Spektakuläre Entlassungen in der Ukraine: Business as usual?
Erst die Abberufungen mehrerer Botschafter, dann die Entlassung zweier hoher Staatsbeamter. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj greift durch. Was bedeuten diese Personalentscheidungen?
“Verräter”, “Kollaborateure”, “Überläufer”. Mehr als 650 Ukrainern wurde in den vergangenen vier Kriegsmonaten dieser Vorwurf gemacht. Dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj wurde das schließlich zu viel. Er klagte allein über 60 Staatsbeamte, die in den von den Russen besetzten Gebieten geblieben seien und jetzt gegen den ukrainischen Staat arbeiteten: “Die nachgewiesenen Verbindungen zwischen den Mitarbeitern der ukrainischen Sicherheitskräfte und den Geheimdiensten Russlands stellen die zuständigen Chefs vor sehr ernste Fragen”, tobte der ukrainische Präsident. Selenskyj zog die Reißleine und feuerte per Dekret eben diese Chefs: Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa und den Leiter des ukrainischen Geheimdiensts SBU, Iwan Bakanow.
Die Entlassung Bakanows ist besonders brisant, gilt er doch als Jugendfreund und langjähriger Wegbegleiter Selenskyjs. Vor seiner Ernennung zum SBU-Chef hatte Bakanow keinerlei Geheimdiensterfahrung; vielmehr leitete er die politische Kabarettgruppe und spätere TV-Produktionsfirma Studio Kwartal 95, deren Hauptdarsteller Selenskyj selbst war.
“Verräter”, “Kollaborateure”, “Überläufer”. Mehr als 650 Ukrainern wurde in den vergangenen vier Kriegsmonaten dieser Vorwurf gemacht. Dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj wurde das schließlich zu viel. Er klagte allein über 60 Staatsbeamte, die in den von den Russen besetzten Gebieten geblieben seien und jetzt gegen den ukrainischen Staat arbeiteten: “Die nachgewiesenen Verbindungen zwischen den Mitarbeitern der ukrainischen Sicherheitskräfte und den Geheimdiensten Russlands stellen die zuständigen Chefs vor sehr ernste Fragen”, tobte der ukrainische Präsident. Selenskyj zog die Reißleine und feuerte per Dekret eben diese Chefs: Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa und den Leiter des ukrainischen Geheimdiensts SBU, Iwan Bakanow.
Während die beiden Entlassungen sowie die vorangegangenen Abberufungen mehrerer Botschafter im Ausland für Stirnrunzeln sorgten, dürften sie in der Ukraine wohl kaum jemanden gewundert haben.
Personalrochaden als “logische Konsequenz”?
Seit langem habe er Beschwerden über die Arbeit des Sicherheitsdienstes und Verräter in den eigenen Reihen erhalten, berichtet Roman Kostenko, Abgeordneter der proeuropäischen Mitte-Rechtspartei Golos und Sekretär des parlamentarischen Ausschusses für nationale Sicherheit, gegenüber der DW. Die Rede sei insbesondere vom Ex-Chef der Hauptabteilung Innere Sicherheit des SBU, Brigadegeneral Andrij Naumow gewesen, der unter Bakanow eine Blitzkarriere machte und am 23. Februar, einen Tag vor Kriegsbeginn, aus der Ukraine floh. “Wir sehen, wie es endete – er floh aus dem Land und wurde irgendwo in Serbien mit gewaschenen Geldern erwischt”, so Kostenko. Zudem sollen seit Kriegsbeginn mehrere hochrangige SBU-Mitarbeiter in der Südukraine mit den Russen zusammengearbeitet, der unerfahrene Bakanow also zumindest seinen Laden nicht umfassend im Griff gehabt haben.
Der stellvertretende Leiter des Präsidialamtes, Andrij Smirnow, verteidigt gegenüber der DW die Personalentscheidungen seines Chefs Selenskyj als “unvermeidlich in Kriegszeiten”. Smirnow erwähnt Mitschnitte von Telefongesprächen der beschuldigten Beamten, die als Beweise gölten. Der ukrainische Politikwissenschaftler Petro Okhotin relativiert im Gespräch mit der DW, es gehe nicht um Entlassungen, sondern um vorübergehende Suspendierungen und darum, “dass Selenskyj das Vertrauen in die betreffenden Gremien verloren hat. Jetzt sollte eine Untersuchung durchgeführt werden, warum Kollaborationen in so wichtigen Strukturen wie dem SBU und der Generalstaatsanwaltschaft stattfinden.” Okhotin schließt nicht aus, dass die suspendierten Staatsdiener eines Tages in ihre Ämter zurückkehren.
Ihm widerspricht die Expertin der Antikorruptionsorganisation Transparency International, Kateryna Ryzhenko. Sie befürchtet, dass die Suspendierung des SBU-Chefs und der Generalstaatsanwältin die beiden Behörden nicht besser mache. “Sowohl die Öffentlichkeit als auch die Staatsanwaltschaft hat noch einige offene Fragen an Herrn Bakanow und Frau Wenediktowa. Bis jetzt löst ihre Entlassung die Probleme (von Korruption und Kollaboration – Anm. d. Red.) nicht.”
Diese Probleme sieht der ukrainische Publizist Wolodymyr Fesenko insbesondere bei der Gegenspionage des ukrainischen Geheimdienstes SBU. Dort finde derzeit “eine Art Säuberung” statt, erklärte er gegenüber der DW. “Das heißt aber nicht, dass alle, die dort ausgetauscht werden, russische Spione und Verräter sind. Wir haben es hier eher mit konkreten Vorwürfen der Ineffektivität zu tun.”
Gefragt nach einer Strategie, die der ukrainische Präsident mit den spektakulären Entlassungen verfolgt, spielt Fesenko die Situation herunter. Es handele sich um eine “situative Entscheidung, die durch bestimmte Umstände verursacht wurde – durch die Personalfehler des Ex-Leiters der SBU”. Der Politikwissenschaftler erinnert ebenfalls an die Flucht des stellvertretenden SBU-Chefs Naumow in den ersten Tagen des Krieges.
Auch hinter der Entlassung der Generalstaatsanwältin Wenediktowa sollte man keine besondere Linie sehen, so Fesenko. Es sei bereits der dritte Wechsel in den vergangenen drei Jahren und dies habe viel mit innenpolitischen Ränkespielen zu tun: “Die Staatsanwaltschaft wurde in den vergangenen Jahren stets von politischen Vertretern geleitet, die ihre eigenen politischen Interessen verfolgten”, so Fesenko. “Das ist ein allgemeines Problem der ukrainischen Innenpolitik.”
Der ukrainische Politologe Petro Okhotin schleißt ebenfalls einen besonderen Hintergedanken Selenskyjs aus: “In Kriegszeiten kann es keine langfristigen Strategien geben, weil es unmöglich ist, viele Aspekte gleichzeitig durchzurechnen.” Die Führung des ukrainischen Staats ähnele vielmehr zur Zeit der Führung der Militäreinheiten, bei der es um konkrete taktische Aufgaben gehe. Je nachdem, wie gut diese Aufgaben gelöst würden, würden auch die zuständigen “Dienstpersonen” bewertet.
“Verräter”, “Kollaborateure”, “Überläufer”. Mehr als 650 Ukrainern wurde in den vergangenen vier Kriegsmonaten dieser Vorwurf gemacht. Dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj wurde das schließlich zu viel. Er klagte allein über 60 Staatsbeamte, die in den von den Russen besetzten Gebieten geblieben seien und jetzt gegen den ukrainischen Staat arbeiteten: “Die nachgewiesenen Verbindungen zwischen den Mitarbeitern der ukrainischen Sicherheitskräfte und den Geheimdiensten Russlands stellen die zuständigen Chefs vor sehr ernste Fragen”, tobte der ukrainische Präsident. Selenskyj zog die Reißleine und feuerte per Dekret eben diese Chefs: Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa und den Leiter des ukrainischen Geheimdiensts SBU, Iwan Bakanow.
Die Entlassung Bakanows ist besonders brisant, gilt er doch als Jugendfreund und langjähriger Wegbegleiter Selenskyjs. Vor seiner Ernennung zum SBU-Chef hatte Bakanow keinerlei Geheimdiensterfahrung; vielmehr leitete er die politische Kabarettgruppe und spätere TV-Produktionsfirma Studio Kwartal 95, deren Hauptdarsteller Selenskyj selbst war.
Personalrochaden als “logische Konsequenz”?
Während die beiden Entlassungen sowie die vorangegangenen Abberufungen mehrerer Botschafter im Ausland für Stirnrunzeln sorgten, dürften sie in der Ukraine wohl kaum jemanden gewundert haben.
Seit langem habe er Beschwerden über die Arbeit des Sicherheitsdienstes und Verräter in den eigenen Reihen erhalten, berichtet Roman Kostenko, Abgeordneter der proeuropäischen Mitte-Rechtspartei Golos und Sekretär des parlamentarischen Ausschusses für nationale Sicherheit, gegenüber der DW. Die Rede sei insbesondere vom Ex-Chef der Hauptabteilung Innere Sicherheit des SBU, Brigadegeneral Andrij Naumow gewesen, der unter Bakanow eine Blitzkarriere machte und am 23. Februar, einen Tag vor Kriegsbeginn, aus der Ukraine floh. “Wir sehen, wie es endete – er floh aus dem Land und wurde irgendwo in Serbien mit gewaschenen Geldern erwischt”, so Kostenko. Zudem sollen seit Kriegsbeginn mehrere hochrangige SBU-Mitarbeiter in der Südukraine mit den Russen zusammengearbeitet, der unerfahrene Bakanow also zumindest seinen Laden nicht umfassend im Griff gehabt haben.
Der stellvertretende Leiter des Präsidialamtes, Andrij Smirnow, verteidigt gegenüber der DW die Personalentscheidungen seines Chefs Selenskyj als “unvermeidlich in Kriegszeiten”. Smirnow erwähnt Mitschnitte von Telefongesprächen der beschuldigten Beamten, die als Beweise gölten. Der ukrainische Politikwissenschaftler Petro Okhotin relativiert im Gespräch mit der DW, es gehe nicht um Entlassungen, sondern um vorübergehende Suspendierungen und darum, “dass Selenskyj das Vertrauen in die betreffenden Gremien verloren hat. Jetzt sollte eine Untersuchung durchgeführt werden, warum Kollaborationen in so wichtigen Strukturen wie dem SBU und der Generalstaatsanwaltschaft stattfinden.” Okhotin schließt nicht aus, dass die suspendierten Staatsdiener eines Tages in ihre Ämter zurückkehren.
Ihm widerspricht die Expertin der Antikorruptionsorganisation Transparency International, Kateryna Ryzhenko. Sie befürchtet, dass die Suspendierung des SBU-Chefs und der Generalstaatsanwältin die beiden Behörden nicht besser mache. “Sowohl die Öffentlichkeit als auch die Staatsanwaltschaft hat noch einige offene Fragen an Herrn Bakanow und Frau Wenediktowa. Bis jetzt löst ihre Entlassung die Probleme (von Korruption und Kollaboration – Anm. d. Red.) nicht.”
Korrupt und ineffektiv?
Diese Probleme sieht der ukrainische Publizist Wolodymyr Fesenko insbesondere bei der Gegenspionage des ukrainischen Geheimdienstes SBU. Dort finde derzeit “eine Art Säuberung” statt, erklärte er gegenüber der DW. “Das heißt aber nicht, dass alle, die dort ausgetauscht werden, russische Spione und Verräter sind. Wir haben es hier eher mit konkreten Vorwürfen der Ineffektivität zu tun.”
Gefragt nach einer Strategie, die der ukrainische Präsident mit den spektakulären Entlassungen verfolgt, spielt Fesenko die Situation herunter. Es handele sich um eine “situative Entscheidung, die durch bestimmte Umstände verursacht wurde – durch die Personalfehler des Ex-Leiters der SBU”. Der Politikwissenschaftler erinnert ebenfalls an die Flucht des stellvertretenden SBU-Chefs Naumow in den ersten Tagen des Krieges.
Auch hinter der Entlassung der Generalstaatsanwältin Wenediktowa sollte man keine besondere Linie sehen, so Fesenko. Es sei bereits der dritte Wechsel in den vergangenen drei Jahren und dies habe viel mit innenpolitischen Ränkespielen zu tun: “Die Staatsanwaltschaft wurde in den vergangenen Jahren stets von politischen Vertretern geleitet, die ihre eigenen politischen Interessen verfolgten”, so Fesenko. “Das ist ein allgemeines Problem der ukrainischen Innenpolitik.”
Der ukrainische Politologe Petro Okhotin schleißt ebenfalls einen besonderen Hintergedanken Selenskyjs aus: “In Kriegszeiten kann es keine langfristigen Strategien geben, weil es unmöglich ist, viele Aspekte gleichzeitig durchzurechnen.” Die Führung des ukrainischen Staats ähnele vielmehr zur Zeit der Führung der Militäreinheiten, bei der es um konkrete taktische Aufgaben gehe. Je nachdem, wie gut diese Aufgaben gelöst würden, würden auch die zuständigen “Dienstpersonen” bewertet.