Militärexperte Richter: “Alle Seiten müssen jetzt bittere Pillen schlucken”
Weitet Russland seinen Krieg gegen die Ukraine aus? Oder werden Putin und Selenskyj von ihren Maximalpositionen abrücken müssen, um einen Kompromiss zu schließen? Oberst a.D. Wolfgang Richter im DW-Interview.
Deutsche Welle: Einheiten des großen russischen Militärkonvois nördlich von Kiew haben offenbar Gefechtsposition angenommen. Was ist zu erwarten?
Wolfgang Richter: Mit der nördlichen Kolonne tritt der Krieg um Kiew in eine ganz entscheidende Phase. Man muss annehmen, dass der Auftrag lautet, die Stadt einzunehmen. Wenn das nicht der Fall wäre, würde man die Stadt umzingeln wollen, das wäre aber ein langfristiges Unternehmen. In die Stadt einzudringen wäre so ziemlich das blutigste Szenario, das man sich vorstellen kann. Denn dann wird es zum Kampf Haus-um-Haus, Straße-um-Straße kommen. Und dann wird es natürlich für beide Seiten furchtbar enden.
Deutsche Welle: Einheiten des großen russischen Militärkonvois nördlich von Kiew haben offenbar Gefechtsposition angenommen. Was ist zu erwarten?
Unlängst gab es Angriffe auf die ukrainischen Städte Iwano-Frankiwsk und Dnipro. Weitet Russland den Krieg auf das gesamte Land aus?
Dnipro liegt in der östlichen Ukraine, direkt am Fluss Dnepr. Es liegt ungefähr in der Mitte zwischen den russischen Kräften, die von Norden nach Süden stoßen und den Kräften, die von der Krim in Richtung Mariupol, aber auch Saporischschja marschiert sind. Wenn es den beiden Stößen von Nord und Süd gelingt, sich in Dnipro zu vereinigen, wäre der Donbass und die dortigen ukrainischen Kräfte abgeschnitten. Das ist das eine Szenario. Das andere betrifft die Luftangriffe in der Nähe von Ivano-Frankivsk. Hier handelt es sich um Luftangriffe gegen Flugplätze. Russland scheint schon jetzt auf die Diskussion zu reagieren, ob man Flugzeuge von NATO-Staaten in die Ukraine überführen könnte. Nun scheint, dass die Russen diese Flugplätze präventiv bombardieren, um die Möglichkeiten für die Wartung, Logistik und das Landen zu erschweren.
Glauben Sie, dass es zu der angesprochenen Übergabe von MiG-29 Kampfjets kommt? Was sagen Sie dazu, dass diese Option so öffentlich diskutiert wurde?
Politisch ist es klar: Die NATO hat insgesamt deutlich gemacht, dass sie nicht als Kriegspartei erscheinen, in den Krieg eintreten will. Flugzeuge, die von NATO-Gebiet aus starten und in der Ukraine eingreifen, müsste man aber NATO-Staaten zurechnen. Dieses Risiko wollte Polen offenbar nicht eingehen. Deswegen hatte Polen vorgeschlagen, die Flugzeuge über die amerikanische Ramstein Airbase zu übergeben. Und dann stellt man sich natürlich auch militärische Fragen: Russland hat viele hundert Kampfflugzeuge und natürlich auch entsprechende Raketen. Sodass es auch mit diesen MiGs fraglich wäre, ob man eine Wende erreicht. Außerdem stellt sich die Frage: Ist denn noch die Infrastruktur da, um solche Flugzeuge zu beherbergen? Gibt es intakte Flugplätze? Gibt es die Logistik? Es sind ja auch Depots angegriffen worden mit Treibstoff. Können die Flugzeuge dort gewartet werden? Das ist militärisch ungeklärt, so dass ich eher den Eindruck habe, diese öffentliche Diskussion soll zeigen: Wir tun etwas.
Wie wird es weitergehen?
In der ganzen Westukraine, außer den Luftangriffen, sehen wir noch keine russischen Bodenoperation. Wenn jetzt die zweite russische Staffel ins Gefecht kommt und sich möglicherweise auch noch im Stadtkampf zerreibt, dann ist diese Militäroperation im Grunde genommen gescheitert. Dann gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder wird die Kompromissbereitschaft größer – es gibt Anzeichen dafür auf beiden Seiten, dass man sich annähert, auf Maximalpositionen verzichtet. Oder Russland versucht noch einmal mit maximaler Eskalation etwas zu erreichen, was menschlich furchtbar wäre und strategisch unsinnig ist, denn die Ukraine ist nicht zu besetzen. Diese Einsicht muss sich in Moskau nun breitmachen.
Was sind mögliche Exit-Strategien aus diesem Krieg?
Moskau sagt, es war keine Dauerbesetzung der Ukraine geplant. Und die Ukraine soll auch als souveräner Staat erhalten bleiben. Selenskyj wiederum hat gesagt, dass man auf den NATO-Beitritt verzichten könne. Sein Schwerpunkt liegt jetzt eher beim EU-Beitritt. Er hat auch gesagt, dass er sich Kompromisslösungen zum Donbass vorstellen kann. Welcher Art die sind, kann man nur vermuten.
Es bleiben ganz entscheidende Knackpunkte: Was heißt Souveränität der Ukraine? Auch unter der Bedingung, man verzichte auf einen NATO-Beitritt? Sind Sie dann frei, den EU-Beitritt zu organisieren? Sind sie frei, sich prowestlich zu strukturieren und ihre Politik entsprechend auszurichten? Was heißt Entmilitarisierung? Das darf natürlich nicht Verteidigungsunfähigkeit bedeuten. Das würde auch völlig unakzeptabel sein.
Ich glaube, alle Seiten müssen jetzt bittere Pillen schlucken, weil sie von ihren Maximalpositionen abrücken müssen. Die militärische Lage wird sie dazu zwingen.
Wolfgang Richter ist Oberst a.D. der Bundeswehr und arbeitet als Wissenschaftler für die Stiftung Wissenschaft und Politik. Seine Schwerpunkte liegen unter anderem in den Bereichen Sicherheitspolitik und NATO-Russland-Verhältnis.
Das Gespräch führte Benjamin Restle.
Deutsche Welle: Einheiten des großen russischen Militärkonvois nördlich von Kiew haben offenbar Gefechtsposition angenommen. Was ist zu erwarten?
Wolfgang Richter: Mit der nördlichen Kolonne tritt der Krieg um Kiew in eine ganz entscheidende Phase. Man muss annehmen, dass der Auftrag lautet, die Stadt einzunehmen. Wenn das nicht der Fall wäre, würde man die Stadt umzingeln wollen, das wäre aber ein langfristiges Unternehmen. In die Stadt einzudringen wäre so ziemlich das blutigste Szenario, das man sich vorstellen kann. Denn dann wird es zum Kampf Haus-um-Haus, Straße-um-Straße kommen. Und dann wird es natürlich für beide Seiten furchtbar enden.
Unlängst gab es Angriffe auf die ukrainischen Städte Iwano-Frankiwsk und Dnipro. Weitet Russland den Krieg auf das gesamte Land aus?
Dnipro liegt in der östlichen Ukraine, direkt am Fluss Dnepr. Es liegt ungefähr in der Mitte zwischen den russischen Kräften, die von Norden nach Süden stoßen und den Kräften, die von der Krim in Richtung Mariupol, aber auch Saporischschja marschiert sind. Wenn es den beiden Stößen von Nord und Süd gelingt, sich in Dnipro zu vereinigen, wäre der Donbass und die dortigen ukrainischen Kräfte abgeschnitten. Das ist das eine Szenario. Das andere betrifft die Luftangriffe in der Nähe von Ivano-Frankivsk. Hier handelt es sich um Luftangriffe gegen Flugplätze. Russland scheint schon jetzt auf die Diskussion zu reagieren, ob man Flugzeuge von NATO-Staaten in die Ukraine überführen könnte. Nun scheint, dass die Russen diese Flugplätze präventiv bombardieren, um die Möglichkeiten für die Wartung, Logistik und das Landen zu erschweren.
Glauben Sie, dass es zu der angesprochenen Übergabe von MiG-29 Kampfjets kommt? Was sagen Sie dazu, dass diese Option so öffentlich diskutiert wurde?
Politisch ist es klar: Die NATO hat insgesamt deutlich gemacht, dass sie nicht als Kriegspartei erscheinen, in den Krieg eintreten will. Flugzeuge, die von NATO-Gebiet aus starten und in der Ukraine eingreifen, müsste man aber NATO-Staaten zurechnen. Dieses Risiko wollte Polen offenbar nicht eingehen. Deswegen hatte Polen vorgeschlagen, die Flugzeuge über die amerikanische Ramstein Airbase zu übergeben. Und dann stellt man sich natürlich auch militärische Fragen: Russland hat viele hundert Kampfflugzeuge und natürlich auch entsprechende Raketen. Sodass es auch mit diesen MiGs fraglich wäre, ob man eine Wende erreicht. Außerdem stellt sich die Frage: Ist denn noch die Infrastruktur da, um solche Flugzeuge zu beherbergen? Gibt es intakte Flugplätze? Gibt es die Logistik? Es sind ja auch Depots angegriffen worden mit Treibstoff. Können die Flugzeuge dort gewartet werden? Das ist militärisch ungeklärt, so dass ich eher den Eindruck habe, diese öffentliche Diskussion soll zeigen: Wir tun etwas.
Wie wird es weitergehen?
In der ganzen Westukraine, außer den Luftangriffen, sehen wir noch keine russischen Bodenoperation. Wenn jetzt die zweite russische Staffel ins Gefecht kommt und sich möglicherweise auch noch im Stadtkampf zerreibt, dann ist diese Militäroperation im Grunde genommen gescheitert. Dann gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder wird die Kompromissbereitschaft größer – es gibt Anzeichen dafür auf beiden Seiten, dass man sich annähert, auf Maximalpositionen verzichtet. Oder Russland versucht noch einmal mit maximaler Eskalation etwas zu erreichen, was menschlich furchtbar wäre und strategisch unsinnig ist, denn die Ukraine ist nicht zu besetzen. Diese Einsicht muss sich in Moskau nun breitmachen.
Was sind mögliche Exit-Strategien aus diesem Krieg?
Moskau sagt, es war keine Dauerbesetzung der Ukraine geplant. Und die Ukraine soll auch als souveräner Staat erhalten bleiben. Selenskyj wiederum hat gesagt, dass man auf den NATO-Beitritt verzichten könne. Sein Schwerpunkt liegt jetzt eher beim EU-Beitritt. Er hat auch gesagt, dass er sich Kompromisslösungen zum Donbass vorstellen kann. Welcher Art die sind, kann man nur vermuten.
Es bleiben ganz entscheidende Knackpunkte: Was heißt Souveränität der Ukraine? Auch unter der Bedingung, man verzichte auf einen NATO-Beitritt? Sind Sie dann frei, den EU-Beitritt zu organisieren? Sind sie frei, sich prowestlich zu strukturieren und ihre Politik entsprechend auszurichten? Was heißt Entmilitarisierung? Das darf natürlich nicht Verteidigungsunfähigkeit bedeuten. Das würde auch völlig unakzeptabel sein.
Ich glaube, alle Seiten müssen jetzt bittere Pillen schlucken, weil sie von ihren Maximalpositionen abrücken müssen. Die militärische Lage wird sie dazu zwingen.
Wolfgang Richter ist Oberst a.D. der Bundeswehr und arbeitet als Wissenschaftler für die Stiftung Wissenschaft und Politik. Seine Schwerpunkte liegen unter anderem in den Bereichen Sicherheitspolitik und NATO-Russland-Verhältnis.
Das Gespräch führte Benjamin Restle.