Regisseur Oleg Senzow an der Front: “Die Russen verbrennen die Erde”
Der ukrainische Regisseur Oleg Senzow verteidigt sein Land im Donbass. Im DW-Interview spricht er über seinen Entschluss, in den Kampf zu ziehen, die Situation vor Ort und seine Rückkehr zum Film.
Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine schloss sich der ukrainische Regisseur Oleg Senzow der Territorialverteidigung an und zog in den Kampf. Seit 2014 gilt er als Ikone des Widerstands gegen Russlands Annexion der Krim. Im Mai jenes Jahres wurde Senzow von russischen Geheimdiensten wegen des Verdachts der Planung terroristischer Handlungen verhaftet, nach Moskau überstellt – und später in einem russischen Straflager inhaftiert. Immer wieder forderten Filmschaffende aus ganz Europa die Freilassung des Regisseurs. Nach seiner Freilassung im Rahmen eines Gefangenenaustausches im September 2019 konnte er in die Ukraine zurückkehren.
DW: Herr Senzow, Sie sind jetzt im Donbass. Wie ist die aktuelle Lage an der Front?
Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine schloss sich der ukrainische Regisseur Oleg Senzow der Territorialverteidigung an und zog in den Kampf. Seit 2014 gilt er als Ikone des Widerstands gegen Russlands Annexion der Krim. Im Mai jenes Jahres wurde Senzow von russischen Geheimdiensten wegen des Verdachts der Planung terroristischer Handlungen verhaftet, nach Moskau überstellt – und später in einem russischen Straflager inhaftiert. Immer wieder forderten Filmschaffende aus ganz Europa die Freilassung des Regisseurs. Nach seiner Freilassung im Rahmen eines Gefangenenaustausches im September 2019 konnte er in die Ukraine zurückkehren.
Oleg Senzow: Ich bin jetzt im schwierigsten Abschnitt bei Sjewjerodonezk in Richtung Bachmut. Dies ist der letzte Teil der Region Luhansk, der nicht von den Russen besetzt ist, aber sie versuchen es mit allen Kräften. Denn sie wollen irgendeinen Sieg vorweisen, in diesem Fall die “Befreiung” der Region Luhansk, wie sie sagen*.
In einem Video auf Facebook sagen Sie, es würden Mitglieder der ukrainischen Territorialverteidigung an die Front geschickt, die auf den Kampf nicht gut vorbereitet seien.
Das ist kein Vorwurf, sondern ein Problem, das schnell gelöst werden muss. Noch im Hinterland oder hier an der zweiten Verteidigungslinie oder weiter draußen muss das Training verbessert werden. Es gibt genug Leute, die in den Kampf ziehen wollen, sie sind sehr motiviert, aber sie müssen eben nur lernen, wie man es macht.
Ich bin seit zwei Monaten im Krieg und habe noch keinen einzigen Schuss abgegeben. Die Entfernung zwischen den Kriegsparteien ist groß und es gibt sehr selten Gefechte mit Schusswaffen. Hauptsächlich werden Artillerie, Mörser und Raketenwerfer eingesetzt, und die Infanterie hält nur die Stellungen. Es ist wichtig, unter diesen Bedingungen zu überleben und nicht zu sterben, nicht verletzt zu werden, nicht zur Last zu fallen. Das heißt, Überlebensfähigkeiten sind an der Front sehr wichtig.
Warum haben Sie sich in den ersten Tagen des Krieges der Territorialverteidigung angeschlossen?
Dort bekam man sofort ein Sturmgewehr. Im Rahmen der Mobilmachung hätte das länger gedauert, denn zu dem Zeitpunkt gab es in meinem Bezirk noch keine Einberufung. Ich bin gleich zur Territorialverteidigung gegangen, weil dort Waffen verteilt wurden. Die Situation war so, dass man sich bereits darüber im Klaren war, dass es eine Invasion in Kiew und bald Straßenkämpfe geben würde.
Ich habe in zwei Monaten viel dazugelernt. Dies ist ein ganz anderer Krieg, es handelt sich um intelligente Waffen, und daher ist es wichtig, solche Waffen zu erhalten. Wir haben nicht genug davon, unsere sind veraltet. Russland hat etwas neuere, aber nicht viele davon. Hier im Donbass zeigen sie, dass sie viel Munition haben. Sie quetschen uns damit einfach raus, wir werden zum Rückzug gezwungen, und sie besetzen nach und nach Stellungen. Sie verbrennen die Erde und bewegen sich wie ein Feuer über sie hinweg. Man kann dort nicht bleiben, weil man verbrennt. Das ist jetzt ihre Strategie. So haben sie es in Syrien und in Tschetschenien gemacht. In den ersten Kriegstagen hatten sie gedacht, sie könnten in Kolonnen die Ukraine einfach so besetzen. Aber das gelang ihnen nicht, also griffen sie auf die alte Strategie der verbrannten Erde zurück.
Was glauben Sie, wie lange wird dieser Krieg dauern?
Prognosen sind schwierig, aber ich denke zwei oder drei Jahre, darauf müssen wir uns einstellen. Denn wir müssen nicht nur hier siegen und Russland stoppen, unser Territorium befreien, sondern wir müssen auch Druck auf Russland ausüben, um dort einen Regimewechsel zu erreichen. Sonst wird das Problem bleiben. Auch wenn es einen Staatsstreich gibt und Putin durch Patruschew (Sekretär des Sicherheitsrats Russlands Nikolai Patruschew – Anm. d. Red.) oder Schoigu (Verteidigungsminister Russlands Sergei Schoigu – An. d. Red.) ersetzt wird, auch dann wird sich die Situation nicht ändern, auch dann wird Russland ein Problem bleiben.
Sie saßen fünf Jahre als politischer Gefangener in Russland hinter Gittern. Fürchten Sie nicht, diese Geschichte könnte sich wiederholen, falls Sie in Gefangenschaft geraten?
Nun, erstens kann man doch nicht zweimal so viel Pech haben. Das wäre etwas zu viel. Ich denke, dass ich meine Zeit in Gefangenschaft hinter mir habe und dass auf mich andere Prüfungen warten. Und zweitens, sollte ich gefangen genommen werden, würde man mich als ganz besonderen Feind kaum am Leben lassen.
Was erwartet die Verteidiger von “Asowstal”, die in russischer Gefangenschaft sind?
Man muss an das russische Narrativ denken, und da gibt es nur die Message von “Nazis” und “Faschisten”, mit der dieser Krieg ständig rechtfertigt wird. Jetzt wird man versuchen, einen aufsehenerregenden Prozess zu führen, um einen Sieg vorweisen und die Invasion rechtfertigen zu können. Daher rechne ich nicht mit einem schnellen Gefangenenaustausch.
Vielleicht wird man den einen oder anderen als Angehörigen der ukrainischen Streitkräfte oder als Marinesoldaten identifizieren und früher übergeben. Aber dem Asow-Regiment wird man einen Schauprozess machen, denn Russland braucht etwas für die interne Propaganda. Weil es keine großen Siege gibt, wird man sagen: “Wir haben die Nazis in Mariupol besiegt.” Hauptsache, alle bleiben am Leben und werden nicht hingerichtet oder gefoltert. Soviel ich weiß, passiert das auch nicht, weil es gewisse Abmachungen gibt, die vom Roten Kreuz überwacht werden.
Der russische Regisseur Kirill Serebrennikow, der als russischer Dissident gilt, ist jüngst in die Kritik geraten. Er hatte sich bei den Filmfestspielen in Cannes gegen einen Boykott russischer Kultur und für Hilfen für die Familien russischer Soldaten ausgesprochen. Was meinen Sie dazu?
Man muss bedenken, dass Serebrennikow ein russischer und kein ukrainischer Regisseur ist und alles aus eigener Perspektive betrachtet. Er ist kein direkter Feind, aber auch kein direkter Freund. Man muss seinen Aussagen keine Beachtung schenken. Was das “Cancelling” betrifft, es ist nicht nur ein “Cancelling” der Kultur, es ist auch ein “Cancelling” Russlands.
Denn Russland ist für alle Verbrechen verantwortlich. Das Blut der ermordeten Kinder von Butscha, der gefolterten Männer und vergewaltigten Frauen klebt an den Händen jedes Russen – an denjenigen, die das getan haben, und an denen, von denen sie dorthin geschickt wurden, an denjenigen, die das unterstützen oder schweigen, aber auch an Kirill Serebrennikow, der sagt, man müsse russischen Soldaten helfen. Für mich klebt das Blut unschuldiger Opfer an all ihren Händen. Sie werden sich davon niemals reinwaschen können.
Wie wirkt sich der Krieg auf Ihre kreative Arbeit aus?
Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine schloss sich der ukrainische Regisseur Oleg Senzow der Territorialverteidigung an und zog in den Kampf. Seit 2014 gilt er als Ikone des Widerstands gegen Russlands Annexion der Krim. Im Mai jenes Jahres wurde Senzow von russischen Geheimdiensten wegen des Verdachts der Planung terroristischer Handlungen verhaftet, nach Moskau überstellt – und später in einem russischen Straflager inhaftiert. Immer wieder forderten Filmschaffende aus ganz Europa die Freilassung des Regisseurs. Nach seiner Freilassung im Rahmen eines Gefangenenaustausches im September 2019 konnte er in die Ukraine zurückkehren.
DW: Herr Senzow, Sie sind jetzt im Donbass. Wie ist die aktuelle Lage an der Front?
Oleg Senzow: Ich bin jetzt im schwierigsten Abschnitt bei Sjewjerodonezk in Richtung Bachmut. Dies ist der letzte Teil der Region Luhansk, der nicht von den Russen besetzt ist, aber sie versuchen es mit allen Kräften. Denn sie wollen irgendeinen Sieg vorweisen, in diesem Fall die “Befreiung” der Region Luhansk, wie sie sagen*.
In einem Video auf Facebook sagen Sie, es würden Mitglieder der ukrainischen Territorialverteidigung an die Front geschickt, die auf den Kampf nicht gut vorbereitet seien.
Das ist kein Vorwurf, sondern ein Problem, das schnell gelöst werden muss. Noch im Hinterland oder hier an der zweiten Verteidigungslinie oder weiter draußen muss das Training verbessert werden. Es gibt genug Leute, die in den Kampf ziehen wollen, sie sind sehr motiviert, aber sie müssen eben nur lernen, wie man es macht.
Ich bin seit zwei Monaten im Krieg und habe noch keinen einzigen Schuss abgegeben. Die Entfernung zwischen den Kriegsparteien ist groß und es gibt sehr selten Gefechte mit Schusswaffen. Hauptsächlich werden Artillerie, Mörser und Raketenwerfer eingesetzt, und die Infanterie hält nur die Stellungen. Es ist wichtig, unter diesen Bedingungen zu überleben und nicht zu sterben, nicht verletzt zu werden, nicht zur Last zu fallen. Das heißt, Überlebensfähigkeiten sind an der Front sehr wichtig.
Warum haben Sie sich in den ersten Tagen des Krieges der Territorialverteidigung angeschlossen?
Dort bekam man sofort ein Sturmgewehr. Im Rahmen der Mobilmachung hätte das länger gedauert, denn zu dem Zeitpunkt gab es in meinem Bezirk noch keine Einberufung. Ich bin gleich zur Territorialverteidigung gegangen, weil dort Waffen verteilt wurden. Die Situation war so, dass man sich bereits darüber im Klaren war, dass es eine Invasion in Kiew und bald Straßenkämpfe geben würde.
Ich habe in zwei Monaten viel dazugelernt. Dies ist ein ganz anderer Krieg, es handelt sich um intelligente Waffen, und daher ist es wichtig, solche Waffen zu erhalten. Wir haben nicht genug davon, unsere sind veraltet. Russland hat etwas neuere, aber nicht viele davon. Hier im Donbass zeigen sie, dass sie viel Munition haben. Sie quetschen uns damit einfach raus, wir werden zum Rückzug gezwungen, und sie besetzen nach und nach Stellungen. Sie verbrennen die Erde und bewegen sich wie ein Feuer über sie hinweg. Man kann dort nicht bleiben, weil man verbrennt. Das ist jetzt ihre Strategie. So haben sie es in Syrien und in Tschetschenien gemacht. In den ersten Kriegstagen hatten sie gedacht, sie könnten in Kolonnen die Ukraine einfach so besetzen. Aber das gelang ihnen nicht, also griffen sie auf die alte Strategie der verbrannten Erde zurück.
Was glauben Sie, wie lange wird dieser Krieg dauern?
Prognosen sind schwierig, aber ich denke zwei oder drei Jahre, darauf müssen wir uns einstellen. Denn wir müssen nicht nur hier siegen und Russland stoppen, unser Territorium befreien, sondern wir müssen auch Druck auf Russland ausüben, um dort einen Regimewechsel zu erreichen. Sonst wird das Problem bleiben. Auch wenn es einen Staatsstreich gibt und Putin durch Patruschew (Sekretär des Sicherheitsrats Russlands Nikolai Patruschew – Anm. d. Red.) oder Schoigu (Verteidigungsminister Russlands Sergei Schoigu – An. d. Red.) ersetzt wird, auch dann wird sich die Situation nicht ändern, auch dann wird Russland ein Problem bleiben.
Sie saßen fünf Jahre als politischer Gefangener in Russland hinter Gittern. Fürchten Sie nicht, diese Geschichte könnte sich wiederholen, falls Sie in Gefangenschaft geraten?
Nun, erstens kann man doch nicht zweimal so viel Pech haben. Das wäre etwas zu viel. Ich denke, dass ich meine Zeit in Gefangenschaft hinter mir habe und dass auf mich andere Prüfungen warten. Und zweitens, sollte ich gefangen genommen werden, würde man mich als ganz besonderen Feind kaum am Leben lassen.
Was erwartet die Verteidiger von “Asowstal”, die in russischer Gefangenschaft sind?
Man muss an das russische Narrativ denken, und da gibt es nur die Message von “Nazis” und “Faschisten”, mit der dieser Krieg ständig rechtfertigt wird. Jetzt wird man versuchen, einen aufsehenerregenden Prozess zu führen, um einen Sieg vorweisen und die Invasion rechtfertigen zu können. Daher rechne ich nicht mit einem schnellen Gefangenenaustausch.
Vielleicht wird man den einen oder anderen als Angehörigen der ukrainischen Streitkräfte oder als Marinesoldaten identifizieren und früher übergeben. Aber dem Asow-Regiment wird man einen Schauprozess machen, denn Russland braucht etwas für die interne Propaganda. Weil es keine großen Siege gibt, wird man sagen: “Wir haben die Nazis in Mariupol besiegt.” Hauptsache, alle bleiben am Leben und werden nicht hingerichtet oder gefoltert. Soviel ich weiß, passiert das auch nicht, weil es gewisse Abmachungen gibt, die vom Roten Kreuz überwacht werden.
Der russische Regisseur Kirill Serebrennikow, der als russischer Dissident gilt, ist jüngst in die Kritik geraten. Er hatte sich bei den Filmfestspielen in Cannes gegen einen Boykott russischer Kultur und für Hilfen für die Familien russischer Soldaten ausgesprochen. Was meinen Sie dazu?
Man muss bedenken, dass Serebrennikow ein russischer und kein ukrainischer Regisseur ist und alles aus eigener Perspektive betrachtet. Er ist kein direkter Feind, aber auch kein direkter Freund. Man muss seinen Aussagen keine Beachtung schenken. Was das “Cancelling” betrifft, es ist nicht nur ein “Cancelling” der Kultur, es ist auch ein “Cancelling” Russlands.
Denn Russland ist für alle Verbrechen verantwortlich. Das Blut der ermordeten Kinder von Butscha, der gefolterten Männer und vergewaltigten Frauen klebt an den Händen jedes Russen – an denjenigen, die das getan haben, und an denen, von denen sie dorthin geschickt wurden, an denjenigen, die das unterstützen oder schweigen, aber auch an Kirill Serebrennikow, der sagt, man müsse russischen Soldaten helfen. Für mich klebt das Blut unschuldiger Opfer an all ihren Händen. Sie werden sich davon niemals reinwaschen können.
Wie wirkt sich der Krieg auf Ihre kreative Arbeit aus?
Meine kreativen Pläne haben sich nicht geändert. Es gibt ein Drehbuch für einen Film. Mein Partner Denis Iwanow war in Cannes und bemüht sich um eine Kofinanzierung für das soziale ukrainische Drama “Kai” und für unser Projekt auf Englisch “Shining World”. Dies ist eine Kindergeschichte für Erwachsene, die ich in einer Zelle in einem russischen Gefängnis geschrieben habe. Wenn ich eine Idee habe, denke ich eine Weile darüber nach, sie lebt in mir und wird nach ein paar Monaten oder Jahren zu einem Drehbuch. Ich habe die Idee, einen großen Film über “Asowstal” zu machen. Aber solang der Krieg nicht vorbei ist, werde ich nicht hinter der Kamera stehen. Erst wieder nach dem Sieg.
* Das Interview wurde am 26.05 geführt.
* Das Interview wurde am 26.05 geführt.