Welt

Kriegsalltag in der Ukraine: Schäfchenwolken im Hinterland

Unser Korrespondent hat den Beginn des Kriegs in der Ukraine erlebt und ist seitdem in der Hauptstadt Kiew und in anderen Teilen des Landes unterwegs. Eindrücke vom Alltag im Krieg. Von Mathias Bölinger, Kiew.

Ein Erdgeschossfenster in Kiews Hipster-Bezirk Podil. “Glühwein, Kaffee, Tee”, steht auf einer Tafel daneben. Wein ist tabu, das Kriegsrecht verbietet den Verkauf von Alkohol. Aber Kaffee und Tee bietet der Mann weiterhin an. Wir staunen. “Wie schön, dass Sie noch hier sind“, sagen wir leicht ungläubig zu dem Verkäufer.  Der zuckt mit den Schultern. “Natürlich bin ich hier.” Dabei ist das alles andere als natürlich. Vor dem Krieg war Kiew übersät mit solchen kleinen Kaffeebuden. Jetzt sind sie geschlossen. Der Mann hinter dem Fenster ist ein Vorkriegsrelikt.

Wenn es etwas gibt an diesem Krieg, das schwer zu begreifen ist, dann ist das die Gleichzeitigkeit von Dingen, die nicht zusammenpassen: Stille und Gewalt, Alltag und Angst. Als die ersten russischen Bomben fielen, war ich gerade im Osten des Landes, im Donbass. Hier wird seit acht Jahren gekämpft. Im Anlauf zur großangelegten Invasion, die Putin plante, eskalierte hier die Gewalt. Dörfer, in denen es trotz des Konflikts jahrelang ruhig geblieben war, wurden plötzlich mit Granaten beschossen. Vielen Menschen war ein Gefühl von drohendem Unheil anzumerken. 

Ein Erdgeschossfenster in Kiews Hipster-Bezirk Podil. “Glühwein, Kaffee, Tee”, steht auf einer Tafel daneben. Wein ist tabu, das Kriegsrecht verbietet den Verkauf von Alkohol. Aber Kaffee und Tee bietet der Mann weiterhin an. Wir staunen. “Wie schön, dass Sie noch hier sind“, sagen wir leicht ungläubig zu dem Verkäufer.  Der zuckt mit den Schultern. “Natürlich bin ich hier.” Dabei ist das alles andere als natürlich. Vor dem Krieg war Kiew übersät mit solchen kleinen Kaffeebuden. Jetzt sind sie geschlossen. Der Mann hinter dem Fenster ist ein Vorkriegsrelikt.

“Zweimal ist die Front durch unser Dorf gekommen, aber so etwas haben wir noch nicht erlebt”, erzählte Olena Makarenko, eine Sozialarbeiterin im Dorf Wrubiwka, nahe deren Haus zwei Granaten eingeschlagen waren. Und ein angetrunkener Mann auf dem Stadtplatz von Kramatorsk orakelte düster, nun werde man bald einen richtigen Krieg haben – ganz so, als ob hier nicht seit acht Jahren gekämpft würde. Andere aber wischten die Gefahr beiseite. “Was soll da schon kommen?”, sagte ein Lokalpolitiker. “An den Krieg haben wir uns doch längst gewöhnt.”

Unwirkliche Gleichzeitigkeit

Mein Kollege Nick Conolly war an dem Morgen im Nachtzug unterwegs, um mich dort abzulösen. Ich hatte ein Zugticket nach Kiew für den Nachmittag. Mitten in der Nacht rief Nick an. “Es hat angefangen”, sagte er knapp. Weil wir befürchteten, dass Bahnhöfe zu den Angriffszielen gehören könnte, stieg er in einem kleinen Ort aus und unser Kameramann Shenja Schylko und ich fuhren mit dem Auto los, um ihn abzuholen.

Die Menschen in Sachnowschtschyna, wie der Ort an der Bahnstrecke hieß, nahmen die Nachrichten gefasst auf. Sie bereiteten sich ruhig auf das vor, was da kam. Geduldig warteten sie in langen Schlangen vor dem Geldautomaten, deckten sich in der Bäckerei mit Brot ein. Vor den Tankstellen reihten sich Dutzende Autos auf, die nochmal volltanken wollten. “Nehmt ein bisschen was zu Essen mit, ihr wisst nicht, wann ihr wieder etwas bekommt”, ermahnte uns die Bäckerin, die erst am Vortag von einem Besuch bei ihrer Tochter in Wien zurückgekommen war. Mit drei Tüten gefüllter Teigtaschen machten wir uns auf den Weg nach Kiew. Ich habe selten eine idyllischere Überlandfahrt erlebt. In den Dörfern standen die Menschen zu einem Schwatz zusammen, Schäfchenwolken zogen über den Himmel, der nach mehreren düsteren Tagen aufgeklart war. Nur weit am Horizont sah man einmal Rauchwolken aufsteigen.

Zwar sind inzwischen überall im Land Folgen des Kriegs zu spüren. Wie die Kaffeebuden haben auch fast alle anderen nicht überlebenswichtigen Geschäfte geschlossen. Straßen und Kreuzungen sind mit Betonbarrieren verengt. Panzerfallen aus kreuzförmig verschweißten Stahlträgern, die hier “Igel” heißen,  stehen vor Checkpoints, an denen sich Passanten ausweisen müssen. Kiew gleicht einer Geisterstadt. Die Hälfte der Bewohner hat die Hauptstadt verlassen, schätzt die Regierung. Von den übrigen hält sich kaum jemand länger draußen auf. Diejenigen, die man auf der Straße sieht, tragen entweder Einkaufstüten oder sie führen Hunde aus.

Dennoch funktioniert in diesem reduzierten Alltag Vieles wie gewohnt. Die Regale in den Supermärkten sind gefüllt. Bis auf Alkoholika ist fast das gesamte Sortiment noch vorhanden. In einem Feinkost-Supermarkt, vor dem Krieg beliebt bei wohlhabenderen Schichten, wird sogar noch immer spanischer Schinken von der Keule geschnitten. Daneben schwimmen lebende Hummer in Aquarien. Vermutlich sind auch sie ein Vorkriegsrelikt – seltene Wesen, deren Leben der Krieg vorerst gerettet und nicht zerstört hat. An der Kasse kann selbstverständlich mit Karte bezahlt werden, wie übrigens auch bei dem Mann mit seiner Kaffeebude.

Von dem Luxussupermarkt sind es gerade zwanzig Kilometer bis zu den Vororten, in denen die Menschen sich seit Tagen in Kellern verstecken, hektisch überlegend, ob sie die Flucht wagen können, wenn einmal kein Beschuss zu hören ist. Vor wenigen Tagen ist dort eine Mutter mit zwei Kindern ums Leben gekommen. Sie hatten es schon fast geschafft, als eine russische Granate neben ihnen einschlug. Das Bild der Toten Familie zwischen ihren Koffern ging um die Welt. Wir kommen einige Tage später an die gleiche Stelle. Neben uns sind noch andere Journalisten gekommen. Mit ihren Helmen und Schutzwesten sind sie in der Menge der Flüchtenden leicht auszumachen.

Irpin ist einer der Vororte, in die es vor dem Krieg die urbane Mittelschicht gezogen hat, die dem Verkehr und den hohen Immobilienpreisen der Innenstadt entfliehen wollten. Etwas über 1000 Euro haben die Menschen vor dem Krieg hier für einen Quadratmeter Neubauwohnung bezahlt. Jetzt steigen schwarze Rauchwolken hinter den bunten Apartmentblocks auf. In der Ferne ist Geschützdonner zu hören, während Dutzende über Holzplanken klettern, die über einen kleinen Fluss gelegt wurden, weil die Brücke darüber längst zerstört worden ist. Das ist einer der “grünen Korridore”, über die Nachrichten seit Tagen berichten.

An diesem Tag hält die Feuerpause. Daria, eine Frau in den Dreißigern, die sich sich mit ihrem Vater frühmorgens über Dutzende Kilometer aus einem Nachbarort auf den Weg gemacht hat, berichtet von zerstörtem Militärgerät und Leichen, an denen sie vorbeikamen. Sie hat es in einen der gelben Stadtbusse geschafft, die die Menschen abholen, sobald sie ukrainisch kontrolliertes Terrain erreicht haben. “Die Straßen sind zerstört. Es ist schwer, herzukommen und es ist schrecklich.”

Zwei Wochen hat sie im Keller verbracht bevor sie die Flucht wagte. Sie erzählt von russischen Soldaten, die ihr eine Pistole an den Kopf gehalten haben, Handys konfisziert und Wohnungen verwüstet haben. Jetzt fällt die Angst vor ihr ab. Sie wischt sich über die Augen und streicht ihrer Katze über den Kopf, die in einer Einkaufstasche auf ihrem Schoß sitzt. Gleich wird der gelbe Bus sie in andere Teile der Stadt bringen, wo ihre Tochter bereits auf sie wartet. An einen der Orte, wo die Menschen in Supermärkten mit Karte zahlen und sich fragen, ob die Gewalt wohl bald auch zu ihnen kommt.

Mithilfe eines Einkaufswagens muss diese Frau ihren umkämpften Heimatort Irpin verlassen
Zerstörungen in Irpin nahe Kiew
Sperren und Sandsäcke in Kiew

Ein Erdgeschossfenster in Kiews Hipster-Bezirk Podil. “Glühwein, Kaffee, Tee”, steht auf einer Tafel daneben. Wein ist tabu, das Kriegsrecht verbietet den Verkauf von Alkohol. Aber Kaffee und Tee bietet der Mann weiterhin an. Wir staunen. “Wie schön, dass Sie noch hier sind“, sagen wir leicht ungläubig zu dem Verkäufer.  Der zuckt mit den Schultern. “Natürlich bin ich hier.” Dabei ist das alles andere als natürlich. Vor dem Krieg war Kiew übersät mit solchen kleinen Kaffeebuden. Jetzt sind sie geschlossen. Der Mann hinter dem Fenster ist ein Vorkriegsrelikt.

Wenn es etwas gibt an diesem Krieg, das schwer zu begreifen ist, dann ist das die Gleichzeitigkeit von Dingen, die nicht zusammenpassen: Stille und Gewalt, Alltag und Angst. Als die ersten russischen Bomben fielen, war ich gerade im Osten des Landes, im Donbass. Hier wird seit acht Jahren gekämpft. Im Anlauf zur großangelegten Invasion, die Putin plante, eskalierte hier die Gewalt. Dörfer, in denen es trotz des Konflikts jahrelang ruhig geblieben war, wurden plötzlich mit Granaten beschossen. Vielen Menschen war ein Gefühl von drohendem Unheil anzumerken. 

Unwirkliche Gleichzeitigkeit

“Zweimal ist die Front durch unser Dorf gekommen, aber so etwas haben wir noch nicht erlebt”, erzählte Olena Makarenko, eine Sozialarbeiterin im Dorf Wrubiwka, nahe deren Haus zwei Granaten eingeschlagen waren. Und ein angetrunkener Mann auf dem Stadtplatz von Kramatorsk orakelte düster, nun werde man bald einen richtigen Krieg haben – ganz so, als ob hier nicht seit acht Jahren gekämpft würde. Andere aber wischten die Gefahr beiseite. “Was soll da schon kommen?”, sagte ein Lokalpolitiker. “An den Krieg haben wir uns doch längst gewöhnt.”

Mein Kollege Nick Conolly war an dem Morgen im Nachtzug unterwegs, um mich dort abzulösen. Ich hatte ein Zugticket nach Kiew für den Nachmittag. Mitten in der Nacht rief Nick an. “Es hat angefangen”, sagte er knapp. Weil wir befürchteten, dass Bahnhöfe zu den Angriffszielen gehören könnte, stieg er in einem kleinen Ort aus und unser Kameramann Shenja Schylko und ich fuhren mit dem Auto los, um ihn abzuholen.

Die Menschen in Sachnowschtschyna, wie der Ort an der Bahnstrecke hieß, nahmen die Nachrichten gefasst auf. Sie bereiteten sich ruhig auf das vor, was da kam. Geduldig warteten sie in langen Schlangen vor dem Geldautomaten, deckten sich in der Bäckerei mit Brot ein. Vor den Tankstellen reihten sich Dutzende Autos auf, die nochmal volltanken wollten. “Nehmt ein bisschen was zu Essen mit, ihr wisst nicht, wann ihr wieder etwas bekommt”, ermahnte uns die Bäckerin, die erst am Vortag von einem Besuch bei ihrer Tochter in Wien zurückgekommen war. Mit drei Tüten gefüllter Teigtaschen machten wir uns auf den Weg nach Kiew. Ich habe selten eine idyllischere Überlandfahrt erlebt. In den Dörfern standen die Menschen zu einem Schwatz zusammen, Schäfchenwolken zogen über den Himmel, der nach mehreren düsteren Tagen aufgeklart war. Nur weit am Horizont sah man einmal Rauchwolken aufsteigen.

Zwar sind inzwischen überall im Land Folgen des Kriegs zu spüren. Wie die Kaffeebuden haben auch fast alle anderen nicht überlebenswichtigen Geschäfte geschlossen. Straßen und Kreuzungen sind mit Betonbarrieren verengt. Panzerfallen aus kreuzförmig verschweißten Stahlträgern, die hier “Igel” heißen,  stehen vor Checkpoints, an denen sich Passanten ausweisen müssen. Kiew gleicht einer Geisterstadt. Die Hälfte der Bewohner hat die Hauptstadt verlassen, schätzt die Regierung. Von den übrigen hält sich kaum jemand länger draußen auf. Diejenigen, die man auf der Straße sieht, tragen entweder Einkaufstüten oder sie führen Hunde aus.

“Es hat angefangen”

Dennoch funktioniert in diesem reduzierten Alltag Vieles wie gewohnt. Die Regale in den Supermärkten sind gefüllt. Bis auf Alkoholika ist fast das gesamte Sortiment noch vorhanden. In einem Feinkost-Supermarkt, vor dem Krieg beliebt bei wohlhabenderen Schichten, wird sogar noch immer spanischer Schinken von der Keule geschnitten. Daneben schwimmen lebende Hummer in Aquarien. Vermutlich sind auch sie ein Vorkriegsrelikt – seltene Wesen, deren Leben der Krieg vorerst gerettet und nicht zerstört hat. An der Kasse kann selbstverständlich mit Karte bezahlt werden, wie übrigens auch bei dem Mann mit seiner Kaffeebude.

Hummer als Kriegsgewinnler

Von dem Luxussupermarkt sind es gerade zwanzig Kilometer bis zu den Vororten, in denen die Menschen sich seit Tagen in Kellern verstecken, hektisch überlegend, ob sie die Flucht wagen können, wenn einmal kein Beschuss zu hören ist. Vor wenigen Tagen ist dort eine Mutter mit zwei Kindern ums Leben gekommen. Sie hatten es schon fast geschafft, als eine russische Granate neben ihnen einschlug. Das Bild der Toten Familie zwischen ihren Koffern ging um die Welt. Wir kommen einige Tage später an die gleiche Stelle. Neben uns sind noch andere Journalisten gekommen. Mit ihren Helmen und Schutzwesten sind sie in der Menge der Flüchtenden leicht auszumachen.

Irpin ist einer der Vororte, in die es vor dem Krieg die urbane Mittelschicht gezogen hat, die dem Verkehr und den hohen Immobilienpreisen der Innenstadt entfliehen wollten. Etwas über 1000 Euro haben die Menschen vor dem Krieg hier für einen Quadratmeter Neubauwohnung bezahlt. Jetzt steigen schwarze Rauchwolken hinter den bunten Apartmentblocks auf. In der Ferne ist Geschützdonner zu hören, während Dutzende über Holzplanken klettern, die über einen kleinen Fluss gelegt wurden, weil die Brücke darüber längst zerstört worden ist. Das ist einer der “grünen Korridore”, über die Nachrichten seit Tagen berichten.

An diesem Tag hält die Feuerpause. Daria, eine Frau in den Dreißigern, die sich sich mit ihrem Vater frühmorgens über Dutzende Kilometer aus einem Nachbarort auf den Weg gemacht hat, berichtet von zerstörtem Militärgerät und Leichen, an denen sie vorbeikamen. Sie hat es in einen der gelben Stadtbusse geschafft, die die Menschen abholen, sobald sie ukrainisch kontrolliertes Terrain erreicht haben. “Die Straßen sind zerstört. Es ist schwer, herzukommen und es ist schrecklich.”

Zwei Wochen hat sie im Keller verbracht bevor sie die Flucht wagte. Sie erzählt von russischen Soldaten, die ihr eine Pistole an den Kopf gehalten haben, Handys konfisziert und Wohnungen verwüstet haben. Jetzt fällt die Angst vor ihr ab. Sie wischt sich über die Augen und streicht ihrer Katze über den Kopf, die in einer Einkaufstasche auf ihrem Schoß sitzt. Gleich wird der gelbe Bus sie in andere Teile der Stadt bringen, wo ihre Tochter bereits auf sie wartet. An einen der Orte, wo die Menschen in Supermärkten mit Karte zahlen und sich fragen, ob die Gewalt wohl bald auch zu ihnen kommt.

Der Maidan im Zentrum von Kiew ist menschenleer

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