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Interview: Lässt sich der Krieg zähmen?

Regeln im Krieg durchzusetzen ist fast ebenso schwierig, wie Kriege überhaupt zu verhindern. Die DW sprach darüber mit dem Militärhistoriker Takuma Melber.

DW: In einem exklusiven Interview mit der DW erklärte Andrei Fedorow, der ehemalige Vize-Außenminister Russlands, kurz nach Bekanntwerden der Gräueltaten von Butscha: Das sei eben Krieg. Stimmt es, dass Krieg immer Krieg bleibt und dass es keine Unterschiede gibt?

Takuma Melber: Nein, so einfach kann man es sich natürlich nicht machen, wie das hier von russischer Seite geäußert wurde. Das Kriegsrecht hat sich im Laufe der Zeit sehr stark verändert. Wobei das moderne Kriegsrecht vergleichsweise jung ist, das ist vielen vielleicht nicht bewusst. Die Verpflichtung zum Schutz der Zivilbevölkerung ist erst nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Modifizierung der Genfer Konventionen 1949 geregelt worden. Erst seitdem müssen Zivilpersonen einen gewissen Schutz erhalten und werden von Soldaten unterschieden. Hinzu kommt seitdem der Schutz von Frauen, insbesondere vor sexualisierter Gewalt, und die Übereinkunft, dass zivile Einrichtungen wie etwa Krankenhäuser keine legitimen Kriegsziele sind.

DW: In einem exklusiven Interview mit der DW erklärte Andrei Fedorow, der ehemalige Vize-Außenminister Russlands, kurz nach Bekanntwerden der Gräueltaten von Butscha: Das sei eben Krieg. Stimmt es, dass Krieg immer Krieg bleibt und dass es keine Unterschiede gibt?

Gemessen an diesen Verpflichtungen wurden in Butscha mit ziemlicher Sicherheit Kriegsverbrechen begangen, womöglich sogar mit genozidalem Charakter. Es wurden vor allem Zivilisten zu Opfern, aber genau das ist es, was das Kriegsrecht eigentlich leisten will: den Schutz von Zivilpersonen. 

Wunsch und Realität

Es gab und gibt viele Versuche, den Krieg Regeln zu unterwerfen. Die Genfer Konventionen haben Sie schon erwähnt, aber es gibt auch das Haager Abkommen, das Aspekte der Kriegsführung regelt, oder die Chemiewaffenkonvention, die unter anderem die Entwicklung, Herstellung, Lagerung und den Einsatz von Chemiewaffen untersagt. Wie erfolgreich waren diese Regeln und internationalen Abkommen?

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde unter anderem ein Verbot des Einsatzes chemischer und biologischer Waffen ausgesprochen, das war 1925. Und dennoch hat im Zweiten Weltkrieg beispielsweise Japan solche Waffen entwickelt und eingesetzt. Das Grundproblem ist dabei ja immer: Inwiefern werden solche Verstöße sanktioniert bzw. inwiefern können sie überhaupt sanktioniert werden?

Das kann im Rahmen der nationalen Gesetzgebung geschehen. Denken wir beispielsweise an die Roten Khmer in Kambodscha, durch deren Terror-Herrschaft von 1975 bis 1979 bis zu 2,2 Millionen Einwohner ums Leben kamen. Das völkerrechtliche Tribunal zur Aufarbeitung dieser Verbrechen wurde aber erst möglich, nachdem das Regime nicht mehr an der Macht war. Oder aber es geschieht im internationalen Kontext, etwa in Den Haag, wo beispielsweise den serbischen Führern Slobodan Milosevic und Radovan Karadzic wegen Völkermord und Kriegsverbrechen während der Jugoslawien-Kriege in den 1990er Jahren am Internationalen Strafgerichtshof der Prozess gemacht wurde.

Wir müssen uns aber eingestehen, dass es aktuell keinen Weg gibt, um Putin zu sanktionieren. Wenn überhaupt, wird es das nach dem Krieg geben. Bis dahin kann man nur versuchen darauf einzuwirken, dass sich die Gewaltspirale nicht noch stärker dreht.

Sanktionierung setzte also in der Regel die Niederlage der Täter voraus. Die Konventionen regeln also immer nur im Nachhinein etwas?

Nicht unbedingt. Das Abkommen zur Behandlung von Kriegsgefangenen während des Zweiten Weltkrieges hatte schon im Krieg eine Wirkung. Nach dem Ersten Weltkrieg gab es eine Einigung darüber, wie Kriegsgefangene behandelt werden sollten, und die USA und Großbritannien haben diese Vereinbarungen auch von wenigen Ausnahmen abgesehen befolgt. Allerdings hat sich Deutschland, obwohl es das Abkommen unterzeichnet hatte, ebenso wie Japan und die Sowjetunion, die nicht unterzeichnet hatten, nicht daran gehalten.

Auch wenn seit 1928 durch das sogenannte “Pariser Abkommen”, auch als Briand-Kellogg-Pakt bekannt – Unterzeichner waren unter anderem Deutschland und das Kaierreich Japan -, Angriffskriege geächtet und völkerrechtlich verboten sind, ist es in der Realität doch so, dass das Kriegsrecht in gewisser Weise eine Art Selbstverpflichtung ist. Es liegt in der Hand der Politiker und Militärs zu entscheiden, ob man sich daran halten möchte oder nicht.

Im Ukrainekrieg ist es ganz offensichtlich so, dass Wladimir Putin das Völkerrecht missachtet. Und mit Blick auf das Völkerrecht pickt er sich das heraus, was ihm gerade passt. Wenn sich Putin verbal verteidigen muss, verweist er etwa auf die USA, die sich in der Vergangenheit auch nicht völkerrechtskonform verhielten. Er beruft sich also auf das Völkerrecht, ohne sich bei seiner eigenen Kriegführung daran zu halten.

Gibt es bestimmte Gründe dafür, dass manche Kriegsparteien die Genfer Konventionen und das humanitäre Völkerrecht eher verletzen als andere?

Meiner Meinung nach hängt die Wahrscheinlichkeit, dass diese Konventionen eingehalten werden, vor allem mit dem ideologischen und politischen Hintergrund der kriegführenden Parteien zusammen. Die Geschichte zeigt, dass demokratisch verfasste Staaten, die einen starken Rechtsstaat und liberale Werte vertreten, sich eher an das Kriegsrecht halten als etwa autoritäre Staaten.

Was müsste sich ändern, damit Kriege effizienteren Regeln unterworfen werden können?

Die Idee, man müsse moderne Kriege Regeln unterwerfen, hat ja zwei Stoßrichtungen. Einmal gibt es Regeln für die Kriegshandlungen, das ius in bello. Was ist im Krieg erlaubt? Das ius ad bellum wiederum regelt das Davor. Wann ist ein Krieg moralisch gerechtfertigt und legitim?

Eigentlich muss es doch unser Ziel sein – und da waren wir in der Vergangenheit auch schon deutlich weiter -, den Krieg zu verhindern. Es war der russische Zar Nikolaus II., der die europäischen Mächte Ende des 19. Jahrhunderts an einen Tisch gebracht hat, um die erste internationale Friedenskonferenz in Den Haag abzuhalten, mit dem großen Ziel, Kriege zu verhindern. Es ist ein zivilisatorischer Rückschritt, dass wir nun wieder darüber sprechen müssen, nach welchen Regeln Kriege geführt werden sollten.

Was sehr wichtig ist, ist Sichtbarkeit. Der Grund, warum Fragen zum Kriegsrecht im 19. Jahrhundert überhaupt diskutiert wurden, war, dass die Kriege immer sichtbarer wurden. Es wurde mehr und ausführlicher über die Kriege und ihre Folgen berichtet. Der Vietnamkrieg war dann der erste medial umfassend begleitete Krieg. Und heute im Ukrainekrieg sind wir durch die sozialen Medien sozusagen live dabei. Ich halte das für zentral und da sehe ich auch die Medien in der Pflicht, dass man Ereignisse wie in Butscha ganz klar und deutlich anspricht. Die Botschaft an Wladimir Putin, an die Politiker und auch an die Militärs in Russland muss sein: Wir sehen, was passiert! Das sind Kriegsverbrechen, die ihr da begeht. Hört auf damit!

Wie Sie sagen, wäre es besser, den Krieg zu verhindern, als den Krieg zu regeln. Aber zugleich steigen die Militärausgaben weltweit. Deutschland hat eine “Zeitenwende” und 100 Milliarden zusätzlich für die Bundeswehr verkündet. Der Glaube, dass sich Kriege verhindern lassen, scheint ins Wanken geraten zu sein. Warum?

Das liegt daran, dass wir kein international anerkanntes Gremium, keine Institution haben, die das Mandat hat, den Krieg zu verhindern, und dies auch durchsetzen und sanktionieren kann. Nach dem Zweiten Weltkrieg hätte es theoretisch eine einmalige Chance gegeben eine solche Institution zu schaffen, aber der Kalte Krieg und die ideologischen Gegensätze haben das verhindert.

Der UN-Sicherheitsrat, der geschaffen wurde, um den Frieden zu sichern und Kriege zu verhindern, ist durch das Vetorecht der fünf ständigen Mitglieder blockiert. Bei Kriegsausbruch im Februar hatte Russland sogar den Vorsitz im Sicherheitsrat inne. Wer einen Weg findet, diese Blockade zu überwinden, hätte  meines Erachtens den Friedensnobelpreis verdient.

Takuma Melber

DW: In einem exklusiven Interview mit der DW erklärte Andrei Fedorow, der ehemalige Vize-Außenminister Russlands, kurz nach Bekanntwerden der Gräueltaten von Butscha: Das sei eben Krieg. Stimmt es, dass Krieg immer Krieg bleibt und dass es keine Unterschiede gibt?

Takuma Melber: Nein, so einfach kann man es sich natürlich nicht machen, wie das hier von russischer Seite geäußert wurde. Das Kriegsrecht hat sich im Laufe der Zeit sehr stark verändert. Wobei das moderne Kriegsrecht vergleichsweise jung ist, das ist vielen vielleicht nicht bewusst. Die Verpflichtung zum Schutz der Zivilbevölkerung ist erst nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Modifizierung der Genfer Konventionen 1949 geregelt worden. Erst seitdem müssen Zivilpersonen einen gewissen Schutz erhalten und werden von Soldaten unterschieden. Hinzu kommt seitdem der Schutz von Frauen, insbesondere vor sexualisierter Gewalt, und die Übereinkunft, dass zivile Einrichtungen wie etwa Krankenhäuser keine legitimen Kriegsziele sind.

Wunsch und Realität

Gemessen an diesen Verpflichtungen wurden in Butscha mit ziemlicher Sicherheit Kriegsverbrechen begangen, womöglich sogar mit genozidalem Charakter. Es wurden vor allem Zivilisten zu Opfern, aber genau das ist es, was das Kriegsrecht eigentlich leisten will: den Schutz von Zivilpersonen. 

Es gab und gibt viele Versuche, den Krieg Regeln zu unterwerfen. Die Genfer Konventionen haben Sie schon erwähnt, aber es gibt auch das Haager Abkommen, das Aspekte der Kriegsführung regelt, oder die Chemiewaffenkonvention, die unter anderem die Entwicklung, Herstellung, Lagerung und den Einsatz von Chemiewaffen untersagt. Wie erfolgreich waren diese Regeln und internationalen Abkommen?

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde unter anderem ein Verbot des Einsatzes chemischer und biologischer Waffen ausgesprochen, das war 1925. Und dennoch hat im Zweiten Weltkrieg beispielsweise Japan solche Waffen entwickelt und eingesetzt. Das Grundproblem ist dabei ja immer: Inwiefern werden solche Verstöße sanktioniert bzw. inwiefern können sie überhaupt sanktioniert werden?

Das kann im Rahmen der nationalen Gesetzgebung geschehen. Denken wir beispielsweise an die Roten Khmer in Kambodscha, durch deren Terror-Herrschaft von 1975 bis 1979 bis zu 2,2 Millionen Einwohner ums Leben kamen. Das völkerrechtliche Tribunal zur Aufarbeitung dieser Verbrechen wurde aber erst möglich, nachdem das Regime nicht mehr an der Macht war. Oder aber es geschieht im internationalen Kontext, etwa in Den Haag, wo beispielsweise den serbischen Führern Slobodan Milosevic und Radovan Karadzic wegen Völkermord und Kriegsverbrechen während der Jugoslawien-Kriege in den 1990er Jahren am Internationalen Strafgerichtshof der Prozess gemacht wurde.

“Wir sehen, was passiert!”

Wir müssen uns aber eingestehen, dass es aktuell keinen Weg gibt, um Putin zu sanktionieren. Wenn überhaupt, wird es das nach dem Krieg geben. Bis dahin kann man nur versuchen darauf einzuwirken, dass sich die Gewaltspirale nicht noch stärker dreht.

Sanktionierung setzte also in der Regel die Niederlage der Täter voraus. Die Konventionen regeln also immer nur im Nachhinein etwas?

Nicht unbedingt. Das Abkommen zur Behandlung von Kriegsgefangenen während des Zweiten Weltkrieges hatte schon im Krieg eine Wirkung. Nach dem Ersten Weltkrieg gab es eine Einigung darüber, wie Kriegsgefangene behandelt werden sollten, und die USA und Großbritannien haben diese Vereinbarungen auch von wenigen Ausnahmen abgesehen befolgt. Allerdings hat sich Deutschland, obwohl es das Abkommen unterzeichnet hatte, ebenso wie Japan und die Sowjetunion, die nicht unterzeichnet hatten, nicht daran gehalten.

Auch wenn seit 1928 durch das sogenannte “Pariser Abkommen”, auch als Briand-Kellogg-Pakt bekannt – Unterzeichner waren unter anderem Deutschland und das Kaierreich Japan -, Angriffskriege geächtet und völkerrechtlich verboten sind, ist es in der Realität doch so, dass das Kriegsrecht in gewisser Weise eine Art Selbstverpflichtung ist. Es liegt in der Hand der Politiker und Militärs zu entscheiden, ob man sich daran halten möchte oder nicht.

Im Ukrainekrieg ist es ganz offensichtlich so, dass Wladimir Putin das Völkerrecht missachtet. Und mit Blick auf das Völkerrecht pickt er sich das heraus, was ihm gerade passt. Wenn sich Putin verbal verteidigen muss, verweist er etwa auf die USA, die sich in der Vergangenheit auch nicht völkerrechtskonform verhielten. Er beruft sich also auf das Völkerrecht, ohne sich bei seiner eigenen Kriegführung daran zu halten.

Gibt es bestimmte Gründe dafür, dass manche Kriegsparteien die Genfer Konventionen und das humanitäre Völkerrecht eher verletzen als andere?

Meiner Meinung nach hängt die Wahrscheinlichkeit, dass diese Konventionen eingehalten werden, vor allem mit dem ideologischen und politischen Hintergrund der kriegführenden Parteien zusammen. Die Geschichte zeigt, dass demokratisch verfasste Staaten, die einen starken Rechtsstaat und liberale Werte vertreten, sich eher an das Kriegsrecht halten als etwa autoritäre Staaten.

Was müsste sich ändern, damit Kriege effizienteren Regeln unterworfen werden können?

Die Idee, man müsse moderne Kriege Regeln unterwerfen, hat ja zwei Stoßrichtungen. Einmal gibt es Regeln für die Kriegshandlungen, das ius in bello. Was ist im Krieg erlaubt? Das ius ad bellum wiederum regelt das Davor. Wann ist ein Krieg moralisch gerechtfertigt und legitim?

Eigentlich muss es doch unser Ziel sein – und da waren wir in der Vergangenheit auch schon deutlich weiter -, den Krieg zu verhindern. Es war der russische Zar Nikolaus II., der die europäischen Mächte Ende des 19. Jahrhunderts an einen Tisch gebracht hat, um die erste internationale Friedenskonferenz in Den Haag abzuhalten, mit dem großen Ziel, Kriege zu verhindern. Es ist ein zivilisatorischer Rückschritt, dass wir nun wieder darüber sprechen müssen, nach welchen Regeln Kriege geführt werden sollten.

Was sehr wichtig ist, ist Sichtbarkeit. Der Grund, warum Fragen zum Kriegsrecht im 19. Jahrhundert überhaupt diskutiert wurden, war, dass die Kriege immer sichtbarer wurden. Es wurde mehr und ausführlicher über die Kriege und ihre Folgen berichtet. Der Vietnamkrieg war dann der erste medial umfassend begleitete Krieg. Und heute im Ukrainekrieg sind wir durch die sozialen Medien sozusagen live dabei. Ich halte das für zentral und da sehe ich auch die Medien in der Pflicht, dass man Ereignisse wie in Butscha ganz klar und deutlich anspricht. Die Botschaft an Wladimir Putin, an die Politiker und auch an die Militärs in Russland muss sein: Wir sehen, was passiert! Das sind Kriegsverbrechen, die ihr da begeht. Hört auf damit!

Wie Sie sagen, wäre es besser, den Krieg zu verhindern, als den Krieg zu regeln. Aber zugleich steigen die Militärausgaben weltweit. Deutschland hat eine “Zeitenwende” und 100 Milliarden zusätzlich für die Bundeswehr verkündet. Der Glaube, dass sich Kriege verhindern lassen, scheint ins Wanken geraten zu sein. Warum?

Das liegt daran, dass wir kein international anerkanntes Gremium, keine Institution haben, die das Mandat hat, den Krieg zu verhindern, und dies auch durchsetzen und sanktionieren kann. Nach dem Zweiten Weltkrieg hätte es theoretisch eine einmalige Chance gegeben eine solche Institution zu schaffen, aber der Kalte Krieg und die ideologischen Gegensätze haben das verhindert.

Der UN-Sicherheitsrat, der geschaffen wurde, um den Frieden zu sichern und Kriege zu verhindern, ist durch das Vetorecht der fünf ständigen Mitglieder blockiert. Bei Kriegsausbruch im Februar hatte Russland sogar den Vorsitz im Sicherheitsrat inne. Wer einen Weg findet, diese Blockade zu überwinden, hätte  meines Erachtens den Friedensnobelpreis verdient.

Takuma Melber forscht am Heidelberg Center for Transcultural Studies. Sein Schwerpunkt ist Militärgeschichte, insbesondere in Asien.

Das Interview führte Rodion Ebbighausen.

Das Interview führte Rodion Ebbighausen.

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