Mein Europa: Die Moldau kehrt zurück nach Europa
Noch nie war die Republik Moldau seit der Unabhängigkeitserklärung von 1991 der Verwirklichung ihres europäischen Traums so nah. Die jüngste große Volksversammlung in Chisinau hat dies eindrucksvoll bestätigt.
Zugegeben, Russlands Aggression gegen die Ukraine hat den europäischen Annäherungsprozess der Republik Moldau beschleunigt. Andererseits: Hätte die Moldau keine wirklich pro-europäische Regierung gehabt, hätten Präsidentin Maia Sandu und die von ihr gegründete Partei PAS die Wahlen 2020 bzw. 2021 nicht gewonnen, wäre das Land heute im wahrsten Sinne des Wortes ein Schlachtfeld.
Eine pro-russische Regierung hätte Putins Militär den internationalen Flughafen in der Hauptstadt Chisinau zur Verfügung gestellt und ihm dabei geholfen, sich mit den russischen Truppen in der separatistischen Region Transnistrien zu verbinden und die Ukraine von hinten anzugreifen. In der gegenwärtigen Situation hat das Territorium der Republik Moldau an strategischer Bedeutung gewonnen. Der Westen kann es sich nicht leisten, es Russland zu überlassen.
Zugegeben, Russlands Aggression gegen die Ukraine hat den europäischen Annäherungsprozess der Republik Moldau beschleunigt. Andererseits: Hätte die Moldau keine wirklich pro-europäische Regierung gehabt, hätten Präsidentin Maia Sandu und die von ihr gegründete Partei PAS die Wahlen 2020 bzw. 2021 nicht gewonnen, wäre das Land heute im wahrsten Sinne des Wortes ein Schlachtfeld.
In diesem Teil der Welt kam es immer wieder zu abrupten Veränderungen aufgrund eines dramatischen Zusammentreffens der Umstände. In der Geschichte gibt es Chancen – und es gibt Lücken, durch die man schlüpfen muss, um die Chancen nicht zu verpassen. Dies war auch im Jahr 1918 der Fall, als Bessarabien sich mit Rumänien vereinigte und dabei das Chaos ausnutzte, in das Russland nach dem bolschewistischen Putsch im Oktober 1917 geraten war. Das Gleiche scheint jetzt, inmitten der Putin-Invasion in der Ukraine, zu geschehen.
Moldau: im Zeichen des “ewigen Anfangs”
Bessarabien oder die Republik Moldau, wie die Region heute heißt, ist ein kleiner Staat, dessen Identität durch eine vom Zarenreich und später von der UdSSR betriebene Russifizierung untergraben wurde. Dem Land hat in der Geschichte immer eine Atempause gefehlt, um wieder auf die Beine zu kommen. In den letzten 30 Jahren wurden pro-europäische Regierungen durch pro-russische Machtstrukturen ersetzt, die alles, was ihre Vorgänger als demokratische Institutionen skizziert hatten, zunichtemachten. Genau wie in der rumänischen Legende vom Baumeister Manole: Die tagsüber errichteten Mauern eines Klosters fielen über Nacht zusammen. Um beständig zu bleiben, erforderte der Bau ein Menschenopfer (Manole mauerte seine eigene Frau ein). Als gäbe es in unserer Geschichte nicht genug Opfer! Ein ewiger Anfang, eine Sisyphusarbeit ohne Hoffnung.
Im Jahr 1991, zu Beginn der Unabhängigkeit, stand die Republik Moldau in den gleichen Startlöchern wie die baltischen Staaten oder die osteuropäischen Staaten, die dem Warschauer Pakt angehört hatten. Die berühmten antikommunistischen “Montagsdemonstrationen” in Leipzig im Herbst 1989, die der deutschen Wiedervereinigung vorausgingen (“Vor der Einheit kam die Freiheit”, sagte der frühere Bundespräsident Joachim Gauck zum 25. Jahrestag dieser Ereignisse) hatten ihr Pendant in den rumänischen “Blumenbrücken” aus den Jahren 1990 und 1991. Zum ersten Mal kamen Tausende von Menschen von beiden Ufern des Pruth, zahlreiche Familien, die nach dem Zweiten Weltkrieg durch Stacheldraht getrennt waren, wieder zusammen.
Die Begeisterung von damals kann man nicht beschreiben. 50 Jahre lang hatten wir eine “Berliner Mauer” auf dem Wasser eines Flusses. Eine “Berliner Mauer” innerhalb desselben Lagers, denn dahinter, am rechten Ufer des Pruth, gab es keine “andere BRD”, es war ebenfalls ein kommunistisches Land: Ceaușescus Rumänien.
Zur Volksversammlung “Europäische Moldau” am 21. Mai 2023 kam eine beeindruckende Menschenmenge aus allen Regionen des Landes nach Chisinau, Bürgerinnen und Bürger aller Altersgruppen und Ethnien. Eine solche Mobilisierung gelingt nicht so leicht. Diese Großdemonstration hätte nicht organisiert werden können, wenn der Moment nicht den Erwartungen so vieler Menschen entsprochen hätte. So wie es in den Jahren der nationalen Renaissance 1989-1991 im Kontext der Gorbatschow-Reformen war, als die Moldauerinnen und Moldauer ihr Recht auf die rumänische Sprache, auf die lateinische Schrift, auf die wahre nationale Geschichte einforderten. Es waren ausschließlich kulturelle Identitätsansprüche.
Man kann ohne Übertreibung sagen, dass sich die Menschen am 21. Mai 2023 in Chisinau zu einer großen pro-europäischen Kundgebung auch im Namen ihrer Eltern und Großeltern versammelt haben, die 1946-1947 von den Sowjets deportiert, ermordet und durch Hungersnöte ausgerottet wurden; im Namen der von den Kommunisten verfolgten Intellektuellen, der Studenten, die von der Universität ausgeschlossen wurden, weil sie rumänische Bücher lasen und es wagten, Blumen an der Statue des moldauischen Fürsten Stefan des Großen in Chisinau in dem von KGB-Agenten wimmelnden Park niederzulegen. Es war eine symbolische Geste der Erlösung.
Diese Frage heute zu stellen, nach 50 Jahren des russischen Kommunismus und nach über drei Jahrzehnten der postsowjetischen Orientierungslosigkeit, ist ein Anachronismus. Es ist ermüdend, immer wieder die gleichen Argumente vorzubringen. Oder ist es vielleicht doch nur eine Illusion? Wir haben das Gefühl, dass wir Menschen ansprechen, die so denken wie wir, mit den gleichen Visionen und Idealen. Zum Teil stimmt es auch. Wer uns liest, der denkt entweder wie wir oder er tut es, weil es seine Stellenbeschreibung erfordert. Die anderen lesen uns einfach nicht.
Zum Beispiel das gagausische Volk – massiv beeinflusst von der Kreml-Propaganda, gefangen von russisch kontrollierten Politikern. Comrat, die Hauptstadt der Autonomen Region Gagausien, ist der Haken an der Sache. Der Haken, an dem Moskau sein Seil befestigt hat, mit dem es die Republik Moldau in seiner geopolitischen Gefangenschaft halten will. Das andere “Seil” ist Transnistrien.
Die gagausischen Führer wollen privilegierte Beziehungen zu Russland, ignorieren den Krieg in der Ukraine, stehen den Zentralbehörden in Chisinau feindlich gegenüber und wollen nichts von der europäischen Integration hören. Eine Brutstätte des Separatismus, die zu kochen beginnt. Die Strafverfolgungsbehörden und die Staatsanwaltschaft der Republik Moldau haben massive Betrugsfälle bei den jüngsten Wahlen in der Region festgestellt, die von Moskaus Kandidaten dominiert wurden – einschließlich der Verwendung enormer Mengen an “Schwarzgeld” aus dem Ausland. Diesem Zustand kann nur durch eine konsequente Anwendung des Gesetzes und die Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit ein Ende gesetzt werden.
Wir wissen nicht, wann der russisch-ukrainische Krieg enden und wie die erwartete Niederlage Putin-Russlands aussehen wird. Aber wir wissen mit Sicherheit, wie der Sieg der Moldau, der Sieg der freien Welt aussehen kann.
Was bedeutet Europa für uns Moldauer? Es bedeutet Freiheit, Wohlstand, Zivilisation, eine würdigere Zukunft. Es bedeutet die Zuversicht, dass die massive Abwanderung gestoppt und dieses Land nicht bald menschenleer sein wird; dass der Einsatz von Intelligenz und körperlicher Anstrengung belohnt wird. Aber vor allem riskieren wir durch den Beitritt zur Europäischen Union und hoffentlich auch zur NATO nicht länger, an einem schicksalhaften Tag wie dem 24. Februar 2022 aufzuwachen. Dem Tag, an dem wir das Gefühl hatten, wir würden – wie in einem immer wiederkehrenden Albtraum – erneut in einen dunklen Abgrund der Geschichte versinken. Wir, die Menschen in der Moldau, dem Land am Scheideweg alles Bösen, wie unsere mittelalterlichen Chronisten zu sagen pflegten.
Vitalie Ciobanu gehört zu den bekanntesten Schriftstellern und Publizisten der Republik Moldau. Er ist Präsident des moldauischen PEN-Clubs.
Mit der Kolumne “Mein Europa” bietet die DW Persönlichkeiten aus dem Kulturleben und der Wissenschaft Mittel- und Südosteuropas Raum, ihre persönliche Sicht auf europäische Themen darzustellen. “Mein Europa” zeigt diverse Perspektiven auf und soll zu einer demokratischen Debattenkultur beitragen.
Adaption aus dem Rumänischen: Robert Schwartz
Zugegeben, Russlands Aggression gegen die Ukraine hat den europäischen Annäherungsprozess der Republik Moldau beschleunigt. Andererseits: Hätte die Moldau keine wirklich pro-europäische Regierung gehabt, hätten Präsidentin Maia Sandu und die von ihr gegründete Partei PAS die Wahlen 2020 bzw. 2021 nicht gewonnen, wäre das Land heute im wahrsten Sinne des Wortes ein Schlachtfeld.
Eine pro-russische Regierung hätte Putins Militär den internationalen Flughafen in der Hauptstadt Chisinau zur Verfügung gestellt und ihm dabei geholfen, sich mit den russischen Truppen in der separatistischen Region Transnistrien zu verbinden und die Ukraine von hinten anzugreifen. In der gegenwärtigen Situation hat das Territorium der Republik Moldau an strategischer Bedeutung gewonnen. Der Westen kann es sich nicht leisten, es Russland zu überlassen.
Moldau: im Zeichen des “ewigen Anfangs”
In diesem Teil der Welt kam es immer wieder zu abrupten Veränderungen aufgrund eines dramatischen Zusammentreffens der Umstände. In der Geschichte gibt es Chancen – und es gibt Lücken, durch die man schlüpfen muss, um die Chancen nicht zu verpassen. Dies war auch im Jahr 1918 der Fall, als Bessarabien sich mit Rumänien vereinigte und dabei das Chaos ausnutzte, in das Russland nach dem bolschewistischen Putsch im Oktober 1917 geraten war. Das Gleiche scheint jetzt, inmitten der Putin-Invasion in der Ukraine, zu geschehen.
Bessarabien oder die Republik Moldau, wie die Region heute heißt, ist ein kleiner Staat, dessen Identität durch eine vom Zarenreich und später von der UdSSR betriebene Russifizierung untergraben wurde. Dem Land hat in der Geschichte immer eine Atempause gefehlt, um wieder auf die Beine zu kommen. In den letzten 30 Jahren wurden pro-europäische Regierungen durch pro-russische Machtstrukturen ersetzt, die alles, was ihre Vorgänger als demokratische Institutionen skizziert hatten, zunichtemachten. Genau wie in der rumänischen Legende vom Baumeister Manole: Die tagsüber errichteten Mauern eines Klosters fielen über Nacht zusammen. Um beständig zu bleiben, erforderte der Bau ein Menschenopfer (Manole mauerte seine eigene Frau ein). Als gäbe es in unserer Geschichte nicht genug Opfer! Ein ewiger Anfang, eine Sisyphusarbeit ohne Hoffnung.
Im Jahr 1991, zu Beginn der Unabhängigkeit, stand die Republik Moldau in den gleichen Startlöchern wie die baltischen Staaten oder die osteuropäischen Staaten, die dem Warschauer Pakt angehört hatten. Die berühmten antikommunistischen “Montagsdemonstrationen” in Leipzig im Herbst 1989, die der deutschen Wiedervereinigung vorausgingen (“Vor der Einheit kam die Freiheit”, sagte der frühere Bundespräsident Joachim Gauck zum 25. Jahrestag dieser Ereignisse) hatten ihr Pendant in den rumänischen “Blumenbrücken” aus den Jahren 1990 und 1991. Zum ersten Mal kamen Tausende von Menschen von beiden Ufern des Pruth, zahlreiche Familien, die nach dem Zweiten Weltkrieg durch Stacheldraht getrennt waren, wieder zusammen.
Die Begeisterung von damals kann man nicht beschreiben. 50 Jahre lang hatten wir eine “Berliner Mauer” auf dem Wasser eines Flusses. Eine “Berliner Mauer” innerhalb desselben Lagers, denn dahinter, am rechten Ufer des Pruth, gab es keine “andere BRD”, es war ebenfalls ein kommunistisches Land: Ceaușescus Rumänien.
Hunderttausende Menschen bei der pro-europäischen Kundgebung in Chisinau
Zur Volksversammlung “Europäische Moldau” am 21. Mai 2023 kam eine beeindruckende Menschenmenge aus allen Regionen des Landes nach Chisinau, Bürgerinnen und Bürger aller Altersgruppen und Ethnien. Eine solche Mobilisierung gelingt nicht so leicht. Diese Großdemonstration hätte nicht organisiert werden können, wenn der Moment nicht den Erwartungen so vieler Menschen entsprochen hätte. So wie es in den Jahren der nationalen Renaissance 1989-1991 im Kontext der Gorbatschow-Reformen war, als die Moldauerinnen und Moldauer ihr Recht auf die rumänische Sprache, auf die lateinische Schrift, auf die wahre nationale Geschichte einforderten. Es waren ausschließlich kulturelle Identitätsansprüche.
“Warum Europa, warum nicht Russland?”
Man kann ohne Übertreibung sagen, dass sich die Menschen am 21. Mai 2023 in Chisinau zu einer großen pro-europäischen Kundgebung auch im Namen ihrer Eltern und Großeltern versammelt haben, die 1946-1947 von den Sowjets deportiert, ermordet und durch Hungersnöte ausgerottet wurden; im Namen der von den Kommunisten verfolgten Intellektuellen, der Studenten, die von der Universität ausgeschlossen wurden, weil sie rumänische Bücher lasen und es wagten, Blumen an der Statue des moldauischen Fürsten Stefan des Großen in Chisinau in dem von KGB-Agenten wimmelnden Park niederzulegen. Es war eine symbolische Geste der Erlösung.
Diese Frage heute zu stellen, nach 50 Jahren des russischen Kommunismus und nach über drei Jahrzehnten der postsowjetischen Orientierungslosigkeit, ist ein Anachronismus. Es ist ermüdend, immer wieder die gleichen Argumente vorzubringen. Oder ist es vielleicht doch nur eine Illusion? Wir haben das Gefühl, dass wir Menschen ansprechen, die so denken wie wir, mit den gleichen Visionen und Idealen. Zum Teil stimmt es auch. Wer uns liest, der denkt entweder wie wir oder er tut es, weil es seine Stellenbeschreibung erfordert. Die anderen lesen uns einfach nicht.
Zum Beispiel das gagausische Volk – massiv beeinflusst von der Kreml-Propaganda, gefangen von russisch kontrollierten Politikern. Comrat, die Hauptstadt der Autonomen Region Gagausien, ist der Haken an der Sache. Der Haken, an dem Moskau sein Seil befestigt hat, mit dem es die Republik Moldau in seiner geopolitischen Gefangenschaft halten will. Das andere “Seil” ist Transnistrien.
Sorge vor einer russischen Invasion beunruhigt Moldau
Die gagausischen Führer wollen privilegierte Beziehungen zu Russland, ignorieren den Krieg in der Ukraine, stehen den Zentralbehörden in Chisinau feindlich gegenüber und wollen nichts von der europäischen Integration hören. Eine Brutstätte des Separatismus, die zu kochen beginnt. Die Strafverfolgungsbehörden und die Staatsanwaltschaft der Republik Moldau haben massive Betrugsfälle bei den jüngsten Wahlen in der Region festgestellt, die von Moskaus Kandidaten dominiert wurden – einschließlich der Verwendung enormer Mengen an “Schwarzgeld” aus dem Ausland. Diesem Zustand kann nur durch eine konsequente Anwendung des Gesetzes und die Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit ein Ende gesetzt werden.
Wir wissen nicht, wann der russisch-ukrainische Krieg enden und wie die erwartete Niederlage Putin-Russlands aussehen wird. Aber wir wissen mit Sicherheit, wie der Sieg der Moldau, der Sieg der freien Welt aussehen kann.
Was bedeutet Europa für uns Moldauer? Es bedeutet Freiheit, Wohlstand, Zivilisation, eine würdigere Zukunft. Es bedeutet die Zuversicht, dass die massive Abwanderung gestoppt und dieses Land nicht bald menschenleer sein wird; dass der Einsatz von Intelligenz und körperlicher Anstrengung belohnt wird. Aber vor allem riskieren wir durch den Beitritt zur Europäischen Union und hoffentlich auch zur NATO nicht länger, an einem schicksalhaften Tag wie dem 24. Februar 2022 aufzuwachen. Dem Tag, an dem wir das Gefühl hatten, wir würden – wie in einem immer wiederkehrenden Albtraum – erneut in einen dunklen Abgrund der Geschichte versinken. Wir, die Menschen in der Moldau, dem Land am Scheideweg alles Bösen, wie unsere mittelalterlichen Chronisten zu sagen pflegten.
Vitalie Ciobanu gehört zu den bekanntesten Schriftstellern und Publizisten der Republik Moldau. Er ist Präsident des moldauischen PEN-Clubs.
Mit der Kolumne “Mein Europa” bietet die DW Persönlichkeiten aus dem Kulturleben und der Wissenschaft Mittel- und Südosteuropas Raum, ihre persönliche Sicht auf europäische Themen darzustellen. “Mein Europa” zeigt diverse Perspektiven auf und soll zu einer demokratischen Debattenkultur beitragen.
Adaption aus dem Rumänischen: Robert Schwartz