Der Schmerz der “deutschen” Ukrainer
Im westukrainischen Czernowitz haben viele Einwohner eine besondere Beziehung zu Deutschland. Die zögerliche Haltung der Bundesregierung im Ukraine-Krieg stürzt sie in tiefe Zwiespalte.
Es ist Abend und es wird langsam dunkler im Raum. Doch der Gouverneur schaltet kein Licht an. Irgendwann ist sein Gesicht nur noch als Silhouette zu erkennen, angestrahlt vom spärlichen Licht des Computer-Bildschirms.
Ein Skype-Gespräch mit Serhij Osatschuk, Gouverneur der Region Czernowitz im Südwesten der Ukraine, an einem Abend im Mai. Mitten im Gespräch ist von Weitem das Geräusch aufheulender Sirenen zu vernehmen: Bombenalarm. Er ertönt überall in der Ukraine, wenn die Luftabwehr den Anflug russischer Raketen meldet. Czernowitz (ukr.: Tscherniwzi) erlebte in den bisherigen drei Monaten des Kriegs gegen die Ukraine noch keinen russischen Bomben- und Raketenhagel. Dennoch flüchten viele Einwohner meistens vorsichtshalber in Keller und Schutzräume.
Es ist Abend und es wird langsam dunkler im Raum. Doch der Gouverneur schaltet kein Licht an. Irgendwann ist sein Gesicht nur noch als Silhouette zu erkennen, angestrahlt vom spärlichen Licht des Computer-Bildschirms.
An diesem Abend ist Serhij Osatschuk der einzige im Verwaltungsgebäude der Region, der noch in seinem Büro sitzt. “Eigentlich sollte ich jetzt auch im Keller sein”, sagt er lächelnd. “Aber wenn ich nun schon allein im Büro ausharre, dann sollte ich zumindest kein Licht im Raum anmachen”, fügt er hinzu.
Deutschland hat Ansehen verloren
Serhij Osatschuk, 49, spricht in perfektem und äußerst gewähltem Deutsch, er hat einen leicht wienerischen Akzent. Bevor er 2019 Gouverneur der Region wurde, also Vertreter der Kiewer Zentralregierung, war er einige Jahre lang österreichischer Honorarkonsul. Er ist promovierter Historiker, hat lange Zeit in Deutschland und Österreich studiert und geforscht. Er gehört zu jenen Czernowitzern, die nach dem Ende der Sowjetunion in der unabhängigen Ukraine die alte habsburgische Tradition ihrer Heimatstadt und der historischen Region Bukowina wiederentdeckten: ihre Multiethnizität, ihre legendäre Vielfalt und Toleranz lange bevor der Begriff Multikulturalität aufkam, ihre vor allem deutschsprachig-jiddisch-jüdisch geprägte Kultur.
Czernowitzer wie Osatschuk galten wegen ihrer Verbindungen in den deutschsprachigen Raum lange Zeit als Brückenbauer, Aushängeschilder und Vorzeigebürger ihrer Stadt. Das hat sich seit dem Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine geändert. Deutschland hat wegen der zögerlichen Haltung der Bundesregierung bei der militärischen Unterstützung der Ukraine unter den Menschen im Land massiv an Ansehen verloren. Es verkörpert – bei aller Dankbarkeit der Ukrainer für die große Unterstützung von Flüchtlingen – Angst und Feigheit vor Russland. Es verkörpert einen heuchlerischen Umgang mit deklarierten Werten und dem fehlenden Einstehen für sie. Und das stürzt die “deutschen” Ukrainer in Czernowitz in besondere Zwiespalte.
Sie sind traurig und ratlos über die Haltung des Landes, das Teil ihres Lebens und auch ihrer Identität ist. Manchmal schämen sie sich, manchmal sind sie verbittert. Bisweilen geraten sie unter Erklärungsdruck, weil sie in den Augen von Mitbürgern als Repräsentanten Deutschlands oder Österreichs gelten.
Für Serhij Osatschuk ist Deutschland seit Studienzeiten untrennbarer Teil seines Lebens – auch wenn für ihn immer klar war, dass er in seiner Heimatstadt Czernowitz bleiben wollte. Er studierte Geschichte in Konstanz und München, forschte dort für seine Promotion, schloss Freundschaften, die bis heute bestehen. Auch seine Frau und seine beiden Söhne sprechen sehr gut Deutsch, die Familie ist regelmäßig in Deutschland und in Österreich. Osatschuk arbeitete neben seiner Tätigkeit als Historiker an der Universität Czernowitz lange Zeit als Dolmetscher, beriet Wirtschaftsverbände und die Czernowitzer Stadtführung bei Fragen der Kooperation mit Deutschland, war fünf Jahre lang österreichischer Honorarkonsul.
Wenn er über all das erzählt, spürt man, was Deutschland ihm bisher bedeutet hat: Es war Vorbild, Sehnsuchtsort und Kompass für eine europäische Ukraine. Doch dieses Gefühl hat für ihn seit dem Beginn des Krieges einen Riss bekommen. Wie tief er ist, ahnt man bei der Frage, ob es ihn schmerzt, dass die Regierung jenes Landes, das seine persönliche Identität so sehr geprägt hat, seiner Heimat Ukraine jetzt nur sehr zögerlich beisteht. Osatschuk senkt den Blick bei der Frage, er muss Tränen unterdrücken.
Nach einer langen Pause sagt er: “Das ganze Putinverstehertum in Deutschland hat nichts gebracht. Die Lösung kann nur ein Putin-freies Europa sei. Aber viele deutsche Politiker sind wie die falschen Priester in der Kirche, die Wasser predigen und Wein trinken. Man kann sich schmücken mit Worten über europäische Werte, doch in Wirklichkeit wird gelebt nach dem Prinzip, sich mit dem Stärkeren zusammenzutun, und das ist in diesem Fall Putin. Dabei sind wir doch Menschen. Wir möchten leben. Wir haben ein Recht darauf, nicht bombardiert, vernichtet und massakriert zu werden.”
Ganz ähnlich empfindet es auch die Czernowitzer Germanistin und Literaturwissenschaftlerin Oksana Matijtschuk, 45, die ebenfalls lange Zeit in Deutschland studiert und geforscht hat und heute die ukrainisch-deutsche Kulturgesellschaft Tscherniwzi an der Universität ihrer Heimatstadt leitet. “Ich habe inzwischen ein gespaltenes Verhältnis zu Deutschland”, sagt sie im Gespräch mit der DW. “Einerseits kommt viel Hilfe aus der Zivilgesellschaft, andererseits ist die Haltung der deutschen Regierung eine große Enttäuschung. Ich denke, in Deutschland gibt es das Problem einer falsch verstandenen historischen Verantwortung. Vielleicht, und das ist ein schlimmer Verdacht, sind aber auch einfach Geschäfte wichtiger als Menschenleben.”
Unter Erklärungsdruck gerate sie in ihrem Freundes- und Bekanntenkreis nicht, sagt Oksana Matijtschuk. “Aber mir haben Bekannte schon sarkastisch gesagt, wenn ich schon so viele persönliche Verbindungen nach Deutschland hätte, sollte ich all den Leuten dort doch mal unsere Lage erklären.”
Anders ergeht es Mykola Kuschnir, 48, Historiker und Leiter des jüdischen Museums Czernowitz. Er war in den 1990er Jahren ebenfalls zu Studien- und Forschungsaufenthalten in Deutschland und musste sich seit Kriegsbeginn schon viele vorwurfsvolle Fragen anhören. “Dass ich eine besondere Liebe für Deutschland und die deutsche Sprache habe, wissen meine Freunde und Bekannten”, sagt Kuschnir der DW. “Manche stellen mir jetzt die Frage, wie ich überhaupt noch mit meinen deutschen Bekannten und Kollegen Kontakt halten könne. Oder sie sagen: Siehst du, wie ‘deine’ Deutschen sich verhalten?!”
Er sei selbst traurig über die zögerliche Haltung der deutschen Politik in der Frage der militärischen Unterstützung für die Ukraine, sagt Kuschnir, allerdings kenne er den Hintergrund der komplizierten deutschen Befindlichkeiten. “Viele Menschen in der Ukraine verstehen das aber nicht, und sie stellen mir ganz simple Fragen: Warum hast du überhaupt noch Freunde in Deutschland? Oder: Warum brichst du die Kontakte nicht ab? Das macht mein Leben zur Zeit manchmal schwierig.”
Im Büro von Serhij Osatschuk ist es inzwischen stockdunkel. Das Gesicht des Gouverneurs lässt sich auf dem PC-Bildschirm nur noch schemenhaft erkennen. Aufgehoben ist der Bombenalarm an diesem Abend noch nicht, vielleicht wird er die ganze Nacht andauern.
Es ist Zeit für Serhij Osatschuk, endlich auch den Luftschutzkeller aufzusuchen. Am Ende des Gesprächs sagt er etwas, das einem fast die Schamesröte ins Gesicht treibt. “Wir erhalten viel Unterstützung von anderen Staaten, nicht nur aus Ländern wie den USA oder Großbritannien, sondern auch von kleineren Staaten wie den baltischen oder Rumänien. Eines Tages werden sie alle neben uns in Würde stehen und sagen können: Wir haben euch geholfen, unser aller Freiheit, unser europäisches Haus zu verteidigen. Aber das starke Deutschland wird nicht dabei sein. Es wird ohne Würde dastehen, weil es sich versteckte und Angst hatte, uns zu helfen.”
Es ist Abend und es wird langsam dunkler im Raum. Doch der Gouverneur schaltet kein Licht an. Irgendwann ist sein Gesicht nur noch als Silhouette zu erkennen, angestrahlt vom spärlichen Licht des Computer-Bildschirms.
Ein Skype-Gespräch mit Serhij Osatschuk, Gouverneur der Region Czernowitz im Südwesten der Ukraine, an einem Abend im Mai. Mitten im Gespräch ist von Weitem das Geräusch aufheulender Sirenen zu vernehmen: Bombenalarm. Er ertönt überall in der Ukraine, wenn die Luftabwehr den Anflug russischer Raketen meldet. Czernowitz (ukr.: Tscherniwzi) erlebte in den bisherigen drei Monaten des Kriegs gegen die Ukraine noch keinen russischen Bomben- und Raketenhagel. Dennoch flüchten viele Einwohner meistens vorsichtshalber in Keller und Schutzräume.
Deutschland hat Ansehen verloren
An diesem Abend ist Serhij Osatschuk der einzige im Verwaltungsgebäude der Region, der noch in seinem Büro sitzt. “Eigentlich sollte ich jetzt auch im Keller sein”, sagt er lächelnd. “Aber wenn ich nun schon allein im Büro ausharre, dann sollte ich zumindest kein Licht im Raum anmachen”, fügt er hinzu.
Serhij Osatschuk, 49, spricht in perfektem und äußerst gewähltem Deutsch, er hat einen leicht wienerischen Akzent. Bevor er 2019 Gouverneur der Region wurde, also Vertreter der Kiewer Zentralregierung, war er einige Jahre lang österreichischer Honorarkonsul. Er ist promovierter Historiker, hat lange Zeit in Deutschland und Österreich studiert und geforscht. Er gehört zu jenen Czernowitzern, die nach dem Ende der Sowjetunion in der unabhängigen Ukraine die alte habsburgische Tradition ihrer Heimatstadt und der historischen Region Bukowina wiederentdeckten: ihre Multiethnizität, ihre legendäre Vielfalt und Toleranz lange bevor der Begriff Multikulturalität aufkam, ihre vor allem deutschsprachig-jiddisch-jüdisch geprägte Kultur.
Czernowitzer wie Osatschuk galten wegen ihrer Verbindungen in den deutschsprachigen Raum lange Zeit als Brückenbauer, Aushängeschilder und Vorzeigebürger ihrer Stadt. Das hat sich seit dem Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine geändert. Deutschland hat wegen der zögerlichen Haltung der Bundesregierung bei der militärischen Unterstützung der Ukraine unter den Menschen im Land massiv an Ansehen verloren. Es verkörpert – bei aller Dankbarkeit der Ukrainer für die große Unterstützung von Flüchtlingen – Angst und Feigheit vor Russland. Es verkörpert einen heuchlerischen Umgang mit deklarierten Werten und dem fehlenden Einstehen für sie. Und das stürzt die “deutschen” Ukrainer in Czernowitz in besondere Zwiespalte.
Sie sind traurig und ratlos über die Haltung des Landes, das Teil ihres Lebens und auch ihrer Identität ist. Manchmal schämen sie sich, manchmal sind sie verbittert. Bisweilen geraten sie unter Erklärungsdruck, weil sie in den Augen von Mitbürgern als Repräsentanten Deutschlands oder Österreichs gelten.
Tiefer persönlicher Riss
Für Serhij Osatschuk ist Deutschland seit Studienzeiten untrennbarer Teil seines Lebens – auch wenn für ihn immer klar war, dass er in seiner Heimatstadt Czernowitz bleiben wollte. Er studierte Geschichte in Konstanz und München, forschte dort für seine Promotion, schloss Freundschaften, die bis heute bestehen. Auch seine Frau und seine beiden Söhne sprechen sehr gut Deutsch, die Familie ist regelmäßig in Deutschland und in Österreich. Osatschuk arbeitete neben seiner Tätigkeit als Historiker an der Universität Czernowitz lange Zeit als Dolmetscher, beriet Wirtschaftsverbände und die Czernowitzer Stadtführung bei Fragen der Kooperation mit Deutschland, war fünf Jahre lang österreichischer Honorarkonsul.
Wie die falschen Priester in der Kirche
Wenn er über all das erzählt, spürt man, was Deutschland ihm bisher bedeutet hat: Es war Vorbild, Sehnsuchtsort und Kompass für eine europäische Ukraine. Doch dieses Gefühl hat für ihn seit dem Beginn des Krieges einen Riss bekommen. Wie tief er ist, ahnt man bei der Frage, ob es ihn schmerzt, dass die Regierung jenes Landes, das seine persönliche Identität so sehr geprägt hat, seiner Heimat Ukraine jetzt nur sehr zögerlich beisteht. Osatschuk senkt den Blick bei der Frage, er muss Tränen unterdrücken.
Nach einer langen Pause sagt er: “Das ganze Putinverstehertum in Deutschland hat nichts gebracht. Die Lösung kann nur ein Putin-freies Europa sei. Aber viele deutsche Politiker sind wie die falschen Priester in der Kirche, die Wasser predigen und Wein trinken. Man kann sich schmücken mit Worten über europäische Werte, doch in Wirklichkeit wird gelebt nach dem Prinzip, sich mit dem Stärkeren zusammenzutun, und das ist in diesem Fall Putin. Dabei sind wir doch Menschen. Wir möchten leben. Wir haben ein Recht darauf, nicht bombardiert, vernichtet und massakriert zu werden.”
Ganz ähnlich empfindet es auch die Czernowitzer Germanistin und Literaturwissenschaftlerin Oksana Matijtschuk, 45, die ebenfalls lange Zeit in Deutschland studiert und geforscht hat und heute die ukrainisch-deutsche Kulturgesellschaft Tscherniwzi an der Universität ihrer Heimatstadt leitet. “Ich habe inzwischen ein gespaltenes Verhältnis zu Deutschland”, sagt sie im Gespräch mit der DW. “Einerseits kommt viel Hilfe aus der Zivilgesellschaft, andererseits ist die Haltung der deutschen Regierung eine große Enttäuschung. Ich denke, in Deutschland gibt es das Problem einer falsch verstandenen historischen Verantwortung. Vielleicht, und das ist ein schlimmer Verdacht, sind aber auch einfach Geschäfte wichtiger als Menschenleben.”
Vorwurfsvolle Fragen
Unter Erklärungsdruck gerate sie in ihrem Freundes- und Bekanntenkreis nicht, sagt Oksana Matijtschuk. “Aber mir haben Bekannte schon sarkastisch gesagt, wenn ich schon so viele persönliche Verbindungen nach Deutschland hätte, sollte ich all den Leuten dort doch mal unsere Lage erklären.”
Anders ergeht es Mykola Kuschnir, 48, Historiker und Leiter des jüdischen Museums Czernowitz. Er war in den 1990er Jahren ebenfalls zu Studien- und Forschungsaufenthalten in Deutschland und musste sich seit Kriegsbeginn schon viele vorwurfsvolle Fragen anhören. “Dass ich eine besondere Liebe für Deutschland und die deutsche Sprache habe, wissen meine Freunde und Bekannten”, sagt Kuschnir der DW. “Manche stellen mir jetzt die Frage, wie ich überhaupt noch mit meinen deutschen Bekannten und Kollegen Kontakt halten könne. Oder sie sagen: Siehst du, wie ‘deine’ Deutschen sich verhalten?!”
Die würdigen Helfer
Er sei selbst traurig über die zögerliche Haltung der deutschen Politik in der Frage der militärischen Unterstützung für die Ukraine, sagt Kuschnir, allerdings kenne er den Hintergrund der komplizierten deutschen Befindlichkeiten. “Viele Menschen in der Ukraine verstehen das aber nicht, und sie stellen mir ganz simple Fragen: Warum hast du überhaupt noch Freunde in Deutschland? Oder: Warum brichst du die Kontakte nicht ab? Das macht mein Leben zur Zeit manchmal schwierig.”
Im Büro von Serhij Osatschuk ist es inzwischen stockdunkel. Das Gesicht des Gouverneurs lässt sich auf dem PC-Bildschirm nur noch schemenhaft erkennen. Aufgehoben ist der Bombenalarm an diesem Abend noch nicht, vielleicht wird er die ganze Nacht andauern.
Es ist Zeit für Serhij Osatschuk, endlich auch den Luftschutzkeller aufzusuchen. Am Ende des Gesprächs sagt er etwas, das einem fast die Schamesröte ins Gesicht treibt. “Wir erhalten viel Unterstützung von anderen Staaten, nicht nur aus Ländern wie den USA oder Großbritannien, sondern auch von kleineren Staaten wie den baltischen oder Rumänien. Eines Tages werden sie alle neben uns in Würde stehen und sagen können: Wir haben euch geholfen, unser aller Freiheit, unser europäisches Haus zu verteidigen. Aber das starke Deutschland wird nicht dabei sein. Es wird ohne Würde dastehen, weil es sich versteckte und Angst hatte, uns zu helfen.”