Abdulrazak Gurnah über Flucht, Migration und die Schriftstellerei
Als der Tansanier 2021 den Literarturnobelpreis erhielt, war keines seiner Bücher auf Deutsch lieferbar. Mit der DW spricht er über seinen neu aufgelegten Roman “Ferne Gestade” und sein literarisches Selbstverständnis.
In seinen Roman nimmt der 1948 im Sultanat Sansibar geborene Abdulrazak Gurnah die Leser mit auf Reisen: Es sind Geschichten voll Sehnsucht, Poesie und dem Wunsch nach Veränderung. Gurnah erzählt vom Aufbrechen und Ankommen zwischen Ländern, Kontinenten und Identitäten. In jedem seiner Romane steckt auch ein Stück seiner eigenen Geschichte.
Der vielseitige Autor war zwölf, als Tansania die Unabhängigkeit erreichte. Während der tansanische Präsident Julius Nyerere sozialistisch eingestellt war, betrieb Sansibars lokaler Herrscher Abeid Karume eine grausame Afrikanisierung der Insel und hatte es vor allem auf den arabischstämmigen Teil der Bevölkerung abgesehen. Gurnah, der arabische Vorfahren hatte, floh 1968 ins englische Exil, studierte am Christ Church College in Canterbury und erwarb einen Abschluss der Universität London. Zuletzt lehrte er an der University of Kent englische und postkoloniale Literatur.
In seinen Roman nimmt der 1948 im Sultanat Sansibar geborene Abdulrazak Gurnah die Leser mit auf Reisen: Es sind Geschichten voll Sehnsucht, Poesie und dem Wunsch nach Veränderung. Gurnah erzählt vom Aufbrechen und Ankommen zwischen Ländern, Kontinenten und Identitäten. In jedem seiner Romane steckt auch ein Stück seiner eigenen Geschichte.
Als Abdulrazak Gurnah 2021 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wird, ist keiner seiner zehn Romane auf Deutsch lieferbar. Mittlerweile sind zwei wieder im erhältlich: “Das verlorene Paradies” und der jüngst in überarbeiteter Fassung erschiene “Ferne Gestade”. Seine Romane wurden bislang noch nicht in seine Muttersprache Suaheli übersetzt.
DW: Herr Gurnah, Ihr Roman “Ferne Gestade” ist gerade in Deutschland neu aufgelegt worden, welches Kernthema behandeln Sie hier?
Abdulrazak Gurnah: In dem Buch geht es um zwei Menschen, die beide ursprünglich aus Sansibar stammen, einer viel älter als der andere, und die sich in England wiederfinden. Jeder erzählt separat seine Geschichte und irgendwann treffen sie aufeinander. Es stellt sich heraus, dass sie sich von früher kennen.
In dem Roman geht es auch darum, wie Familien funktionieren, dass sie sich mintunter uneinig sind und sich streiten. Es geht auch darum, wie Menschen von denen, die an der Macht sind, missbraucht werden. Aber ich glaube, vor allem geht es darum, wie widerstandsfähig die Menschen sind und dass sie in der Lage sind, ihr Leben wiederaufzubauen, obwohl sie traumatisiert und missbraucht wurden.
Zu Beginn des Buches treffen wir eine der Hauptfiguren, Saleh Omar, am Londoner Flughafen Gatwick. Er ist aus Sansibar geflohen und sucht Zuflucht in Großbritannien. Sie haben das Gleiche vor mehr als 50 Jahren getan. Was haben Sie damals erlebt?
Wie das damals war? Ich war ein 18-jähriger junger Mann, der Sansibar verließ, in dem Zustand, in dem Sansibar 1967 war: Für viele Menschen war es ein schrecklicher Ort. Unsere Regierung, unsere Behörden waren immer noch aus verschiedenen Gründen erfüllt von Rachsucht und Wut gegen die gesamte Bevölkerung, so scheint es mir. Viele Menschen wurden buchstäblich vertrieben.
Andere wiederum gingen, weil ihre Eltern verfolgt oder inhaftiert oder in einigen Fällen getötet wurden, aber manchmal auch einfach, weil sie [die Regierung] allen Angst machte. Die Behörden hatten auf diese Weise wirklich ihren Spaß. Und ich glaube, wenn man jung ist, denkt man: “Das lasse ich mir nicht gefallen. Ich habe etwas besseres verdient. Ich will hier nicht mit diesen Tyrannen festsitzen.” Das waren in etwa meine Gedanken damals.
Aber was man in solchen Situationen nicht weiß, ist, was man eigentlich aufgibt, wenn man es tut. Das, was man zurücklässt. Nach England zu gehen, war also in gewisser Weise ein Abenteuer, aber es war auch ein großer Verlust.
Sie leben nun schon seit mehr als fünf Jahrzehnten in Großbritannien. Empfinden Sie sich als britischer oder als afrikanischer Autor?
Nun, ich kenne meine Identität: Ich bin ein Mann aus Sansibar, der in Großbritannien lebt und schreibt. Das ist meine Identität. Ich sage nicht, dass ich ein afrikanischer Schriftsteller bin oder ein britischer Schriftsteller oder was auch immer. Ich stamme aus Sansibar und lebe im Vereinigten Königreich. Ich komme aus beiden Orten, auf jede erdenkliche Art und Weise. Und wer auch immer einen treffenderen Ausdruck oder eine genauere Beschreibung für mich finden möchte, kann das tun. Wenn Identität eine Möglichkeit ist, das Wesen einer Person auf etwas Einfacheres zu reduzieren, interessiert mich das persönlich nicht. Aber ich möchte niemandem dieses Vergnügen verwehren.
Warum haben Sie sich entschieden, auf Englisch zu schreiben?
Nun, zunächst einmal die einfache Antwort: Weil ich es wollte. Und nun die etwas kompliziertere: Weil es eine Sprache ist, die ich durch Zufall erlernt habe, und in der ich mich sehr wohl fühle. Suaheli wurde mir durch meine Erziehung in die Wiege gelegt, und dafür bin ich sehr dankbar.
Als ich mit dem Schreiben anfing, habe ich nicht wirklich darüber nachgedacht, in welcher Sprache ich schreiben wollte. Ich verstand und wusste, dass ich eine enge Verbindung und Beziehung zur englischen Sprache hatte, die ich beim Schreiben von Suaheli nicht hatte. Menschen, die auf Suaheli schreiben, machen Dinge mit ihrer Sprache, die ich nicht kann.
Man hat nicht immer die Wahl. Man entscheidet sich etwa nicht dafür, Schriftsteller zu werden. Ich glaube nicht, dass es bestimmte Voraussetzungen geben muss, damit man sagen kann: Ich schreibe etwas, und das ist für Dich interessant. Es geht nicht nur darum, Wörter zusammenzusetzen. Es geht darum, eine echte Verbindung und ein intimes Gespür für Sprache zu haben. Und das macht meiner Meinung nach das Schreiben aus. Und das hatte ich und ich bin dankbar dafür.
Wichtige Literaturpreise gingen 2021 an Autoren aus Subsahara-Afrika: Sie erhielten den Nobelpreis für Literatur, Mohamed Mbougar Sarr etwa den Prix Goncourt. Zeigt sich daran, dass die Welt nun empfänglicher ist für afrikanische Stimmen?
Ich denke, es ist Zufall, dass im vergangenen Jahr ein Goncourt an einen afrikanischen Schriftsteller verliehen wurde und der Nobelpreis an einen ostafrikanischen Schriftsteller und so weiter. Würde man etwas anderes behaupten, impliziert das, dass der Grund dafür darin liegt, dass die jeweiligen Jurys irgendwie auf diese Romane aufmerksam geworden sind, was die Leistung des Schreibens selbst schmälern würde. In gewisser Weise wird es zu einer Leistung der Juroren, dass sie den Wert dieser Arbeiten erkannt haben. Ich denke, das geht an der Sache vorbei. Ich denke, der Grund für die Verleihung dieser Preise ist die Qualität der Texte. Und deshalb sage ich, dass es Zufall ist. Es ist nicht so, dass die Welt jetzt aufgewacht ist.
Blickt man zurück in die Geschichte, so wurde afrikanischen Autoren in der Kolonialzeit geradezu die Fähigkeit abgesprochen, Werke von literarischem Wert zu erschaffen. Dennoch diente Literatur beziehungsweise das Schreiben im Allgemeinem im Kampf für die Entkolonialisierung. Könnten Sie einige Beispiele dafür nennen?
Sie können viele Beispiele dafür anführen: In der Zeit der Entkolonialisierung in Afrika haben sich viele Menschen auf Gandhi berufen oder auch auf Bürgerrechtsführer wie Martin Luther King oder südafrikanische Schriftsteller wie Nelson Mandela. Es ist also das Schreiben und seine Fähigkeit, sich über die Grenzen hinaus zu verbreiten, das dann Menschen erreicht, die sich in einer ähnlichen Situation befinden, die dadurch aufgeklärt, erleuchtet und inspiriert werden, und die darin ein Beispiel dafür sehen, was sie tun könnten.
In seinen Roman nimmt der 1948 im Sultanat Sansibar geborene Abdulrazak Gurnah die Leser mit auf Reisen: Es sind Geschichten voll Sehnsucht, Poesie und dem Wunsch nach Veränderung. Gurnah erzählt vom Aufbrechen und Ankommen zwischen Ländern, Kontinenten und Identitäten. In jedem seiner Romane steckt auch ein Stück seiner eigenen Geschichte.
Der vielseitige Autor war zwölf, als Tansania die Unabhängigkeit erreichte. Während der tansanische Präsident Julius Nyerere sozialistisch eingestellt war, betrieb Sansibars lokaler Herrscher Abeid Karume eine grausame Afrikanisierung der Insel und hatte es vor allem auf den arabischstämmigen Teil der Bevölkerung abgesehen. Gurnah, der arabische Vorfahren hatte, floh 1968 ins englische Exil, studierte am Christ Church College in Canterbury und erwarb einen Abschluss der Universität London. Zuletzt lehrte er an der University of Kent englische und postkoloniale Literatur.
Als Abdulrazak Gurnah 2021 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wird, ist keiner seiner zehn Romane auf Deutsch lieferbar. Mittlerweile sind zwei wieder im erhältlich: “Das verlorene Paradies” und der jüngst in überarbeiteter Fassung erschiene “Ferne Gestade”. Seine Romane wurden bislang noch nicht in seine Muttersprache Suaheli übersetzt.
DW: Herr Gurnah, Ihr Roman “Ferne Gestade” ist gerade in Deutschland neu aufgelegt worden, welches Kernthema behandeln Sie hier?
Abdulrazak Gurnah: In dem Buch geht es um zwei Menschen, die beide ursprünglich aus Sansibar stammen, einer viel älter als der andere, und die sich in England wiederfinden. Jeder erzählt separat seine Geschichte und irgendwann treffen sie aufeinander. Es stellt sich heraus, dass sie sich von früher kennen.
In dem Roman geht es auch darum, wie Familien funktionieren, dass sie sich mintunter uneinig sind und sich streiten. Es geht auch darum, wie Menschen von denen, die an der Macht sind, missbraucht werden. Aber ich glaube, vor allem geht es darum, wie widerstandsfähig die Menschen sind und dass sie in der Lage sind, ihr Leben wiederaufzubauen, obwohl sie traumatisiert und missbraucht wurden.
Zu Beginn des Buches treffen wir eine der Hauptfiguren, Saleh Omar, am Londoner Flughafen Gatwick. Er ist aus Sansibar geflohen und sucht Zuflucht in Großbritannien. Sie haben das Gleiche vor mehr als 50 Jahren getan. Was haben Sie damals erlebt?
Wie das damals war? Ich war ein 18-jähriger junger Mann, der Sansibar verließ, in dem Zustand, in dem Sansibar 1967 war: Für viele Menschen war es ein schrecklicher Ort. Unsere Regierung, unsere Behörden waren immer noch aus verschiedenen Gründen erfüllt von Rachsucht und Wut gegen die gesamte Bevölkerung, so scheint es mir. Viele Menschen wurden buchstäblich vertrieben.
Andere wiederum gingen, weil ihre Eltern verfolgt oder inhaftiert oder in einigen Fällen getötet wurden, aber manchmal auch einfach, weil sie [die Regierung] allen Angst machte. Die Behörden hatten auf diese Weise wirklich ihren Spaß. Und ich glaube, wenn man jung ist, denkt man: “Das lasse ich mir nicht gefallen. Ich habe etwas besseres verdient. Ich will hier nicht mit diesen Tyrannen festsitzen.” Das waren in etwa meine Gedanken damals.
Aber was man in solchen Situationen nicht weiß, ist, was man eigentlich aufgibt, wenn man es tut. Das, was man zurücklässt. Nach England zu gehen, war also in gewisser Weise ein Abenteuer, aber es war auch ein großer Verlust.
Sie leben nun schon seit mehr als fünf Jahrzehnten in Großbritannien. Empfinden Sie sich als britischer oder als afrikanischer Autor?
Nun, ich kenne meine Identität: Ich bin ein Mann aus Sansibar, der in Großbritannien lebt und schreibt. Das ist meine Identität. Ich sage nicht, dass ich ein afrikanischer Schriftsteller bin oder ein britischer Schriftsteller oder was auch immer. Ich stamme aus Sansibar und lebe im Vereinigten Königreich. Ich komme aus beiden Orten, auf jede erdenkliche Art und Weise. Und wer auch immer einen treffenderen Ausdruck oder eine genauere Beschreibung für mich finden möchte, kann das tun. Wenn Identität eine Möglichkeit ist, das Wesen einer Person auf etwas Einfacheres zu reduzieren, interessiert mich das persönlich nicht. Aber ich möchte niemandem dieses Vergnügen verwehren.
Warum haben Sie sich entschieden, auf Englisch zu schreiben?
Nun, zunächst einmal die einfache Antwort: Weil ich es wollte. Und nun die etwas kompliziertere: Weil es eine Sprache ist, die ich durch Zufall erlernt habe, und in der ich mich sehr wohl fühle. Suaheli wurde mir durch meine Erziehung in die Wiege gelegt, und dafür bin ich sehr dankbar.
Als ich mit dem Schreiben anfing, habe ich nicht wirklich darüber nachgedacht, in welcher Sprache ich schreiben wollte. Ich verstand und wusste, dass ich eine enge Verbindung und Beziehung zur englischen Sprache hatte, die ich beim Schreiben von Suaheli nicht hatte. Menschen, die auf Suaheli schreiben, machen Dinge mit ihrer Sprache, die ich nicht kann.
Man hat nicht immer die Wahl. Man entscheidet sich etwa nicht dafür, Schriftsteller zu werden. Ich glaube nicht, dass es bestimmte Voraussetzungen geben muss, damit man sagen kann: Ich schreibe etwas, und das ist für Dich interessant. Es geht nicht nur darum, Wörter zusammenzusetzen. Es geht darum, eine echte Verbindung und ein intimes Gespür für Sprache zu haben. Und das macht meiner Meinung nach das Schreiben aus. Und das hatte ich und ich bin dankbar dafür.
Wichtige Literaturpreise gingen 2021 an Autoren aus Subsahara-Afrika: Sie erhielten den Nobelpreis für Literatur, Mohamed Mbougar Sarr etwa den Prix Goncourt. Zeigt sich daran, dass die Welt nun empfänglicher ist für afrikanische Stimmen?
Ich denke, es ist Zufall, dass im vergangenen Jahr ein Goncourt an einen afrikanischen Schriftsteller verliehen wurde und der Nobelpreis an einen ostafrikanischen Schriftsteller und so weiter. Würde man etwas anderes behaupten, impliziert das, dass der Grund dafür darin liegt, dass die jeweiligen Jurys irgendwie auf diese Romane aufmerksam geworden sind, was die Leistung des Schreibens selbst schmälern würde. In gewisser Weise wird es zu einer Leistung der Juroren, dass sie den Wert dieser Arbeiten erkannt haben. Ich denke, das geht an der Sache vorbei. Ich denke, der Grund für die Verleihung dieser Preise ist die Qualität der Texte. Und deshalb sage ich, dass es Zufall ist. Es ist nicht so, dass die Welt jetzt aufgewacht ist.
Blickt man zurück in die Geschichte, so wurde afrikanischen Autoren in der Kolonialzeit geradezu die Fähigkeit abgesprochen, Werke von literarischem Wert zu erschaffen. Dennoch diente Literatur beziehungsweise das Schreiben im Allgemeinem im Kampf für die Entkolonialisierung. Könnten Sie einige Beispiele dafür nennen?
Sie können viele Beispiele dafür anführen: In der Zeit der Entkolonialisierung in Afrika haben sich viele Menschen auf Gandhi berufen oder auch auf Bürgerrechtsführer wie Martin Luther King oder südafrikanische Schriftsteller wie Nelson Mandela. Es ist also das Schreiben und seine Fähigkeit, sich über die Grenzen hinaus zu verbreiten, das dann Menschen erreicht, die sich in einer ähnlichen Situation befinden, die dadurch aufgeklärt, erleuchtet und inspiriert werden, und die darin ein Beispiel dafür sehen, was sie tun könnten.