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“You cannot kill us. You tried and failed”

Joschla Melanie Weiß’ Großeltern wurden in der Nazizeit deportiert, weil sie Sinti waren. Die Schauspielerin verarbeitet das NS-Trauma ihrer Familie im Theaterstück “Rom*nja City – Stadt freier Menschen”.

Sie tanzt Contemporary. Ihre schwarzen Haare sind zu einem Zopf gebunden. Ihr Blick ist konzentriert, ihre Bewegungen sind kraftvoll. Traurige Klaviermusik im Hintergrund. Sie trägt ein blaues, locker fallendes Gewand, es erinnert an einen Talar, der bei jedem Schritt mitschwingt. 

Die Schauspielerin Joschla Melanie Weiß tanzt etwas aus dem neuen Theaterstück “Rom*nja City – Stadt freier Menschen” vor. Buntes Scheinwerferlicht spiegelt sich auf ihrer Figur und dem Holzboden. Wir sind in einem Probenraum am Rand von Neukölln in Berlin. Die 41-Jährige hat die künstlerische Leitung im Stück. Es ist eine Produktion des “Rom*nja-Power”-Theaterkollektivs, eines internationalen Zusammenschlusses von Kunstschaffenden aus der Sinti- und Roma-Community. 

Sie tanzt Contemporary. Ihre schwarzen Haare sind zu einem Zopf gebunden. Ihr Blick ist konzentriert, ihre Bewegungen sind kraftvoll. Traurige Klaviermusik im Hintergrund. Sie trägt ein blaues, locker fallendes Gewand, es erinnert an einen Talar, der bei jedem Schritt mitschwingt. 

Das Stück “Rom*nja City” handelt von der NS-Überlebenden Sintiza Rita Prigmore und ihrer verstorbenen Zwillingsschwester Rolanda. Das Thema geht Joschla nah. Auch ihre Familie wurde verfolgt und getötet. Das NS-Regime erfasste und isolierte Sinti und Roma, grenzte sie gesellschaftlich aus. Es folgten Zwangssterilisationen und Deportationen in Konzentrations- und Vernichtungslager.

Rita Prigmores Geschichte

So erging es auch Rita Prigmore und ihrer Familie. Joschla erzählt uns Ritas Geschichte. Die Schauspielerin hat sie schon oft erzählt. Und trotzdem wirkt Joschla so, als könne sie die Geschichte immer noch nicht fassen. Ritas Mutter sollte zwangssterilisiert werden. Doch beim Sterilisations-Termin stellen die Ärzte fest, dass sie bereits mit Zwillingen schwanger ist. Sie wird vor die Wahl gestellt: Entweder gibt sie die Zwillinge für medizinische Experimente frei oder ihre Eltern und ihre Großmutter werden getötet. Rita und ihre Zwillingsschwester werden für Experimente freigegeben. Ihre Köpfe werden aufgeschnitten, um Tinte in die Augen zu spritzen. Die braunen Augen sollen blau werden. Rita überlebt, ihre Zwillingsschwester Rolanda stirbt.

Joschla stockt. Es wirkt, als sei sie den Tränen nah. Sie schaut uns direkt an und fragt: “Wie perfide müssen Menschen sein, um das zu machen? Wenn ich mit den Überlebenden spreche, fühle ich diesen Schmerz.” Joschlas Großvater war in Auschwitz. Er überlebte. Von seinen sieben Geschwistern kam nur noch ein Bruder aus dem Vernichtungslager zurück. Ihre Großmutter war im Konzentrationslager Dachau. Auch sie überlebte. Joschla gehört schon zur dritten Generation nach Auschwitz. Doch der NS-Genozid hat auch sie geprägt.

“Wenn ich meine Großeltern besucht habe, hat die NS-Zeit immer irgendwie eine Rolle gespielt, sei es, dass es in kleinen Geschichten war, sei es, dass sie sich plötzlich an ganz schreckliche Momente erinnert haben.”

Die Probe ist beendet. Wir sind in Joschlas Wohnung. Die Künstlerin sitzt auf einer grünen Couch in einem roten langen Kleid. Sie zeigt uns alte Fotos von ihrer Familie in Schwarz-Weiß. Sie lächelt, wenn sie über ihre Familie spricht. Doch die NS-Traumata hatten auch Auswirkungen auf sie. Ihre Großeltern litten unter vielen Ängsten, waren übervorsichtig, überbehütend. “Meine Großmutter ist durchgedreht, wenn man abends eine Minute zu spät nach Hause gekommen ist. Dann fragte sie: Wie kannst du nur? Aber sie hatte einfach Angst. Angst, dass uns etwas zugestoßen sein könnte.” Das habe sich auch auf sie selbst übertragen, sagt Joschla. Sie sei ein sehr ängstliches Kind gewesen.

Joschla scheint mit diesen Erlebnissen nicht allein zu sein. Die Folgen des NS-Traumas für die Nachkommen aus der Sinti- und Roma-Community sind zwar bis heute kaum untersucht. Der 2021 veröffentlichte Bericht der Unabhängigen Kommission Antiziganismus deutet jedoch an, dass der Verlust der ermordeten Familienangehörigen zu Überforderung und Überbehütung führen kann. Die Bundesregierung hatte die Kommission beauftragt, zwei Jahre lang die Situation der Sinti- und Roma-Community in Deutschland zu untersuchen.

Ein aktuelles Projekt von AMCHA, einem Verein, der sich mit dem Holocaust und seinen traumatischen Folgen auseinandersetzt, kommt zu ähnlichen Schlüssen. In dem Projekt wird die psychosoziale Verfassung der Sinti- und Roma-Communities in Deutschland und Tschechien aufgearbeitet. Das Projekt ist zwar noch nicht abgeschlossen, aber auch hier wurden solche transgenerationellen Folgen beobachtet.

Joschla zeigt uns Filmausschnitte der Premiere von “Rom*nja City”. Sie steht auf einer Bühne in einem gelben Kleid, dreht sich zum Publikum und sagt: “Ich bin Rita Prigmore. Man hat versucht, mir das weiße Gen einzupflanzen.” Für Joschla ist die Kunst ein Weg, das Trauma ihrer Familie zu verarbeiten. Der NS-Genozid, aber auch der aktuelle Rassismus seien für sie Stoff, um Kunst zu schaffen: “Ich nehme dieses Gefühl von Ungerechtigkeit, diese Wut, als Kraft und entwickele daraus Stücke.” 

Das Stück “Rom*nja City” bleibt dabei nicht in der NS-Zeit stehen, sondern fragt, was die Sinti- und Roma-Community braucht, um frei zu sein. Inspiriert von Bertolt Brechts “Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny” entwickelte das Theaterkollektiv die Utopie einer befreiten Stadt. Als Joschla davon erzählt, wirkt sie voller Energie: “Die Utopie der Freiheit heißt für uns, die Vielfältigkeit der Rom*nja aufzuzeigen, Diversity zu leben und uns nicht reduzieren zu lassen auf Mangel, Problematiken und Missstände.”

Am Ende von “Rom*nja City” steht Joschla im Vordergrund. Sie blickt direkt ins Publikum und sagt, fast schon triumphierend: “Did you know that the highest birth rates after the war were in the survival camps? You cannot kill us. You tried and failed.”

Text und Video erscheinen im Rahmen des NewsSpectrum-Stipendienprogramms, einer Initiative von IPI und MIDAS. ERIAC und DW sind Partner des Programms.

Auf romblog.net wird dieses Portrait dreisprachig publiziert: Deutsch, Englisch und Romanes.

Joschla Melanie Weiß, Schauspielerin
Joschla Melanie Weiß, Schauspielerin

Sie tanzt Contemporary. Ihre schwarzen Haare sind zu einem Zopf gebunden. Ihr Blick ist konzentriert, ihre Bewegungen sind kraftvoll. Traurige Klaviermusik im Hintergrund. Sie trägt ein blaues, locker fallendes Gewand, es erinnert an einen Talar, der bei jedem Schritt mitschwingt. 

Die Schauspielerin Joschla Melanie Weiß tanzt etwas aus dem neuen Theaterstück “Rom*nja City – Stadt freier Menschen” vor. Buntes Scheinwerferlicht spiegelt sich auf ihrer Figur und dem Holzboden. Wir sind in einem Probenraum am Rand von Neukölln in Berlin. Die 41-Jährige hat die künstlerische Leitung im Stück. Es ist eine Produktion des “Rom*nja-Power”-Theaterkollektivs, eines internationalen Zusammenschlusses von Kunstschaffenden aus der Sinti- und Roma-Community. 

Rita Prigmores Geschichte

Das Stück “Rom*nja City” handelt von der NS-Überlebenden Sintiza Rita Prigmore und ihrer verstorbenen Zwillingsschwester Rolanda. Das Thema geht Joschla nah. Auch ihre Familie wurde verfolgt und getötet. Das NS-Regime erfasste und isolierte Sinti und Roma, grenzte sie gesellschaftlich aus. Es folgten Zwangssterilisationen und Deportationen in Konzentrations- und Vernichtungslager.

So erging es auch Rita Prigmore und ihrer Familie. Joschla erzählt uns Ritas Geschichte. Die Schauspielerin hat sie schon oft erzählt. Und trotzdem wirkt Joschla so, als könne sie die Geschichte immer noch nicht fassen. Ritas Mutter sollte zwangssterilisiert werden. Doch beim Sterilisations-Termin stellen die Ärzte fest, dass sie bereits mit Zwillingen schwanger ist. Sie wird vor die Wahl gestellt: Entweder gibt sie die Zwillinge für medizinische Experimente frei oder ihre Eltern und ihre Großmutter werden getötet. Rita und ihre Zwillingsschwester werden für Experimente freigegeben. Ihre Köpfe werden aufgeschnitten, um Tinte in die Augen zu spritzen. Die braunen Augen sollen blau werden. Rita überlebt, ihre Zwillingsschwester Rolanda stirbt.

Joschla stockt. Es wirkt, als sei sie den Tränen nah. Sie schaut uns direkt an und fragt: “Wie perfide müssen Menschen sein, um das zu machen? Wenn ich mit den Überlebenden spreche, fühle ich diesen Schmerz.” Joschlas Großvater war in Auschwitz. Er überlebte. Von seinen sieben Geschwistern kam nur noch ein Bruder aus dem Vernichtungslager zurück. Ihre Großmutter war im Konzentrationslager Dachau. Auch sie überlebte. Joschla gehört schon zur dritten Generation nach Auschwitz. Doch der NS-Genozid hat auch sie geprägt.

“Wenn ich meine Großeltern besucht habe, hat die NS-Zeit immer irgendwie eine Rolle gespielt, sei es, dass es in kleinen Geschichten war, sei es, dass sie sich plötzlich an ganz schreckliche Momente erinnert haben.”

NS-Trauma in der eigenen Familie

Die Probe ist beendet. Wir sind in Joschlas Wohnung. Die Künstlerin sitzt auf einer grünen Couch in einem roten langen Kleid. Sie zeigt uns alte Fotos von ihrer Familie in Schwarz-Weiß. Sie lächelt, wenn sie über ihre Familie spricht. Doch die NS-Traumata hatten auch Auswirkungen auf sie. Ihre Großeltern litten unter vielen Ängsten, waren übervorsichtig, überbehütend. “Meine Großmutter ist durchgedreht, wenn man abends eine Minute zu spät nach Hause gekommen ist. Dann fragte sie: Wie kannst du nur? Aber sie hatte einfach Angst. Angst, dass uns etwas zugestoßen sein könnte.” Das habe sich auch auf sie selbst übertragen, sagt Joschla. Sie sei ein sehr ängstliches Kind gewesen.

Folgen über Generationen hinweg

Joschla scheint mit diesen Erlebnissen nicht allein zu sein. Die Folgen des NS-Traumas für die Nachkommen aus der Sinti- und Roma-Community sind zwar bis heute kaum untersucht. Der 2021 veröffentlichte Bericht der Unabhängigen Kommission Antiziganismus deutet jedoch an, dass der Verlust der ermordeten Familienangehörigen zu Überforderung und Überbehütung führen kann. Die Bundesregierung hatte die Kommission beauftragt, zwei Jahre lang die Situation der Sinti- und Roma-Community in Deutschland zu untersuchen.

Ein aktuelles Projekt von AMCHA, einem Verein, der sich mit dem Holocaust und seinen traumatischen Folgen auseinandersetzt, kommt zu ähnlichen Schlüssen. In dem Projekt wird die psychosoziale Verfassung der Sinti- und Roma-Communities in Deutschland und Tschechien aufgearbeitet. Das Projekt ist zwar noch nicht abgeschlossen, aber auch hier wurden solche transgenerationellen Folgen beobachtet.

Joschla zeigt uns Filmausschnitte der Premiere von “Rom*nja City”. Sie steht auf einer Bühne in einem gelben Kleid, dreht sich zum Publikum und sagt: “Ich bin Rita Prigmore. Man hat versucht, mir das weiße Gen einzupflanzen.” Für Joschla ist die Kunst ein Weg, das Trauma ihrer Familie zu verarbeiten. Der NS-Genozid, aber auch der aktuelle Rassismus seien für sie Stoff, um Kunst zu schaffen: “Ich nehme dieses Gefühl von Ungerechtigkeit, diese Wut, als Kraft und entwickele daraus Stücke.” 

Das Stück “Rom*nja City” bleibt dabei nicht in der NS-Zeit stehen, sondern fragt, was die Sinti- und Roma-Community braucht, um frei zu sein. Inspiriert von Bertolt Brechts “Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny” entwickelte das Theaterkollektiv die Utopie einer befreiten Stadt. Als Joschla davon erzählt, wirkt sie voller Energie: “Die Utopie der Freiheit heißt für uns, die Vielfältigkeit der Rom*nja aufzuzeigen, Diversity zu leben und uns nicht reduzieren zu lassen auf Mangel, Problematiken und Missstände.”

Am Ende von “Rom*nja City” steht Joschla im Vordergrund. Sie blickt direkt ins Publikum und sagt, fast schon triumphierend: “Did you know that the highest birth rates after the war were in the survival camps? You cannot kill us. You tried and failed.”

Text und Video erscheinen im Rahmen des NewsSpectrum-Stipendienprogramms, einer Initiative von IPI und MIDAS. ERIAC und DW sind Partner des Programms.

Auf romblog.net wird dieses Portrait dreisprachig publiziert: Deutsch, Englisch und Romanes.

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