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Raubt der VAR dem Fußball die Momente?

Vor fünf Jahren wird der Video Assistant Referee (VAR) in der Bundesliga zum ersten Mal eingesetzt. Ist der Fußball seitdem wirklich gerechter geworden? Oder dient der VAR einem anderen Zweck?

Über der ausverkauften Münchener Arena sind dicke Wolken zu sehen. Regen ist angekündigt. Zum Eröffnungsspiel der Saison 2017/18 empfängt Bayern München Bayer 04 Leverkusen. Für das Spiel ist der erste Einsatz des Video Assistant Referees (VAR) geplant, der die Schiedsrichter auf dem Feld unterstützen soll. Und der erste Einsatz kommt schneller als gedacht. Bereits in der neunten Spielminute zappelt der Ball im Netz. Niklas Süle erzielt mit dem Kopf  einen Treffer. Der Rekordmeister geht in Führung. Oder doch nicht? Der Treffer wird durch  den VAR überprüft –  mit dem Ergebnis: Das Tor zählt. Es ist die Bundesliga-Premiere des neu eingeführten VAR.

Das ist fünf Jahre her. Seitdem machte der mittlerweile so berühmte wie gefürchtete “Kölner Keller” 527 Mal (Stand: 18.08.2022) auf sich aufmerksam. Das geht aus einer Erhebung hervor, die der Deutsche Fußball-Bund (DFB) erstellt hat. Auch im Eröffnungsspiel gibt es gleich viel zu tun. Der ersten Tor-Überprüfung folgt noch eine weitere –  und erstmals auch eine Korrektur durch den VAR. Robert Lewandowski geht nach einem Griff an seine Schulter von Charles Aranguiz zu Boden.

Über der ausverkauften Münchener Arena sind dicke Wolken zu sehen. Regen ist angekündigt. Zum Eröffnungsspiel der Saison 2017/18 empfängt Bayern München Bayer 04 Leverkusen. Für das Spiel ist der erste Einsatz des Video Assistant Referees (VAR) geplant, der die Schiedsrichter auf dem Feld unterstützen soll. Und der erste Einsatz kommt schneller als gedacht. Bereits in der neunten Spielminute zappelt der Ball im Netz. Niklas Süle erzielt mit dem Kopf  einen Treffer. Der Rekordmeister geht in Führung. Oder doch nicht? Der Treffer wird durch  den VAR überprüft –  mit dem Ergebnis: Das Tor zählt. Es ist die Bundesliga-Premiere des neu eingeführten VAR.

Schiedsrichter Tobias Stieler lässt das Spiel zunächst weiterlaufen, dann bekommt er ein Signal und schaut sich die Situation noch einmal an. Stieler entscheidet auf Elfmeter – Lewandowski verwandelt. “Fußball ist immer auch mit Fehlentscheidungen des Schiedsrichters verbunden. Dann regt man sich zwar auf, aber es gehört eben dazu”, sagt Sig Zelt vom Bündnis “ProFans” der DW: “Solche Diskussionen sind Teil des Sports. Und das durch immer kompliziertere Techniken auszubremsen und vermeiden zu wollen, macht den Fußball nicht mehr attraktiv.”

Erste Überprüfung im Eröffnungsspiel

Auch fünf Jahre nach seiner Einführung bleibt der VAR ein Reizthema. Vor allem die aktive Fanszene lehnt den Videobeweis ab. Und das hat vor allem emotionale Gründe. “Früher ist ein Tor gefallen, man hat kurz zum Linienrichter geschaut, ob es abseits war. War das nicht der Fall, hat man gejubelt”, erinnert sich Zelt. Heute wisse man nicht genau, ob man sich freuen kann oder nicht. “Wenn man erst zwei Minuten später jubeln darf”, so Zelt, sei dieser besondere Moment vorbei.

Die große Hoffnung des DFB und der Deutschen Fußball-Liga (DFL), den Fußball durch den Einsatz des VAR gerechter zu machen, hat sich bisher nur teilweise erfüllt. Auch wenn viele Fehlentscheidungen durch den Videobeweis korrigiert wurden, so gibt es immer wieder Situationen, die die Fans und auch manch einen Verantwortlichen schier in den “Wahnsinn” treiben.

Lauter Kaufhaus-Detektive säßen da im Keller, immer auf der Suche nach einem bisher unentdeckten Vergehen, schimpfte jüngst Schalkes Sportvorstand Peter Knäbel nach einer Roten Karte gegen Dominick Drexler in der Begegnung beim 1. FC Köln. Der Schalker Spieler hatte seinen Gegenspieler in einem Zweikampf unabsichtlich an der Wade getroffen und wurde erst nach Ansicht der VAR-Bilder vom Platz gestellt – und mit zwei Spielen Sperre belegt.

Tatsächlich bleibt das von Knäbel beschriebene Empfinden die größte Problematik beim VAR. Aus dem Keller soll nur bei klaren Fehlentscheidungen eingegriffen werden. Doch wann eine vorliegt, darüber gibt es auch nach fünf Jahren höchst unterschiedliche Ansichten. Und genau das ist das Problem. Es fehlt an einer klaren Linie, mit deren Hilfe den Schiedsrichtern der Umgang mit dem VAR vorgegeben wird.

Ex-Schiedsrichter Manuel Gräfe kritisiert, dass es insgesamt zu viele und klare Fehlentscheidungen von den Schiedsrichtern gebe. Und er stellt die Qualität der handelnden Personen indirekt in Frage. “Da sind wir wieder beim Leistungsprinzip, das seit Langem bei der DFB-Schiedsrichterführung leider hinten ansteht. Früher, bei den Bossen Fandel und Krug, heute bei Fröhlich, Meyer und Drees”, sagt der 48-Jährige. Die Beurteilung der gleichen Spielszenen führt teils zu dramatisch unterschiedlichen Beurteilungen. 

Gräfe fordert im TV-Sender Sport1 eine “offene, ehrliche und auch kritische sowie konstruktive” Analyse der aktuellen Situation im deutschen Schiedsrichterwesen. Denn in erster Linie “geht es um die Entscheidungsqualität des Schiedsrichters. Er muss das Spiel sauber leiten”, so Gräfe: “Wenn es nach fünf Jahren VAR immer noch so bescheiden läuft”, müssten sich die Verantwortlichen auch mal der Verantwortung stellen.

Ist der Fußball also wirklich gerechter geworden? Oder steckt hinter der Einführung des VAR vielleicht eine ganz andere Idee? “Wir argwöhnen, dass der VAR nicht wegen der Gerechtigkeit des Sports eingeführt wurde, sondern um den Kapitaleinsatz zu sichern”, sagt Fansprecher Zelt. Die Fan-Szene vermutet und befürchtet, dass Kapitalgeber zunehmend bestrebt sind “Momente des Zufälligen möglichst auszuschalten, um den Kapitaleinsatz abzusichern”. Strittige Szenen, aus denen ein Tor fällt und somit Spiele auch manchmal zu nicht erwartbaren Ergebnissen führen, sollen demnach vermieden werden. Der Fußball solle dadurch planbarerer gemacht werden – so ein Vorwurf der organisierten Fanszene.

Die durch den DFB vorgelegten Zahlen zeigen auf, dass das Millionengeschäft Fußball durch den VAR gerechter geworden ist. In der abgelaufenen Bundesligasaison (2012/22) griff der VAR 116 Mal ins Spielgeschehen ein. Laut DFB-Statistik hat der “Kölner Keller” dabei in 14 Fällen fehlerhaft agiert. Die überwiegende Mehrzahl der Entscheidungen war demnach korrekt. Die Verantwortlichen sehen sich daher bestätigt und wollen die Taktzahl der Eingriffe sogar noch erhöhen. “Es gibt eher die Tendenz, über fehlende Intervention nachzudenken als über übertriebene Intervention”, sagt Schiedsrichter-Chef Lutz Michael Fröhlich.

Richtige oder falsche Entscheidung? Für die organisierte Fanszene geht es dagegen um ganz andere Dinge. “Ein Großteil der Fans ist sehr deutlich gegen den Videobeweis”, sagt Zelt und ergänzt: “Der geringe Gewinn an mehr Gerechtigkeit steht in keinem Verhältnis zum Verlust an Emotionen.” Auch die Vorsitzende der Fan-Organisation “Unsere Kurve”, Helen Breit, meint, dass die Einführung des Video-Schiedsrichters ein Fehler gewesen sei. “Bei uns ist das Meinungsbild einhellig: Wir können auf den Videobeweis verzichten”, sagt Breit: “Die untersuchte Spielsituation ist im Stadion nicht nachvollziehbar und zerstört die Emotionen beim Torjubel.”

Auch fünf Jahre nach der Einführung bleiben die Diskussion hitzig und die Kritik groß. Doch der VAR wird bleiben. Genauso wie die Pfiffe aus den Stadion-Kurven, wenn der Videobeweis wieder einmal zum Einsatz kommt. “So ist das kein Sport für die Zuschauer”, sagt Zelt. “Aber für wen soll der Profisport denn sein, wenn nicht für die Zuschauer?”

Schiedsrichter Robert Hartmann (li.) sieht sich noch einmal eine strittige Szene an
Schiedsrichter Manuel Gräfe betrachtet eine strittige Szene am Bildschirm

Über der ausverkauften Münchener Arena sind dicke Wolken zu sehen. Regen ist angekündigt. Zum Eröffnungsspiel der Saison 2017/18 empfängt Bayern München Bayer 04 Leverkusen. Für das Spiel ist der erste Einsatz des Video Assistant Referees (VAR) geplant, der die Schiedsrichter auf dem Feld unterstützen soll. Und der erste Einsatz kommt schneller als gedacht. Bereits in der neunten Spielminute zappelt der Ball im Netz. Niklas Süle erzielt mit dem Kopf  einen Treffer. Der Rekordmeister geht in Führung. Oder doch nicht? Der Treffer wird durch  den VAR überprüft –  mit dem Ergebnis: Das Tor zählt. Es ist die Bundesliga-Premiere des neu eingeführten VAR.

Das ist fünf Jahre her. Seitdem machte der mittlerweile so berühmte wie gefürchtete “Kölner Keller” 527 Mal (Stand: 18.08.2022) auf sich aufmerksam. Das geht aus einer Erhebung hervor, die der Deutsche Fußball-Bund (DFB) erstellt hat. Auch im Eröffnungsspiel gibt es gleich viel zu tun. Der ersten Tor-Überprüfung folgt noch eine weitere –  und erstmals auch eine Korrektur durch den VAR. Robert Lewandowski geht nach einem Griff an seine Schulter von Charles Aranguiz zu Boden.

Erste Überprüfung im Eröffnungsspiel

Schiedsrichter Tobias Stieler lässt das Spiel zunächst weiterlaufen, dann bekommt er ein Signal und schaut sich die Situation noch einmal an. Stieler entscheidet auf Elfmeter – Lewandowski verwandelt. “Fußball ist immer auch mit Fehlentscheidungen des Schiedsrichters verbunden. Dann regt man sich zwar auf, aber es gehört eben dazu”, sagt Sig Zelt vom Bündnis “ProFans” der DW: “Solche Diskussionen sind Teil des Sports. Und das durch immer kompliziertere Techniken auszubremsen und vermeiden zu wollen, macht den Fußball nicht mehr attraktiv.”

Auch fünf Jahre nach seiner Einführung bleibt der VAR ein Reizthema. Vor allem die aktive Fanszene lehnt den Videobeweis ab. Und das hat vor allem emotionale Gründe. “Früher ist ein Tor gefallen, man hat kurz zum Linienrichter geschaut, ob es abseits war. War das nicht der Fall, hat man gejubelt”, erinnert sich Zelt. Heute wisse man nicht genau, ob man sich freuen kann oder nicht. “Wenn man erst zwei Minuten später jubeln darf”, so Zelt, sei dieser besondere Moment vorbei.

Die große Hoffnung des DFB und der Deutschen Fußball-Liga (DFL), den Fußball durch den Einsatz des VAR gerechter zu machen, hat sich bisher nur teilweise erfüllt. Auch wenn viele Fehlentscheidungen durch den Videobeweis korrigiert wurden, so gibt es immer wieder Situationen, die die Fans und auch manch einen Verantwortlichen schier in den “Wahnsinn” treiben.

Lauter Kaufhaus-Detektive säßen da im Keller, immer auf der Suche nach einem bisher unentdeckten Vergehen, schimpfte jüngst Schalkes Sportvorstand Peter Knäbel nach einer Roten Karte gegen Dominick Drexler in der Begegnung beim 1. FC Köln. Der Schalker Spieler hatte seinen Gegenspieler in einem Zweikampf unabsichtlich an der Wade getroffen und wurde erst nach Ansicht der VAR-Bilder vom Platz gestellt – und mit zwei Spielen Sperre belegt.

Macht der VAR den Fußball gerechter?

Tatsächlich bleibt das von Knäbel beschriebene Empfinden die größte Problematik beim VAR. Aus dem Keller soll nur bei klaren Fehlentscheidungen eingegriffen werden. Doch wann eine vorliegt, darüber gibt es auch nach fünf Jahren höchst unterschiedliche Ansichten. Und genau das ist das Problem. Es fehlt an einer klaren Linie, mit deren Hilfe den Schiedsrichtern der Umgang mit dem VAR vorgegeben wird.

Qualität der Schiedsrichter nicht ausreichend

Ex-Schiedsrichter Manuel Gräfe kritisiert, dass es insgesamt zu viele und klare Fehlentscheidungen von den Schiedsrichtern gebe. Und er stellt die Qualität der handelnden Personen indirekt in Frage. “Da sind wir wieder beim Leistungsprinzip, das seit Langem bei der DFB-Schiedsrichterführung leider hinten ansteht. Früher, bei den Bossen Fandel und Krug, heute bei Fröhlich, Meyer und Drees”, sagt der 48-Jährige. Die Beurteilung der gleichen Spielszenen führt teils zu dramatisch unterschiedlichen Beurteilungen. 

Gräfe fordert im TV-Sender Sport1 eine “offene, ehrliche und auch kritische sowie konstruktive” Analyse der aktuellen Situation im deutschen Schiedsrichterwesen. Denn in erster Linie “geht es um die Entscheidungsqualität des Schiedsrichters. Er muss das Spiel sauber leiten”, so Gräfe: “Wenn es nach fünf Jahren VAR immer noch so bescheiden läuft”, müssten sich die Verantwortlichen auch mal der Verantwortung stellen.

Ist der Fußball also wirklich gerechter geworden? Oder steckt hinter der Einführung des VAR vielleicht eine ganz andere Idee? “Wir argwöhnen, dass der VAR nicht wegen der Gerechtigkeit des Sports eingeführt wurde, sondern um den Kapitaleinsatz zu sichern”, sagt Fansprecher Zelt. Die Fan-Szene vermutet und befürchtet, dass Kapitalgeber zunehmend bestrebt sind “Momente des Zufälligen möglichst auszuschalten, um den Kapitaleinsatz abzusichern”. Strittige Szenen, aus denen ein Tor fällt und somit Spiele auch manchmal zu nicht erwartbaren Ergebnissen führen, sollen demnach vermieden werden. Der Fußball solle dadurch planbarerer gemacht werden – so ein Vorwurf der organisierten Fanszene.

Manuel Gräfe fordert “offene und kritische Analyse”

Die durch den DFB vorgelegten Zahlen zeigen auf, dass das Millionengeschäft Fußball durch den VAR gerechter geworden ist. In der abgelaufenen Bundesligasaison (2012/22) griff der VAR 116 Mal ins Spielgeschehen ein. Laut DFB-Statistik hat der “Kölner Keller” dabei in 14 Fällen fehlerhaft agiert. Die überwiegende Mehrzahl der Entscheidungen war demnach korrekt. Die Verantwortlichen sehen sich daher bestätigt und wollen die Taktzahl der Eingriffe sogar noch erhöhen. “Es gibt eher die Tendenz, über fehlende Intervention nachzudenken als über übertriebene Intervention”, sagt Schiedsrichter-Chef Lutz Michael Fröhlich.

Richtige oder falsche Entscheidung? Für die organisierte Fanszene geht es dagegen um ganz andere Dinge. “Ein Großteil der Fans ist sehr deutlich gegen den Videobeweis”, sagt Zelt und ergänzt: “Der geringe Gewinn an mehr Gerechtigkeit steht in keinem Verhältnis zum Verlust an Emotionen.” Auch die Vorsitzende der Fan-Organisation “Unsere Kurve”, Helen Breit, meint, dass die Einführung des Video-Schiedsrichters ein Fehler gewesen sei. “Bei uns ist das Meinungsbild einhellig: Wir können auf den Videobeweis verzichten”, sagt Breit: “Die untersuchte Spielsituation ist im Stadion nicht nachvollziehbar und zerstört die Emotionen beim Torjubel.”

Taktzahl des VAR soll erhöht werden

Auch fünf Jahre nach der Einführung bleiben die Diskussion hitzig und die Kritik groß. Doch der VAR wird bleiben. Genauso wie die Pfiffe aus den Stadion-Kurven, wenn der Videobeweis wieder einmal zum Einsatz kommt. “So ist das kein Sport für die Zuschauer”, sagt Zelt. “Aber für wen soll der Profisport denn sein, wenn nicht für die Zuschauer?”

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