landes, geschweige denn im Ausland zu leben. “Wer braucht uns noch, Menschen, die bald in Rente gehen. Und was die nukleare Gefahr betrifft, so leben immer noch Menschen in der Zone um Tschernobyl“, so der Mann.
Die Bewohner von Nikopol haben vor einigen Monaten Jodtabletten für den Fall eines Unglücks im AKW Saporischschja erhalten. Noch im März kündigten die lokalen Behörden eine freiwillige Evakuierung aus der Stadt an. Diese Empfehlung wurde bisher noch nicht zurückgenommen.
Alle Einwohner von Nikopol, mit denen die DW sprechen konnte, befürchten, dass vor dem Hintergrund der erwarteten Gegenoffensive der ukrainischen Streitkräfte der Beschuss durch russische Truppen deutlich zunehmen könnte. “Ich hoffe, dass sich bei uns das Schicksal von Bachmut nicht wiederholt. Wir sind Geiseln der Situation, denn die ukrainische Armee wird nicht von Nikopol aus in Richtung AKW schießen können”, sagt ein älterer Mann namens Mykola, der sich nach Ende des Luftalarms in einem Geschäft im Zentrum von Nikopol für mehrere Tage mit Milch und Brot eindeckt. “Nur für alle Fälle”, wie er sagt.
Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk