Faktencheck: Keine “lebenden Leichen” in Butscha
Die Bilder von getöteten Zivilisten in Butscha entsetzen weltweit. Russlands Regierung und pro-russische Accounts behaupten: Alles inszeniert, einige Leichen würden sich bewegen. Unser Faktencheck zeigt: Das ist falsch.
Es sind grauenhafte Aufnahmen, die seit dem Wochenende kursieren: Eine Straße in Butscha nahe Kiew ist übersät mit Leichen. Sie tragen keine Uniform. Einige sind gefesselt. Nachdem am 1. April und 2. April Videos von ukrainischen Einheiten gedrehte Videos öffentlich wurden, berichteten auch internationale Journalisten über die Toten von Butscha.
Die Erschießung der Zivilisten wird abziehenden russischen Soldaten vorgeworfen: Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach von einem “Völkermord”, Bundeskanzler Olaf Scholz verurteilte die “Verbrechen der russischen Streitkräfte” und UN-Generalsekretär António Guterres zeigte sich “zutiefst schockiert”.
Es sind grauenhafte Aufnahmen, die seit dem Wochenende kursieren: Eine Straße in Butscha nahe Kiew ist übersät mit Leichen. Sie tragen keine Uniform. Einige sind gefesselt. Nachdem am 1. April und 2. April Videos von ukrainischen Einheiten gedrehte Videos öffentlich wurden, berichteten auch internationale Journalisten über die Toten von Butscha.
Gleichzeitig kursiert in den sozialen Netzwerken befeuert von russischer Seite ein ungeheurer Vorwurf: alles nur inszeniert. Das russische Verteidigungsministerium schreibt auf Telegram, dass die Videos aus Butscha eine “inszenierte Produktion und Provokation” seien. Die russische Botschaft in Deutschland sekundiert und hält Fotos und Videos aus Butscha für “eine weitere Inszenierung des Kiewer Regimes für westliche Medien” und die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Marija Sacharowa, will sogar wissen, dass die USA und die NATO die Aufnahmen “bestellt” hätten, um Russland die Schuld zuzuschieben.
Keine Beweise für eine Inszenierung
Beweise für diese Behauptungen liefert keine der russischen Institutionen. Pro-russische Accounts greifen das Narrativ in den Sozialen Medien auf: Die Leichen seien gar keine, sondern Leichendarsteller, alles sei eine große Lüge. Beweis soll dabei ein Video sein, das Leichen auf einer Straße in Butscha zeigt.
Behauptung: “Mehr über das Fake-Massaker von Butscha. Die ‘Leiche’ rechts im Bild bewegt ihren Arm”, behauptet ein Nutzer. Und ein anderer fragt sarkastisch: “Leichen säumen die Straßen, es ist ein Anblick des Grauens… aber halt, eine davon bewegt ihre Hand? Und eine weitere richtet sich plötzlich wieder auf? Was wird hier eigentlich gespielt?”
DW Faktencheck: Falsch.
In dem gezeigten Video ist weder eine Leiche zu sehen, die ihre Hand hebt, noch eine, die plötzlich wieder aufsteht. Wir haben beide Behauptungen überprüft und den Ort des Geschehens lokalisiert. Es handelt sich um die Yablunska Straße im Süden der Stadt Butscha. Auf Google-Streetview-Aufnahmen von 2015 sind einige Gebäude aus dem Video wiedererkennbar, wenngleich seitdem offenbar in der Straße gebaut wurde. Die Wagenkolonne, aus der das Video aufgenommen wurde, fuhr in nordöstliche Richtung.
Die erste Behauptung zum Video bezieht sich auf eine angebliche Handbewegung, die eine Leiche gemacht haben soll. Gemeint ist eine Leiche rechts im Bild, an der die Wagenkolonne vorbeifährt. Tatsächlich scheint sich etwas zu bewegen als die grobpixelige Aufnahme der Leiche näherkommt, doch es ist keine Hand.
Bildanalysen der DW zeigen: Es handelt sich um einen Regentropfen auf der Frontscheibe des Wagens, aus dem gefilmt wird. Dieser Tropfen, nach oben bewegt durch den Fahrtwind, sorgt im Video für den Eindruck einer Bewegung. Eine andere Version des Videos in besserer Auflösung zeigt eindeutig, dass es sich um einen Wassertropfen handelt und nicht um eine Handbewegung.
Die DW bat den Digital-Forensiker Dirk Labudde, Professor an der Hochschule Mittweida, um eine tiefere Analyse des Videomaterials. Er zerlegte das Video in seine einzelnen Bilder (Frames). Dabei konnte Labudde feststellen, dass es sich bei dem bewegenden Objekt im Video “lediglich um ein frameübergreifend detektierbares Artefakt auf der Frontscheibe des Fahrzeugs, aus welchem heraus gefilmt wird, handelt. Bei der genaueren Analyse war keinerlei Bewegung der Person detektierbar.”
Die zweite Behauptung bezieht sich auf eine weitere Leiche, die das Auto, aus dem gefilmt wird, passiert. Diese Leiche soll angeblich wieder aufgestanden sein, nachdem das Auto den Körper passiert habe. Dies sei im Rückspiegel des Wagens kurz erkennbar.
Auch hier eine falsche Darstellung. Die Leiche bleibt weiter am Boden liegen, wie die DW in der Videoanalyse feststellen konnte. Die Bewegung des Fahrzeugs in Verbindung mit dem Schwenk der Kamera nach vorne mag eine Erklärung für die falsche Interpretation sein. Da Außenspiegel in der Regel eine Krümmung haben, wirkt das Blickfeld vergrößert. Tatsächlich zeigt eine verlangsamte Wiedergabe, dass die Leiche auch in der Spiegelung des Rückspiegels noch am Boden liegt. Zu dieser Einschätzung kommt auch Digital-Forensiker Dirk Labudde: “Durch die sich verändernde Kameraperspektive sowie die ungleiche Krümmung der Seitenspiegel, und der damit einhergehenden Verzerrung der Reflexion, kann eine Veränderung des Spiegelbildes wahrgenommen werden. Diese Veränderung erscheint in einer Art, sodass es wirkt als würde sich die Person im Seitenspiegel bewegen. Jedoch ist die Veränderung kohärent mit unbeweglichen Punkten der Umgebung der Person. Dies führt zu der Annahme, dass keine tatsächliche Bewegung der Person stattgefunden hat, während die Kamera diese aufnahm.”
Eine Recherche der New York Times zeigt noch mehr: Auf Satellitenbildern des US-Unternehmens Maxar ist zu erkennen, dass die Leichen schon seit dem 19. März, in einigen Fällen sogar seit dem 11. März auf der Yablunska Straße lagen. Der Vorher-Nachher-Abgleich zwischen den Satelliten-Aufnahmen vom 19. März und dem oben erwähnten viralen Video vom 2. April zeigt, dass die Leichen an den exakt gleichen Positionen auf der Straße liegen. Diese Aufnahmen sprechen klar gegen die russische Darstellung, wonach die Leichen erst nach dem Abzug der russischen Truppen am 30. März aufgetaucht seien.
Es ist nicht das erste Mal in diesem Krieg, dass mutmaßliche Kriegsverbrechen von russischer Seite negiert werden und stattdessen die Beweise für ebendiese Verbrechen als Fake bezeichnet werden. Auch der Angriff auf ein Krankenhaus mit Geburtsklinik in Mariupol wurde unter anderem vom russischen Botschafter im UN-Sicherheitsrat als “Schauspiel” abgetan.
Tatsächlich sind der Angriff und seine Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung inzwischen detailliert dokumentiert. Beweise für eine angebliche Inszenierung des Angriffs blieb die russische Regierung auch damals schuldig.
Mitarbeit: Tatjana Schweizer
Dieser Artikel wurde nach Veröffentlichung um die Recherche der “New York Times” sowie die Experteneinschätzung von Prof. Dirk Labudde von der Hochschule Mittweida aktualisiert.
Mehr zur Arbeit der Faktencheck-Redaktion im Ukraine-Krieg:
Es sind grauenhafte Aufnahmen, die seit dem Wochenende kursieren: Eine Straße in Butscha nahe Kiew ist übersät mit Leichen. Sie tragen keine Uniform. Einige sind gefesselt. Nachdem am 1. April und 2. April Videos von ukrainischen Einheiten gedrehte Videos öffentlich wurden, berichteten auch internationale Journalisten über die Toten von Butscha.
Die Erschießung der Zivilisten wird abziehenden russischen Soldaten vorgeworfen: Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach von einem “Völkermord”, Bundeskanzler Olaf Scholz verurteilte die “Verbrechen der russischen Streitkräfte” und UN-Generalsekretär António Guterres zeigte sich “zutiefst schockiert”.
Keine Beweise für eine Inszenierung
Gleichzeitig kursiert in den sozialen Netzwerken befeuert von russischer Seite ein ungeheurer Vorwurf: alles nur inszeniert. Das russische Verteidigungsministerium schreibt auf Telegram, dass die Videos aus Butscha eine “inszenierte Produktion und Provokation” seien. Die russische Botschaft in Deutschland sekundiert und hält Fotos und Videos aus Butscha für “eine weitere Inszenierung des Kiewer Regimes für westliche Medien” und die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Marija Sacharowa, will sogar wissen, dass die USA und die NATO die Aufnahmen “bestellt” hätten, um Russland die Schuld zuzuschieben.
Beweise für diese Behauptungen liefert keine der russischen Institutionen. Pro-russische Accounts greifen das Narrativ in den Sozialen Medien auf: Die Leichen seien gar keine, sondern Leichendarsteller, alles sei eine große Lüge. Beweis soll dabei ein Video sein, das Leichen auf einer Straße in Butscha zeigt.
Behauptung: “Mehr über das Fake-Massaker von Butscha. Die ‘Leiche’ rechts im Bild bewegt ihren Arm”, behauptet ein Nutzer. Und ein anderer fragt sarkastisch: “Leichen säumen die Straßen, es ist ein Anblick des Grauens… aber halt, eine davon bewegt ihre Hand? Und eine weitere richtet sich plötzlich wieder auf? Was wird hier eigentlich gespielt?”
DW Faktencheck: Falsch.
Krümmung des Rückspiegels sorgt für vermeintliche Bewegung
In dem gezeigten Video ist weder eine Leiche zu sehen, die ihre Hand hebt, noch eine, die plötzlich wieder aufsteht. Wir haben beide Behauptungen überprüft und den Ort des Geschehens lokalisiert. Es handelt sich um die Yablunska Straße im Süden der Stadt Butscha. Auf Google-Streetview-Aufnahmen von 2015 sind einige Gebäude aus dem Video wiedererkennbar, wenngleich seitdem offenbar in der Straße gebaut wurde. Die Wagenkolonne, aus der das Video aufgenommen wurde, fuhr in nordöstliche Richtung.
Leichen liegen offenbar seit März auf der Straße
Die erste Behauptung zum Video bezieht sich auf eine angebliche Handbewegung, die eine Leiche gemacht haben soll. Gemeint ist eine Leiche rechts im Bild, an der die Wagenkolonne vorbeifährt. Tatsächlich scheint sich etwas zu bewegen als die grobpixelige Aufnahme der Leiche näherkommt, doch es ist keine Hand.
Bildanalysen der DW zeigen: Es handelt sich um einen Regentropfen auf der Frontscheibe des Wagens, aus dem gefilmt wird. Dieser Tropfen, nach oben bewegt durch den Fahrtwind, sorgt im Video für den Eindruck einer Bewegung. Eine andere Version des Videos in besserer Auflösung zeigt eindeutig, dass es sich um einen Wassertropfen handelt und nicht um eine Handbewegung.
Die DW bat den Digital-Forensiker Dirk Labudde, Professor an der Hochschule Mittweida, um eine tiefere Analyse des Videomaterials. Er zerlegte das Video in seine einzelnen Bilder (Frames). Dabei konnte Labudde feststellen, dass es sich bei dem bewegenden Objekt im Video “lediglich um ein frameübergreifend detektierbares Artefakt auf der Frontscheibe des Fahrzeugs, aus welchem heraus gefilmt wird, handelt. Bei der genaueren Analyse war keinerlei Bewegung der Person detektierbar.”
Die zweite Behauptung bezieht sich auf eine weitere Leiche, die das Auto, aus dem gefilmt wird, passiert. Diese Leiche soll angeblich wieder aufgestanden sein, nachdem das Auto den Körper passiert habe. Dies sei im Rückspiegel des Wagens kurz erkennbar.
Auch hier eine falsche Darstellung. Die Leiche bleibt weiter am Boden liegen, wie die DW in der Videoanalyse feststellen konnte. Die Bewegung des Fahrzeugs in Verbindung mit dem Schwenk der Kamera nach vorne mag eine Erklärung für die falsche Interpretation sein. Da Außenspiegel in der Regel eine Krümmung haben, wirkt das Blickfeld vergrößert. Tatsächlich zeigt eine verlangsamte Wiedergabe, dass die Leiche auch in der Spiegelung des Rückspiegels noch am Boden liegt. Zu dieser Einschätzung kommt auch Digital-Forensiker Dirk Labudde: “Durch die sich verändernde Kameraperspektive sowie die ungleiche Krümmung der Seitenspiegel, und der damit einhergehenden Verzerrung der Reflexion, kann eine Veränderung des Spiegelbildes wahrgenommen werden. Diese Veränderung erscheint in einer Art, sodass es wirkt als würde sich die Person im Seitenspiegel bewegen. Jedoch ist die Veränderung kohärent mit unbeweglichen Punkten der Umgebung der Person. Dies führt zu der Annahme, dass keine tatsächliche Bewegung der Person stattgefunden hat, während die Kamera diese aufnahm.”
Eine Recherche der New York Times zeigt noch mehr: Auf Satellitenbildern des US-Unternehmens Maxar ist zu erkennen, dass die Leichen schon seit dem 19. März, in einigen Fällen sogar seit dem 11. März auf der Yablunska Straße lagen. Der Vorher-Nachher-Abgleich zwischen den Satelliten-Aufnahmen vom 19. März und dem oben erwähnten viralen Video vom 2. April zeigt, dass die Leichen an den exakt gleichen Positionen auf der Straße liegen. Diese Aufnahmen sprechen klar gegen die russische Darstellung, wonach die Leichen erst nach dem Abzug der russischen Truppen am 30. März aufgetaucht seien.
Es ist nicht das erste Mal in diesem Krieg, dass mutmaßliche Kriegsverbrechen von russischer Seite negiert werden und stattdessen die Beweise für ebendiese Verbrechen als Fake bezeichnet werden. Auch der Angriff auf ein Krankenhaus mit Geburtsklinik in Mariupol wurde unter anderem vom russischen Botschafter im UN-Sicherheitsrat als “Schauspiel” abgetan.
Tatsächlich sind der Angriff und seine Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung inzwischen detailliert dokumentiert. Beweise für eine angebliche Inszenierung des Angriffs blieb die russische Regierung auch damals schuldig.
Mitarbeit: Tatjana Schweizer
Dieser Artikel wurde nach Veröffentlichung um die Recherche der “New York Times” sowie die Experteneinschätzung von Prof. Dirk Labudde von der Hochschule Mittweida aktualisiert.
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