Ukraine: Begeht Russland mit Angriffen auf Krankenhäuser Kriegsverbrechen?
Seit dem Einmarsch in die Ukraine haben russische Streitkräfte dutzende Krankenhäuser angegriffen – und damit mutmaßlich Kriegsverbrechen begangen. Aber werden die Täter auch vor Gericht gestellt? Eine DW-Recherche.
Wo früher die Hals-Nasen-Ohren-Abteilung war, klafft seit dem 27. Februar ein riesiges Loch in der Wand.
An diesem Sonntag, drei Tage nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges, wird das zentrale Distriktkrankenhaus von Wolnowacha im Osten der Ukraine zum ersten Mal beschossen. Die ganze Abteilung sei durch die heftige Explosion in der obersten Etage zerstört worden, erzählt Dr. Andriy Khadzhynov.
Wo früher die Hals-Nasen-Ohren-Abteilung war, klafft seit dem 27. Februar ein riesiges Loch in der Wand.
Der Unfallchirurg sitzt auf einer Couch vor dem Bildschirm, die Deutsche Welle erreicht ihn über Zoom. Ein durchtrainierter Mann mit kurz geschorenen Haaren, 48 Jahre alt. Statt Arztkittel trägt er ein schwarzes T-Shirt.
Verstoß gegen das Völkerrecht
Das Krankenhaus war zum Zeitpunkt des Angriffs voll mit “Ärzten, Patienten und vielen Zivilisten, die dort Schutz suchten”, berichtet Khadzhynov. In der Kleinstadt Wolnowacha in der Region Donezk leben etwas mehr als 20.000 Menschen. Die Klinik ist das einzige Krankenhaus im Umkreis von gut 50 Kilometern, eine Anlaufstelle für etwa 100.000 Menschen, die im Einzugsgebiet leben.
Dass die Klinik zufällig getroffen wurde, hält der Arzt für ausgeschlossen. “Das Krankenhaus liegt auf einer Anhöhe, es ist von allen Seiten gut zu sehen.” Außerdem sei es das einzige dreistöckige Gebäude in der Umgebung, die Fassade war modern und renoviert. “Es stach hervor.”
Dem ersten Angriff folgten weitere, der schlimmste geschah in der Nacht auf den 1. März. An dieser Stelle stockt Khadzhynov die Stimme.
Er habe höllische Angst gehabt. Denn als es passierte, war auch seine Familie im Krankenhaus. “Der Beschuss dauerte vielleicht 25 Minuten. Wie durch ein Wunder kam niemand ums Leben.”
Angriffe auf medizinische Einrichtungen gelten als Kriegsverbrechen und können vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zur Anklage kommen. Sie verstoßen gegen humanitäres Völkerrecht – unabhängig davon, ob es sich um gezielte Operationen handelt oder ein Krankenhaus wahllos beschossen wird. Zivile Kliniken dürfen “unter keinen Umständen angegriffen werden, sondern sind von den Konfliktparteien jederzeit zu achten und zu schützen”, heißt es dazu in Artikel 18 der Genfer Konvention von 1949.
Doch die Realität in Kriegen sieht anders aus.
In der Ukraine wurden seit Beginn der russischen Invasion vor sechs Wochen immer wieder medizinische Einrichtungen angegriffen, die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung ist stark gefährdet. Die Weltgesundheitsorganisation WHO zählte bis zum Abend des 6. April insgesamt 91 Angriffe auf Krankenhäuser, Arztpraxen, Ambulanzen, Rettungsdienste, Blutbanken oder Lagerhäuser für Medikamente. In den meisten Fällen kamen schwere Waffen wie Raketen, Bomben oder Mörsergranaten zum Einsatz.
Dabei wurden mindestens 73 Menschen getötet und 77 Kliniken getroffen.
Das sind im Schnitt zwei Angriffe auf das Gesundheitswesen pro Tag. Zahlen, die gegen Zufall oder Versehen sprechen, sondern eher darauf hindeuten, dass genau solche Angriffe vermutlich Teil der russischen Strategie sind.
Die Deutsche Welle hat 21 Angriffe auf Krankenhäuser in der Ukraine seit dem 24. Februar analysiert. Dabei erhielt die DW Zugang zu bislang unveröffentlichten Daten des Ukrainischen Gesundheitszentrums (Ukrainian Healthcare Center, UHC), einer gemeinnützigen Organisation mit Sitz in Kiew. Das UHC teilte Fotos, Videos, Augenzeugenberichte und Koordinaten von getroffenen Kliniken.
“Wir dokumentieren Angriffe auf medizinische Einrichtungen nach den Standards der Rechtsprechung internationaler Gerichte”, betont der ehemalige stellvertretende ukrainische Gesundheitsminister Pavlo Kovtoniuk im Gespräch mit der DW. Er ist Mitbegründer des UHC. Ziel sei es, “dass diese Angriffe strafrechtlich verfolgt werden und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden”.
Jede Spur, jeder Hinweis kann wichtig sein: Obwohl Angriffe auf zivile medizinische Einrichtungen nach der Genfer Konvention verboten sind, können Krankenhäuser unter einer bestimmten Bedingung ihren Status als besonders geschütztes ziviles Objekt verlieren. Dann nämlich, wenn sie für militärische Zwecke genutzt werden, die “nichts mit ihrer humanitären Funktion und der medizinischen Versorgung zu tun haben”, erklärt das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) auf DW-Anfrage.
Doch selbst in diesem Fall darf eine medizinische Einrichtung nicht einfach angegriffen werden. Die Voraussetzungen dafür, dass ein Krankenhaus als sogenanntes legitimes Ziel betrachtet werden darf, sind komplex.
Vor jeder militärischen Aktion müsse von der angreifenden Partei zwingend eine Warnung ausgegeben und der Gegenseite genug Zeit eingeräumt werden, mögliche kriegerische Handlungen innerhalb der Einrichtung zu stoppen, so das IKRK. Und selbst wenn das nicht erfolgt, müsse der Angreifer, “damit ein Angriff rechtmäßig ist, nachweisen, dass er alles getan hat, um Schaden von Patienten und medizinischem Personal abzuwenden oder zumindest auf ein Minimum zu beschränken”.
Nach allem, was bisher bekannt ist, geschah genau das im Fall der am 9. März bombardierten Geburtsklinik in der belagerten Hafenstadt Mariupol nicht.
Russland rechtfertigte den tödlichen Angriff auf das Krankenhaus für Frauen und Kinder unter anderem damit, dass dort angeblich Kämpfer eines ukrainischen Bataillons Stellung bezogen hätten.
Das russische Verteidigungsministerium hat bis heute keine Beweise vorgelegt. Stattdessen haben weitere russische Quellen die Variante verbreitet, dass die Ukraine den Angriff mit verkleideten Patientinnen nur vorgetäuscht habe.
Wo früher die Hals-Nasen-Ohren-Abteilung war, klafft seit dem 27. Februar ein riesiges Loch in der Wand.
An diesem Sonntag, drei Tage nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges, wird das zentrale Distriktkrankenhaus von Wolnowacha im Osten der Ukraine zum ersten Mal beschossen. Die ganze Abteilung sei durch die heftige Explosion in der obersten Etage zerstört worden, erzählt Dr. Andriy Khadzhynov.
Verstoß gegen das Völkerrecht
Der Unfallchirurg sitzt auf einer Couch vor dem Bildschirm, die Deutsche Welle erreicht ihn über Zoom. Ein durchtrainierter Mann mit kurz geschorenen Haaren, 48 Jahre alt. Statt Arztkittel trägt er ein schwarzes T-Shirt.
Das Krankenhaus war zum Zeitpunkt des Angriffs voll mit “Ärzten, Patienten und vielen Zivilisten, die dort Schutz suchten”, berichtet Khadzhynov. In der Kleinstadt Wolnowacha in der Region Donezk leben etwas mehr als 20.000 Menschen. Die Klinik ist das einzige Krankenhaus im Umkreis von gut 50 Kilometern, eine Anlaufstelle für etwa 100.000 Menschen, die im Einzugsgebiet leben.
Dass die Klinik zufällig getroffen wurde, hält der Arzt für ausgeschlossen. “Das Krankenhaus liegt auf einer Anhöhe, es ist von allen Seiten gut zu sehen.” Außerdem sei es das einzige dreistöckige Gebäude in der Umgebung, die Fassade war modern und renoviert. “Es stach hervor.”
Dem ersten Angriff folgten weitere, der schlimmste geschah in der Nacht auf den 1. März. An dieser Stelle stockt Khadzhynov die Stimme.
Schutzstatus mit entscheidender Einschränkung
Er habe höllische Angst gehabt. Denn als es passierte, war auch seine Familie im Krankenhaus. “Der Beschuss dauerte vielleicht 25 Minuten. Wie durch ein Wunder kam niemand ums Leben.”
Angriff auf die Geburtsklinik von Mariupol
Angriffe auf medizinische Einrichtungen gelten als Kriegsverbrechen und können vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zur Anklage kommen. Sie verstoßen gegen humanitäres Völkerrecht – unabhängig davon, ob es sich um gezielte Operationen handelt oder ein Krankenhaus wahllos beschossen wird. Zivile Kliniken dürfen “unter keinen Umständen angegriffen werden, sondern sind von den Konfliktparteien jederzeit zu achten und zu schützen”, heißt es dazu in Artikel 18 der Genfer Konvention von 1949.
Doch die Realität in Kriegen sieht anders aus.
In der Ukraine wurden seit Beginn der russischen Invasion vor sechs Wochen immer wieder medizinische Einrichtungen angegriffen, die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung ist stark gefährdet. Die Weltgesundheitsorganisation WHO zählte bis zum Abend des 6. April insgesamt 91 Angriffe auf Krankenhäuser, Arztpraxen, Ambulanzen, Rettungsdienste, Blutbanken oder Lagerhäuser für Medikamente. In den meisten Fällen kamen schwere Waffen wie Raketen, Bomben oder Mörsergranaten zum Einsatz.
Strafrechtliche Verfolgung ist Sisyphusarbeit
Dabei wurden mindestens 73 Menschen getötet und 77 Kliniken getroffen.
Das sind im Schnitt zwei Angriffe auf das Gesundheitswesen pro Tag. Zahlen, die gegen Zufall oder Versehen sprechen, sondern eher darauf hindeuten, dass genau solche Angriffe vermutlich Teil der russischen Strategie sind.
Ex-Jugoslawien: Ernüchternder Blick in die Vergangenheit
Die Deutsche Welle hat 21 Angriffe auf Krankenhäuser in der Ukraine seit dem 24. Februar analysiert. Dabei erhielt die DW Zugang zu bislang unveröffentlichten Daten des Ukrainischen Gesundheitszentrums (Ukrainian Healthcare Center, UHC), einer gemeinnützigen Organisation mit Sitz in Kiew. Das UHC teilte Fotos, Videos, Augenzeugenberichte und Koordinaten von getroffenen Kliniken.
Terrorakt statt Kriegsverbrechen?
“Wir dokumentieren Angriffe auf medizinische Einrichtungen nach den Standards der Rechtsprechung internationaler Gerichte”, betont der ehemalige stellvertretende ukrainische Gesundheitsminister Pavlo Kovtoniuk im Gespräch mit der DW. Er ist Mitbegründer des UHC. Ziel sei es, “dass diese Angriffe strafrechtlich verfolgt werden und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden”.
Jede Spur, jeder Hinweis kann wichtig sein: Obwohl Angriffe auf zivile medizinische Einrichtungen nach der Genfer Konvention verboten sind, können Krankenhäuser unter einer bestimmten Bedingung ihren Status als besonders geschütztes ziviles Objekt verlieren. Dann nämlich, wenn sie für militärische Zwecke genutzt werden, die “nichts mit ihrer humanitären Funktion und der medizinischen Versorgung zu tun haben”, erklärt das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) auf DW-Anfrage.
Doch selbst in diesem Fall darf eine medizinische Einrichtung nicht einfach angegriffen werden. Die Voraussetzungen dafür, dass ein Krankenhaus als sogenanntes legitimes Ziel betrachtet werden darf, sind komplex.
Vor jeder militärischen Aktion müsse von der angreifenden Partei zwingend eine Warnung ausgegeben und der Gegenseite genug Zeit eingeräumt werden, mögliche kriegerische Handlungen innerhalb der Einrichtung zu stoppen, so das IKRK. Und selbst wenn das nicht erfolgt, müsse der Angreifer, “damit ein Angriff rechtmäßig ist, nachweisen, dass er alles getan hat, um Schaden von Patienten und medizinischem Personal abzuwenden oder zumindest auf ein Minimum zu beschränken”.
Nach allem, was bisher bekannt ist, geschah genau das im Fall der am 9. März bombardierten Geburtsklinik in der belagerten Hafenstadt Mariupol nicht.
Russland rechtfertigte den tödlichen Angriff auf das Krankenhaus für Frauen und Kinder unter anderem damit, dass dort angeblich Kämpfer eines ukrainischen Bataillons Stellung bezogen hätten.
Das russische Verteidigungsministerium hat bis heute keine Beweise vorgelegt. Stattdessen haben weitere russische Quellen die Variante verbreitet, dass die Ukraine den Angriff mit verkleideten Patientinnen nur vorgetäuscht habe.
Doch die Analyse von Satellitenaufnahmen, Fotos und Videos sowie Berichte von Augenzeugen sprechen gegen diese russischen Darstellungen. Im Krankenhaus waren nachweislich Kinder, Schwangere und junge Mütter mit ihren Babys.
Auch bei den 20 weiteren Angriffen, die die DW analysiert hat, finden sich keine Hinweise darauf, dass sich in einem der getroffenen Krankenhäuser kämpfende Truppen aufhielten oder dass sich militärische Einrichtungen in der unmittelbaren Umgebung befanden.
Auch bei den 20 weiteren Angriffen, die die DW analysiert hat, finden sich keine Hinweise darauf, dass sich in einem der getroffenen Krankenhäuser kämpfende Truppen aufhielten oder dass sich militärische Einrichtungen in der unmittelbaren Umgebung befanden.