Kultur

Inge Deutschkron: Erinnern als Lebensaufgabe

Viele Holocaust-Überlebende schwiegen ein Leben lang – nicht so Inge Deutschkron. Nun ist die Berliner Ehrenbürgerin im Alter von 99 Jahren in Berlin gestorben.

Es war Februar, in einem bitterkalten Berliner Winter Mitte der 1990er Jahre. Wir quetschten uns auf einen kleinen Balkon, weil die Aussicht über die schneebedeckten Dächer Berlins einen perfekten Hintergrund für das Fernsehinterview bot. Vor dem Objektiv des Kameramanns stand eine zierliche, sorgfältig und farbenfroh geschminkte Frau mit kurzem, schwarzem Haar: Inge Deutschkron, damals schon über 70 Jahre alt.

Sie erzählte uns Journalisten, wie sie als Zwanzigjährige von Berliner Freunden zwei Jahre lang versteckt worden war. So hatte sie den Nazi-Terror überlebt. Mir klapperten die Zähne. Inge Deutschkron nicht, die Eiseskälte machte ihr offensichtlich nichts aus.

Es war Februar, in einem bitterkalten Berliner Winter Mitte der 1990er Jahre. Wir quetschten uns auf einen kleinen Balkon, weil die Aussicht über die schneebedeckten Dächer Berlins einen perfekten Hintergrund für das Fernsehinterview bot. Vor dem Objektiv des Kameramanns stand eine zierliche, sorgfältig und farbenfroh geschminkte Frau mit kurzem, schwarzem Haar: Inge Deutschkron, damals schon über 70 Jahre alt.

Inge Deutschkron wurde am 23. August 1922 in Finsterwalde in Brandenburg geboren. Ihr Vater Martin Deutschkron, ein Gymnasiallehrer, war überzeugter Sozialdemokrat. Über Politik wurde zu Hause offen gesprochen. Als 1933 in Deutschland die Nationalsozialisten an die Macht kamen, nahm ihre Mutter Ella sie mit zu den Gegendemonstrationen von Sozialdemokraten und Kommunisten.

Zwei Jahre im Versteck

Als kurz darauf die ersten Scheiben jüdischer Geschäfte eingeschlagen wurden, eröffnete die Mutter ihr, dass sie Jüdin sei. Was das genau bedeutete, wusste Inge gar nicht, denn bisher hatte die Familie nicht religiös gelebt. „Und das Wichtigste, was sie dazu gesagt hat, war: Lass Dir nichts gefallen, wenn Du angegriffen wirst. Wehr dich!” erzählte sie 2013 in einem Interview.  Es wurde zu einem Leitsatz ihres Lebens: sich nichts gefallen lassen, sich einmischen, sich zu Wort melden.

Doch in den Jahren der NS-Diktatur war erst einmal Schweigen überlebenswichtig. Inge Deutschkrons Vater wurde als Jude aus dem Staatsdienst entlassen, 1939 gelang ihm die Emigration nach England. Doch als im September der Krieg begann, konnte er Frau und Tochter nicht mehr nachholen. Zwei Jahre lang wurden Inge und ihre Mutter von Freunden in Berlin und Potsdam versteckt. “Das waren Nichtjuden, einfache Handwerker, Rentnerinnen”, erzählte sie 2012 in einem DW-Interview. “Sie konnten diese Barbarei nicht ertragen und riskierten ihr Leben, um unseres zu retten.”

Inge und ihre Mutter gehörten zu den nur rund 1700 von einst 200.000 Berliner Juden, die den Holocaust in der Stadt versteckt überlebten. Wie, das schilderte sie in ihrem Buch “Ich trug den gelben Stern”. Das darauf basierende Theaterstück für Kinder “Ab heute heißt du Sara” steht bis heute auf den Spielplänen deutscher Theater.

1946, ein Jahr nach dem Ende des Krieges, zog Inge Deutschkron nach London. Sie studierte Sprachen und wurde Sekretärin bei der Sozialistischen Internationale. 1955 kehrte sie nach Deutschland zurück und arbeitete als freie Journalistin in Bonn. 1958 wechselte sie als Redakteurin zur israelischen Tageszeitung Ma‘ariw nach Jerusalem. Für Ma‘ariw nahm sie 1963 als Beobachterin am Frankfurter Auschwitz-Prozess teil. Drei Jahre später wurde sie israelische Staatsbürgerin und wanderte 1972 nach Israel aus.

Inge Deutschkron fühlte sich lange hin- und hergerissen:  zwischen Deutschland, wo es in der Nachkriegszeit noch immer viele Nazis gab, aber eben auch die von ihr „stille Helden” genannten Menschen, denen sie ihr Leben verdankte. Und Israel, ihrer Wahlheimat. Die erfolgreiche Journalistin und Buchautorin wurde zur Expertin für Nahost-Politik und internationale Beziehungen, immer wieder schrieb sie auch über das deutsch-israelische Verhältnis. Ihr 1983 erschienenes Buch “Israel und die Deutschen. Das schwierige Verhältnis”  wurde zum Standardwerk. 1988 kehrte sie endgültig nach Berlin zurück, wo sie bis zu ihrem Tod lebte.

Wie viele Überlebende wurde auch Inge Deutschkron das Schuldgefühl, überlebt zu haben als so viele starben, nicht los. 2013 hielt die 90-jährige die jährliche Rede anlässlich des Auschwitz-Gedenktags am 27. Januar. Genau 80 Jahre nach der Machtübernahme durch die Nazis erinnerte sie sich an die Zeit, in der Menschen um sie herum einfach verschwanden. “Des Nachts sah ich sie wieder vor mir, hörte nicht auf, an sie zu denken. Wo waren sie? Was tat man ihnen an?” sagte sie im Bundestag. “Mit welchem Recht versteckte ich mich, drückte ich mich vor einem Schicksal, das auch das meine hätte sein müssen? Dieses Gefühl von Schuld verfolgte mich, es ließ mich nie wieder los.” Und es war der Motor, ein Leben lang gegen das Vergessen zu kämpfen.

Das letzte Mal begegnete mir Inge Deutschkron wieder via Fernsehen. Diesmal auf dem Bildschirm.  Als Erzählerin führte sie im Januar 2014 durch einen Film, der ihre eigenen Erinnerungen aufgriff: “Ein blinder Held”. Der Film erzählte die Geschichte des Bürstenfabrikanten Otto Weidt, der seine jüdischen Angestellten von 1941 bis 1943 vor der Deportation bewahrt hatte. Inge Deutschkron war eine von ihnen.

Seit unserem Interview auf dem Balkon, fast zwanzig Jahre zuvor, hatte sie sich kaum verändert. Sie war nur etwas kleiner geworden, der Rücken krummer. Aber ihre Art lebendig zu erzählen war die gleiche geblieben: Gestikulierend und voller Humor, nie verbittert. Bis ins hohe Alter hielt sie Vorträge und besuchte Schulen, um jungen Menschen von ihrem Leben zu erzählen. Für ihren unermüdlichen Einsatz gegen das Vergessen erhielt Inge Deutschkron zahlreiche Auszeichnungen, unter anderem wurde sie 2018 zur Berliner Ehrenbürgerin ernannt.

Wenige Monate vor ihrem 100. Geburtstag ist die Holocaust-Überlebende nun in Berlin gestorben. Das bestätigte die Schwarzkopf-Stiftung Junges Europa unter Berufung auf ihr persönliches Umfeld.

Mit Inge Deutschkrons Tod ist eine weitere Stimme der Erinnerung verstummt.

Inge Deutschkron Ich trug den gelben Stern dtv Verlag

Es war Februar, in einem bitterkalten Berliner Winter Mitte der 1990er Jahre. Wir quetschten uns auf einen kleinen Balkon, weil die Aussicht über die schneebedeckten Dächer Berlins einen perfekten Hintergrund für das Fernsehinterview bot. Vor dem Objektiv des Kameramanns stand eine zierliche, sorgfältig und farbenfroh geschminkte Frau mit kurzem, schwarzem Haar: Inge Deutschkron, damals schon über 70 Jahre alt.

Sie erzählte uns Journalisten, wie sie als Zwanzigjährige von Berliner Freunden zwei Jahre lang versteckt worden war. So hatte sie den Nazi-Terror überlebt. Mir klapperten die Zähne. Inge Deutschkron nicht, die Eiseskälte machte ihr offensichtlich nichts aus.

Zwei Jahre im Versteck

Inge Deutschkron wurde am 23. August 1922 in Finsterwalde in Brandenburg geboren. Ihr Vater Martin Deutschkron, ein Gymnasiallehrer, war überzeugter Sozialdemokrat. Über Politik wurde zu Hause offen gesprochen. Als 1933 in Deutschland die Nationalsozialisten an die Macht kamen, nahm ihre Mutter Ella sie mit zu den Gegendemonstrationen von Sozialdemokraten und Kommunisten.

Als kurz darauf die ersten Scheiben jüdischer Geschäfte eingeschlagen wurden, eröffnete die Mutter ihr, dass sie Jüdin sei. Was das genau bedeutete, wusste Inge gar nicht, denn bisher hatte die Familie nicht religiös gelebt. „Und das Wichtigste, was sie dazu gesagt hat, war: Lass Dir nichts gefallen, wenn Du angegriffen wirst. Wehr dich!” erzählte sie 2013 in einem Interview.  Es wurde zu einem Leitsatz ihres Lebens: sich nichts gefallen lassen, sich einmischen, sich zu Wort melden.

Doch in den Jahren der NS-Diktatur war erst einmal Schweigen überlebenswichtig. Inge Deutschkrons Vater wurde als Jude aus dem Staatsdienst entlassen, 1939 gelang ihm die Emigration nach England. Doch als im September der Krieg begann, konnte er Frau und Tochter nicht mehr nachholen. Zwei Jahre lang wurden Inge und ihre Mutter von Freunden in Berlin und Potsdam versteckt. “Das waren Nichtjuden, einfache Handwerker, Rentnerinnen”, erzählte sie 2012 in einem DW-Interview. “Sie konnten diese Barbarei nicht ertragen und riskierten ihr Leben, um unseres zu retten.”

Inge und ihre Mutter gehörten zu den nur rund 1700 von einst 200.000 Berliner Juden, die den Holocaust in der Stadt versteckt überlebten. Wie, das schilderte sie in ihrem Buch “Ich trug den gelben Stern”. Das darauf basierende Theaterstück für Kinder “Ab heute heißt du Sara” steht bis heute auf den Spielplänen deutscher Theater.

Leben zwischen Deutschland und Israel

1946, ein Jahr nach dem Ende des Krieges, zog Inge Deutschkron nach London. Sie studierte Sprachen und wurde Sekretärin bei der Sozialistischen Internationale. 1955 kehrte sie nach Deutschland zurück und arbeitete als freie Journalistin in Bonn. 1958 wechselte sie als Redakteurin zur israelischen Tageszeitung Ma‘ariw nach Jerusalem. Für Ma‘ariw nahm sie 1963 als Beobachterin am Frankfurter Auschwitz-Prozess teil. Drei Jahre später wurde sie israelische Staatsbürgerin und wanderte 1972 nach Israel aus.

Inge Deutschkron fühlte sich lange hin- und hergerissen:  zwischen Deutschland, wo es in der Nachkriegszeit noch immer viele Nazis gab, aber eben auch die von ihr „stille Helden” genannten Menschen, denen sie ihr Leben verdankte. Und Israel, ihrer Wahlheimat. Die erfolgreiche Journalistin und Buchautorin wurde zur Expertin für Nahost-Politik und internationale Beziehungen, immer wieder schrieb sie auch über das deutsch-israelische Verhältnis. Ihr 1983 erschienenes Buch “Israel und die Deutschen. Das schwierige Verhältnis”  wurde zum Standardwerk. 1988 kehrte sie endgültig nach Berlin zurück, wo sie bis zu ihrem Tod lebte.

Wie viele Überlebende wurde auch Inge Deutschkron das Schuldgefühl, überlebt zu haben als so viele starben, nicht los. 2013 hielt die 90-jährige die jährliche Rede anlässlich des Auschwitz-Gedenktags am 27. Januar. Genau 80 Jahre nach der Machtübernahme durch die Nazis erinnerte sie sich an die Zeit, in der Menschen um sie herum einfach verschwanden. “Des Nachts sah ich sie wieder vor mir, hörte nicht auf, an sie zu denken. Wo waren sie? Was tat man ihnen an?” sagte sie im Bundestag. “Mit welchem Recht versteckte ich mich, drückte ich mich vor einem Schicksal, das auch das meine hätte sein müssen? Dieses Gefühl von Schuld verfolgte mich, es ließ mich nie wieder los.” Und es war der Motor, ein Leben lang gegen das Vergessen zu kämpfen.

Das letzte Mal begegnete mir Inge Deutschkron wieder via Fernsehen. Diesmal auf dem Bildschirm.  Als Erzählerin führte sie im Januar 2014 durch einen Film, der ihre eigenen Erinnerungen aufgriff: “Ein blinder Held”. Der Film erzählte die Geschichte des Bürstenfabrikanten Otto Weidt, der seine jüdischen Angestellten von 1941 bis 1943 vor der Deportation bewahrt hatte. Inge Deutschkron war eine von ihnen.

Seit unserem Interview auf dem Balkon, fast zwanzig Jahre zuvor, hatte sie sich kaum verändert. Sie war nur etwas kleiner geworden, der Rücken krummer. Aber ihre Art lebendig zu erzählen war die gleiche geblieben: Gestikulierend und voller Humor, nie verbittert. Bis ins hohe Alter hielt sie Vorträge und besuchte Schulen, um jungen Menschen von ihrem Leben zu erzählen. Für ihren unermüdlichen Einsatz gegen das Vergessen erhielt Inge Deutschkron zahlreiche Auszeichnungen, unter anderem wurde sie 2018 zur Berliner Ehrenbürgerin ernannt.

Wenige Monate vor ihrem 100. Geburtstag ist die Holocaust-Überlebende nun in Berlin gestorben. Das bestätigte die Schwarzkopf-Stiftung Junges Europa unter Berufung auf ihr persönliches Umfeld.

Mit Inge Deutschkrons Tod ist eine weitere Stimme der Erinnerung verstummt.

Deutschland Bundestag gedenkt Opfern des Nationalsozialismus Inge Deutschkron

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