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Roma-Politik in Ungarn: Korruption statt Repräsentation

Ungarns Roma leiden unter Ausgrenzung, Armut und Bildungsmangel. Doch viele Roma-Politiker sind in Konflikte und Korruption verstrickt, statt Abhilfe zu schaffen. Die Orban-Regierung befeuert das noch.

Abgeordnete, die sich lautstark ins Wort fallen, aufspringen, von Handgreiflichkeiten gerade noch abgehalten werden können – es sind tumultartige Szenen, die sich auf der Sitzung der Landesselbstverwaltung der ungarischen Roma (ORÖ) abspielen. Die Versammlung am 31. Januar 2022 war der letzte Versuch des Verbands, einen Kandidaten für die parlamentarische Vertretung der ungarischen Roma zu wählen. Wie jede anerkannte Minderheit in Ungarn haben sie das Recht, einen Repräsentanten ins Parlament zu schicken. Als die Sitzung um 23:59 Uhr beendet wird, steht fest: Die gesetzliche Frist ist abgelaufen – in der kommenden Legislaturperiode wird Ungarns offizieller Roma-Interessenverband keinen Vertreter ins Parlament entsenden.

Es ist ein weiterer Tiefpunkt in einem Konflikt, der den Verband seit langem spaltet. Auf der einen Seite steht dabei der regierungsunabhängige Bund junger Roma (Firosz), auf der anderen die Organisation Lungo Drom (Romanes für “der lange Weg”), die seit Jahren die rechtsnationale Regierungspartei Fidesz des Premiers Viktor Orban unterstützt. Die beiden Organisationen wollten auf der Sitzung jeweils ihren Kandidaten für die parlamentarische Vertretung der Roma durchbringen – am Ende gewann keiner.

Abgeordnete, die sich lautstark ins Wort fallen, aufspringen, von Handgreiflichkeiten gerade noch abgehalten werden können – es sind tumultartige Szenen, die sich auf der Sitzung der Landesselbstverwaltung der ungarischen Roma (ORÖ) abspielen. Die Versammlung am 31. Januar 2022 war der letzte Versuch des Verbands, einen Kandidaten für die parlamentarische Vertretung der ungarischen Roma zu wählen. Wie jede anerkannte Minderheit in Ungarn haben sie das Recht, einen Repräsentanten ins Parlament zu schicken. Als die Sitzung um 23:59 Uhr beendet wird, steht fest: Die gesetzliche Frist ist abgelaufen – in der kommenden Legislaturperiode wird Ungarns offizieller Roma-Interessenverband keinen Vertreter ins Parlament entsenden.

Zuvor hatte die Regierung von Viktor Orban offenbar versucht, mit zweifelhaften Mitteln den Sieg von Felix Farkas zu sichern, dem regierungstreuen Kandidaten. Attila Sztojka, der Roma-Beauftragte der Regierung, habe Vertretern von Lungo Drom für die Unterstützung ihres Kandidaten “Chancen” versprochen, berichtete die Tageszeitung Nepszava Anfang Januar 2022 unter Berufung auf heimlich mitgeschnittene Tonaufnahmen. Außerdem habe Sztojka gedroht: Als Mitarbeiter des Innenministeriums wisse er über jeden Bescheid.

“Chancen” und Drohungen

Letztlich wurde zwar gar kein Kandidat gewählt – doch ein Roma-Vertreter, der im Parlament möglicherweise gegen eine künftige Fidesz-Regierung stimmen könnte, wurde immerhin verhindert. Das könnte nach der Parlamentswahl am 3. April 2022 ein Vorteil sein für Fidesz: Umfragen zufolge dürfte sie so knapp ausfallen wie seit über 15 Jahren nicht mehr.

Der Fall verdeutlicht das Ausmaß der Missstände in der ungarischen Roma-Politik: Die Regierung ist bereit, für den Machterhalt den Boden der Rechtsstaatlichkeit zu verlassen. Sie kann dabei auf die Unterstützung von Teilen der Roma-Elite zählen. Und das, obwohl im Regierungslager immer wieder antiziganistische Töne zu hören sind.

Anfang 2020 etwa bezeichnete Orban gerichtlich angeordnete Entschädigungszahlungen an diskriminierte Roma als “ohne Arbeit erlangtes Geld”, das eine ethnische Gruppe bekäme, während andere hart arbeiteten. Über derartige Hetze sehen viele Roma-Funktionäre hinweg. Zahlreiche Affären zeigen: Die eigenen finanziellen Interessen stehen für viele von ihnen über den Bedürfnissen der Roma.

Dabei wäre eine effektive Politik zur Verbesserung der Lebensumstände ungarischer Roma dringend notwendig. Fast die Hälfte von ihnen lebt unter extrem prekären materiellen Bedingungen, Hass und Diskriminierung sind alltägliche Erfahrungen. Betroffen ist davon ein sehr großer Teil der schätzungsweise rund 900.000 Menschen mit Roma-Hintergrund, die laut einer Studie der Universität Debrecen in Ungarn leben. Das sind neun Prozent der Gesamtbevölkerung, womit Roma die größte Minderheit im Land stellen.

Dennoch finden Roma in der Politik kaum Gehör. Die Sitzverteilung im Parlament offenbart das gravierende Repräsentationsproblem: Unter 199 Abgeordneten findet sich nur ein einziger Rom – Florian Farkas von Lungo Drom sitzt in der Fidesz-Fraktion. Seine Bilanz der vergangenen zwei Legislaturperioden: keine einzige Wortmeldung, zahlreiche Korruptionsskandale. Unter anderem soll er, zusammen mit anderen Roma-Politikern, über fünf Millionen Euro aus EU-Förderprogrammen veruntreut haben.

Entsprechend ist Farkas’ Ansehen bei vielen Roma: “Es ist gleich Null”, sagt Bela Racz von der Initiative 1 Ungarn, die sich für die Rechte der Roma einsetzt. “Sein Name ist mittlerweile gleichbedeutend mit ‘dem korrupten Rom’, und er hat der Gemeinschaft sehr geschadet.” Farkas’ Sitz in der Fidesz-Fraktion hat das bisher nicht ernsthaft gefährdet, wohl auch, weil die Partei die Unterstützung von Lungo Drom nicht verlieren wollte.

Dabei geht es für Fidesz darum, sich Wählerstimmen zu sichern. Besonders in ärmeren Landesteilen gab es in der Vergangenheit immer wieder Berichte über versuchte Wählerbeeinflussung durch die Ausgabe von Lebensmitteln oder sogar von Bargeld an arme Menschen, darunter vor allem an Roma. In den so genannten kommunalen Arbeitsprogrammen, in denen Roma überproportional vertreten sind, soll die Regierung die Fortbeschäftigung an Wahlentscheidungen geknüpft haben. Solche Manipulationsversuche sind kein Alleinstellungsmerkmal des Orban-Staats. Schon bevor seine Partei 2010 die Macht übernahm, kam es immer wieder zu ähnlichen Vorfällen.

Der Blick auf Roma als “leicht mobilisierbare Wählergruppe” sei ein grundlegendes Problem der ungarischen Politik, so Balazs Dobos vom Institut für Minderheitenstudien am Zentrum für Sozialwissenschaft (TK) in Budapest. Die Parteien würden sich nur kurzfristig Stimmen aus der Roma-Community sichern wollen, statt tiefgreifende Veränderungen anzustreben. Zugleich nähmen sie oft auf Wähler mit romafeindlichen Einstellungen Rücksicht – denn Antiziganismus ist nach wie vor weit verbreitet in der ungarischen Gesellschaft.

Die vereinigte Opposition, die im April 2022 einen Regierungswechsel anstrebt, hat es bisher versäumt, sich als glaubwürdige Alternative für Ungarns Roma zu präsentieren. Das Parteienbündnis habe bisher noch keine konkreten Vorschläge vorgelegt, um die Lebensumstände der Roma zu verbessern, bemängelt der Aktivist Bela Racz. “Sie konnten sich noch nicht auf gemeinsame Positionen einigen, daher laufen auch unsere Vorschläge ins Leere.” Sein Fazit vor der Wahl: “Als Rom und als jemand, der für die Gemeinschaft arbeitet, sehe ich im Moment keine Partei oder Koalition, bei der ich guten Gewissens sagen würde: Die soll es sein.”

Vielen Roma in Ungarn dürfte es kurz vor der Wahl ähnlich gehen. Es weise zwar nichts darauf hin, dass das Interesse an Politik unter Roma generell niedriger sei als unter Nicht-Roma, sagt der Sozialwissenschaftler Dobos. Aber: “Der soziale und wirtschaftliche Kontext sowie die Diskriminierung tragen dazu bei, dass viele Roma Misstrauen, vielleicht sogar Enttäuschung gegenüber der Politik empfinden.” Die jüngsten Ereignisse werden daran wohl nicht viel ändern: Wie Florian Farkas musste auch Attila Sztojka bisher keine rechtlichen Konsequenzen für sein Handeln tragen.

Ungarn | Hauptsitz der Landesselbstverwaltung der ungarischen Roma in Budapest
Ungarn I Viktor Orban
Ungarn | Leben der Roma in Ungarn

Abgeordnete, die sich lautstark ins Wort fallen, aufspringen, von Handgreiflichkeiten gerade noch abgehalten werden können – es sind tumultartige Szenen, die sich auf der Sitzung der Landesselbstverwaltung der ungarischen Roma (ORÖ) abspielen. Die Versammlung am 31. Januar 2022 war der letzte Versuch des Verbands, einen Kandidaten für die parlamentarische Vertretung der ungarischen Roma zu wählen. Wie jede anerkannte Minderheit in Ungarn haben sie das Recht, einen Repräsentanten ins Parlament zu schicken. Als die Sitzung um 23:59 Uhr beendet wird, steht fest: Die gesetzliche Frist ist abgelaufen – in der kommenden Legislaturperiode wird Ungarns offizieller Roma-Interessenverband keinen Vertreter ins Parlament entsenden.

Es ist ein weiterer Tiefpunkt in einem Konflikt, der den Verband seit langem spaltet. Auf der einen Seite steht dabei der regierungsunabhängige Bund junger Roma (Firosz), auf der anderen die Organisation Lungo Drom (Romanes für “der lange Weg”), die seit Jahren die rechtsnationale Regierungspartei Fidesz des Premiers Viktor Orban unterstützt. Die beiden Organisationen wollten auf der Sitzung jeweils ihren Kandidaten für die parlamentarische Vertretung der Roma durchbringen – am Ende gewann keiner.

“Chancen” und Drohungen

Zuvor hatte die Regierung von Viktor Orban offenbar versucht, mit zweifelhaften Mitteln den Sieg von Felix Farkas zu sichern, dem regierungstreuen Kandidaten. Attila Sztojka, der Roma-Beauftragte der Regierung, habe Vertretern von Lungo Drom für die Unterstützung ihres Kandidaten “Chancen” versprochen, berichtete die Tageszeitung Nepszava Anfang Januar 2022 unter Berufung auf heimlich mitgeschnittene Tonaufnahmen. Außerdem habe Sztojka gedroht: Als Mitarbeiter des Innenministeriums wisse er über jeden Bescheid.

Letztlich wurde zwar gar kein Kandidat gewählt – doch ein Roma-Vertreter, der im Parlament möglicherweise gegen eine künftige Fidesz-Regierung stimmen könnte, wurde immerhin verhindert. Das könnte nach der Parlamentswahl am 3. April 2022 ein Vorteil sein für Fidesz: Umfragen zufolge dürfte sie so knapp ausfallen wie seit über 15 Jahren nicht mehr.

Der Fall verdeutlicht das Ausmaß der Missstände in der ungarischen Roma-Politik: Die Regierung ist bereit, für den Machterhalt den Boden der Rechtsstaatlichkeit zu verlassen. Sie kann dabei auf die Unterstützung von Teilen der Roma-Elite zählen. Und das, obwohl im Regierungslager immer wieder antiziganistische Töne zu hören sind.

Anfang 2020 etwa bezeichnete Orban gerichtlich angeordnete Entschädigungszahlungen an diskriminierte Roma als “ohne Arbeit erlangtes Geld”, das eine ethnische Gruppe bekäme, während andere hart arbeiteten. Über derartige Hetze sehen viele Roma-Funktionäre hinweg. Zahlreiche Affären zeigen: Die eigenen finanziellen Interessen stehen für viele von ihnen über den Bedürfnissen der Roma.

Antiziganismus im Regierungslager

Dabei wäre eine effektive Politik zur Verbesserung der Lebensumstände ungarischer Roma dringend notwendig. Fast die Hälfte von ihnen lebt unter extrem prekären materiellen Bedingungen, Hass und Diskriminierung sind alltägliche Erfahrungen. Betroffen ist davon ein sehr großer Teil der schätzungsweise rund 900.000 Menschen mit Roma-Hintergrund, die laut einer Studie der Universität Debrecen in Ungarn leben. Das sind neun Prozent der Gesamtbevölkerung, womit Roma die größte Minderheit im Land stellen.

Keine parlamentarische Repräsentation

Dennoch finden Roma in der Politik kaum Gehör. Die Sitzverteilung im Parlament offenbart das gravierende Repräsentationsproblem: Unter 199 Abgeordneten findet sich nur ein einziger Rom – Florian Farkas von Lungo Drom sitzt in der Fidesz-Fraktion. Seine Bilanz der vergangenen zwei Legislaturperioden: keine einzige Wortmeldung, zahlreiche Korruptionsskandale. Unter anderem soll er, zusammen mit anderen Roma-Politikern, über fünf Millionen Euro aus EU-Förderprogrammen veruntreut haben.

Entsprechend ist Farkas’ Ansehen bei vielen Roma: “Es ist gleich Null”, sagt Bela Racz von der Initiative 1 Ungarn, die sich für die Rechte der Roma einsetzt. “Sein Name ist mittlerweile gleichbedeutend mit ‘dem korrupten Rom’, und er hat der Gemeinschaft sehr geschadet.” Farkas’ Sitz in der Fidesz-Fraktion hat das bisher nicht ernsthaft gefährdet, wohl auch, weil die Partei die Unterstützung von Lungo Drom nicht verlieren wollte.

Dabei geht es für Fidesz darum, sich Wählerstimmen zu sichern. Besonders in ärmeren Landesteilen gab es in der Vergangenheit immer wieder Berichte über versuchte Wählerbeeinflussung durch die Ausgabe von Lebensmitteln oder sogar von Bargeld an arme Menschen, darunter vor allem an Roma. In den so genannten kommunalen Arbeitsprogrammen, in denen Roma überproportional vertreten sind, soll die Regierung die Fortbeschäftigung an Wahlentscheidungen geknüpft haben. Solche Manipulationsversuche sind kein Alleinstellungsmerkmal des Orban-Staats. Schon bevor seine Partei 2010 die Macht übernahm, kam es immer wieder zu ähnlichen Vorfällen.

Stimmenkauf und Wahlbeeinflussung

Der Blick auf Roma als “leicht mobilisierbare Wählergruppe” sei ein grundlegendes Problem der ungarischen Politik, so Balazs Dobos vom Institut für Minderheitenstudien am Zentrum für Sozialwissenschaft (TK) in Budapest. Die Parteien würden sich nur kurzfristig Stimmen aus der Roma-Community sichern wollen, statt tiefgreifende Veränderungen anzustreben. Zugleich nähmen sie oft auf Wähler mit romafeindlichen Einstellungen Rücksicht – denn Antiziganismus ist nach wie vor weit verbreitet in der ungarischen Gesellschaft.

Die vereinigte Opposition, die im April 2022 einen Regierungswechsel anstrebt, hat es bisher versäumt, sich als glaubwürdige Alternative für Ungarns Roma zu präsentieren. Das Parteienbündnis habe bisher noch keine konkreten Vorschläge vorgelegt, um die Lebensumstände der Roma zu verbessern, bemängelt der Aktivist Bela Racz. “Sie konnten sich noch nicht auf gemeinsame Positionen einigen, daher laufen auch unsere Vorschläge ins Leere.” Sein Fazit vor der Wahl: “Als Rom und als jemand, der für die Gemeinschaft arbeitet, sehe ich im Moment keine Partei oder Koalition, bei der ich guten Gewissens sagen würde: Die soll es sein.”

Opposition bietet kaum Alternativen für Roma

Vielen Roma in Ungarn dürfte es kurz vor der Wahl ähnlich gehen. Es weise zwar nichts darauf hin, dass das Interesse an Politik unter Roma generell niedriger sei als unter Nicht-Roma, sagt der Sozialwissenschaftler Dobos. Aber: “Der soziale und wirtschaftliche Kontext sowie die Diskriminierung tragen dazu bei, dass viele Roma Misstrauen, vielleicht sogar Enttäuschung gegenüber der Politik empfinden.” Die jüngsten Ereignisse werden daran wohl nicht viel ändern: Wie Florian Farkas musste auch Attila Sztojka bisher keine rechtlichen Konsequenzen für sein Handeln tragen.

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