Kultur

Stolpersteine sind sein Lebenswerk: Gunter Demnig zum 75.

Fast 95.000 Messingsteine in 31 Ländern hat Gunter Demnig bisher in den Boden verlegt, um an die Opfer des Holocaust zu erinnern. Jetzt wird der Bildhauer und Mahner gegen das Vergessen 75 Jahre alt.

Gunter Demnig hat eine Mission. Überall dort, wo die Nationalsozialisten gewütet haben, will er an ihre Verbrechen erinnern. Und er möchte den Opfern des Holocaust ihre Namen und ihre Würde zurückgeben, denn wie heißt es im Talmud: “Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist.”

Deswegen reist Gunter Demnig tagaus, tagein von Stadt zu Stadt und von Dorf zu Dorf, um seine Stolpersteine zu verlegen: zehn mal zehn Zentimeter kleine Messingplatten, die in die Gehwege vor den Wohnhäusern eingelassen werden und auf das Schicksal der früheren Bewohner aufmerksam machen:

Gunter Demnig hat eine Mission. Überall dort, wo die Nationalsozialisten gewütet haben, will er an ihre Verbrechen erinnern. Und er möchte den Opfern des Holocaust ihre Namen und ihre Würde zurückgeben, denn wie heißt es im Talmud: “Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist.”

Hier wohnte Max Liff. Jg. 1885. Deportiert 1942. Ermordet in Auschwitz.
Hier wohnte Berthold Liff. Jg. 1922. Deportiert 1942. Ermordet in Auschwitz.
Hier wohnte Jutta Liff geb. Leiser. Jg. 1896. Deportiert 1942. Ermordet in Auschwitz.

Gegen das Vergessen

Sechs Millionen Juden, sagte Demnig einmal gegenüber der Zeitschrift “Der Spiegel”, das sei doch eine unfassbare Zahl, “völlig abstrakt, genau wie der Begriff Auschwitz.” Vor allem die jüngere Generation könnte sich darunter kaum etwas vorstellen. “Aber wenn die mit eigenen Augen sehen: Der Terror startete hier bei mir auf dem Dorf, in meiner Straße, meinem Haus, dann wird’s konkret.”

Die ersten Stolpersteine verlegte der Bildhauer und Künstler Anfang der 90er-Jahre inoffiziell und ohne Genehmigung vor dem Kölner Rathaus. Seitdem hat sich Demnigs Projekt längst zur weltweit größten dezentralen Gedenkstätte entwickelt. 

Das Thema Holocaust und Krieg hat den gebürtigen Berliner schon immer beschäftigt. Geboren am 27. Oktober 1947 gehört er zu jener Generation, die als junge Erwachsene die Rolle ihrer Eltern in Hitlers Reich hinterfragten. Als er herausfand, dass sein Vater im Zweiten Weltkrieg Flugabwehrkanonen bedient hatte, sprach er fünf Jahre lang nicht mehr mit ihm.

Kunst hat für Gunter Demnig immer auch eine politische Botschaft. Gleich mit seinem ersten Kunstwerk sorgte er für Aufruhr: Während des Vietnam-Kriegs hisste er eine US-amerikanische Flagge auf eine Berliner Garage; allerdings hatte er die Sterne durch Totenköpfe ersetzt. Das brachte ihm drei Stunden Knast ein – und jede Menge Aufmerksamkeit.

Gleich mehrfach schuf Demnig Anfang der 1980er-Jahre rote Farbspuren über Ländergrenzen hinweg: Von Kassel bis Paris malte er einen farbigen Strich, von Kassel bis nach London legte er eine Spur aus Tierblut, wieder ein Jahr später rollte er einen roten Faden zwischen Kassel und Venedig aus. Damit wollte er – mit Augenmerk auf die Kunstausstellung documenta – gegen den Massenrummel im Kunstbetrieb protestieren. Und den kannte er gut, hatte er in Kassel doch Freie Kunst und Kunstpädagogik studiert.

Die Idee zu den Stolpersteinen kam Demnig bei einer weiteren Spurensuche. Im Frühjahr 1990 markierte er in Köln den Weg, auf dem die Nazis einst 1000 Roma und Sinti zum Abtransport in die Vernichtungslager getrieben hatten. “Spur der Erinnerungen” nannte er sein Projekt. Damals behauptete eine Frau ihm gegenüber, “Zigeuner” hätten dort nie gelebt. Das Kinn sei ihm damals runtergefallen, sagte er angesichts dieser Unwissenheit. Und ihm wurde klar: “Ich muss weitermachen.”

Seitdem macht Gunter Demnig fast nichts anderes mehr, als Stolpersteine zu verlegen. Zunächst in Köln und Berlin, dann auch in Polen, Österreich, Holland, Frankreich, der Ukraine, in Ungarn und einem halben Dutzend anderer europäischen Staaten, in denen die Nazis Menschen deportierten und ermordeten. Sie erinnern vor allem an jüdische Opfer, aber auch an Sinti und Roma, Homosexuelle, Menschen mit Behinderung und politisch Verfolgte.

Jedes Mal reist er dann mit Schlagbohrer, Stemmeisen und Kelle an, zersägt eine Gehplatte und setzt den metallbeschichteten Stein mit der Inschrift ein. Informationen über die Opfer, deren Namen er verewigt, erhält Demnig vom Hamburger Institut für die Geschichte der deutschen Juden. Außerdem wird sein Projekt von einem Netzwerk von Freiwilligen unterstützt, das Paten für die Steine wirbt und die Genehmigungen der Kommunen einholt.

Oft sind es die Nachkommen der Opfer, die einen Stein in Auftrag geben. 130 Euro nimmt Demnig pro Stück. Vorwürfe, er bereichere sich am Gedenken, weist er mit dem Hinweis auf die Material- und Logistikkosten zurück.

Für sein unermüdliches Engagement bekam der Künstler zahlreiche Auszeichnungen, darunter 2005 das Bundesverdienstkreuz und 2012 den Marion Dönhoff Förderpreis für internationale Verständigung und Versöhnung. Demnig lasse die Deutschen ein ums andere Mal über die nationalsozialistischen Verbrechen ‘stolpern’ und halte so die Erinnerung an die Opfer wach, hieß es in der Laudatio. Im gleichen Jahr erhielt der Künstler auch den Erich-Kästner-Preis, dessen Preisgeld von 10.000 Euro auch dem Neuen Jüdischen Friedhof in Dresden zugute kam: “Die Stolpersteine sind das Gegenteil von Verdrängung”, würdigte Laudator Avi Primor damals Demnigs Werk. “Sie liegen zu unseren Füßen, vor unseren Augen, und zwingen uns zum Hinschauen. Durch Projekte wie die Stolpersteine wurde ein Dialog zwischen den Menschen in Deutschland und Israel möglich.” 

Nicht alle finden Demnigs Arbeit gut. Prominenteste Kritikerin ist Charlotte Knobloch, Holocaust-Überlebende und Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern. Sie wirft Demnig vor, dass damit das Andenken der Menschen sprichwörtlich mit Füßen getreten werde. In München dürfen keine “Stolpersteine” auf öffentlichen Wegen verlegt werden.  

Woanders werden Stolpersteine immer wieder beschmiert, zerstört oder aus dem Pflaster herausgerissen. Aber es finden sich immer schnell Spender, die die Gedenktafeln erneuern lassen. Der Sorge, Neonazis könnten mit ihren Springerstiefeln auf dem Andenken der Opfer herumtrampeln, hält Demnig entgegen, dadurch würden die Steine umso blanker. Und: “Wer eine Inschrift auf einem Stolperstein lesen will, muss sich automatisch vor den Opfern verbeugen.”  

Besonders die Geschichte von zwei Schwestern, die sich 60 Jahre lang nicht gesehen haben, hat sich ihm eingebrannt.  Auf der Flucht aus Nazi-Deutschland habe es eine nach Kolumbien, die andere nach Schottland verschlagen. “Da standen sie dann vor dem ehemaligen Wohnhaus und sagten: ‘Jetzt sind wir wieder mit unseren Eltern zusammen.’ In solchen Momenten, weiß ich, wofür ich das mache.”

Jetzt wird Gunter Demnig 75. Ein bisschen kürzertreten möchte er, aber ans Aufhören denkt er noch nicht. Er wolle so lange weitermachen, wie es ihm die Knie erlaubten, sagt er. 95 Prozent aller Stolpersteine hat der Mann laut eigener Aussage selbst gesetzt. Bis August 2023 ist er ausgebucht. Der Zeitung FAZ sagte er einmal: “Kein Künstler, der in seinem Atelier hockt und Skulpturen hämmert, erlebt das, was ich erlebe.” 

Wenn es eines Tages körperlich nicht mehr so klappen sollte mit dem Steineverlegen, hat Gunter Demnig schon vorgesorgt: Er hat eine Stiftung gegründet, die seine Mission dann fortführen soll. 

Dies ist die aktualisierte Fassung eines Porträts zum 70. Geburtstag aus dem Jahr 2017.

Zwei Stolpersteine, daneben liegen Rosen
Gunter Demnig kniet und verlegt einen Stolperstein
Plakat: Hier fehlt ein Stolperstein auf einer beschädigten Gehplatte

Gunter Demnig hat eine Mission. Überall dort, wo die Nationalsozialisten gewütet haben, will er an ihre Verbrechen erinnern. Und er möchte den Opfern des Holocaust ihre Namen und ihre Würde zurückgeben, denn wie heißt es im Talmud: “Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist.”

Deswegen reist Gunter Demnig tagaus, tagein von Stadt zu Stadt und von Dorf zu Dorf, um seine Stolpersteine zu verlegen: zehn mal zehn Zentimeter kleine Messingplatten, die in die Gehwege vor den Wohnhäusern eingelassen werden und auf das Schicksal der früheren Bewohner aufmerksam machen:

Gegen das Vergessen

Hier wohnte Max Liff. Jg. 1885. Deportiert 1942. Ermordet in Auschwitz.
Hier wohnte Berthold Liff. Jg. 1922. Deportiert 1942. Ermordet in Auschwitz.
Hier wohnte Jutta Liff geb. Leiser. Jg. 1896. Deportiert 1942. Ermordet in Auschwitz.

Sechs Millionen Juden, sagte Demnig einmal gegenüber der Zeitschrift “Der Spiegel”, das sei doch eine unfassbare Zahl, “völlig abstrakt, genau wie der Begriff Auschwitz.” Vor allem die jüngere Generation könnte sich darunter kaum etwas vorstellen. “Aber wenn die mit eigenen Augen sehen: Der Terror startete hier bei mir auf dem Dorf, in meiner Straße, meinem Haus, dann wird’s konkret.”

Die ersten Stolpersteine verlegte der Bildhauer und Künstler Anfang der 90er-Jahre inoffiziell und ohne Genehmigung vor dem Kölner Rathaus. Seitdem hat sich Demnigs Projekt längst zur weltweit größten dezentralen Gedenkstätte entwickelt. 

Das Thema Holocaust und Krieg hat den gebürtigen Berliner schon immer beschäftigt. Geboren am 27. Oktober 1947 gehört er zu jener Generation, die als junge Erwachsene die Rolle ihrer Eltern in Hitlers Reich hinterfragten. Als er herausfand, dass sein Vater im Zweiten Weltkrieg Flugabwehrkanonen bedient hatte, sprach er fünf Jahre lang nicht mehr mit ihm.

Der Mann hinterlässt Spuren

Kunst hat für Gunter Demnig immer auch eine politische Botschaft. Gleich mit seinem ersten Kunstwerk sorgte er für Aufruhr: Während des Vietnam-Kriegs hisste er eine US-amerikanische Flagge auf eine Berliner Garage; allerdings hatte er die Sterne durch Totenköpfe ersetzt. Das brachte ihm drei Stunden Knast ein – und jede Menge Aufmerksamkeit.

Ein Mammutprojekt 

Gleich mehrfach schuf Demnig Anfang der 1980er-Jahre rote Farbspuren über Ländergrenzen hinweg: Von Kassel bis Paris malte er einen farbigen Strich, von Kassel bis nach London legte er eine Spur aus Tierblut, wieder ein Jahr später rollte er einen roten Faden zwischen Kassel und Venedig aus. Damit wollte er – mit Augenmerk auf die Kunstausstellung documenta – gegen den Massenrummel im Kunstbetrieb protestieren. Und den kannte er gut, hatte er in Kassel doch Freie Kunst und Kunstpädagogik studiert.

Die Idee zu den Stolpersteinen kam Demnig bei einer weiteren Spurensuche. Im Frühjahr 1990 markierte er in Köln den Weg, auf dem die Nazis einst 1000 Roma und Sinti zum Abtransport in die Vernichtungslager getrieben hatten. “Spur der Erinnerungen” nannte er sein Projekt. Damals behauptete eine Frau ihm gegenüber, “Zigeuner” hätten dort nie gelebt. Das Kinn sei ihm damals runtergefallen, sagte er angesichts dieser Unwissenheit. Und ihm wurde klar: “Ich muss weitermachen.”

Seitdem macht Gunter Demnig fast nichts anderes mehr, als Stolpersteine zu verlegen. Zunächst in Köln und Berlin, dann auch in Polen, Österreich, Holland, Frankreich, der Ukraine, in Ungarn und einem halben Dutzend anderer europäischen Staaten, in denen die Nazis Menschen deportierten und ermordeten. Sie erinnern vor allem an jüdische Opfer, aber auch an Sinti und Roma, Homosexuelle, Menschen mit Behinderung und politisch Verfolgte.

Preisgekrönte Arbeit

Jedes Mal reist er dann mit Schlagbohrer, Stemmeisen und Kelle an, zersägt eine Gehplatte und setzt den metallbeschichteten Stein mit der Inschrift ein. Informationen über die Opfer, deren Namen er verewigt, erhält Demnig vom Hamburger Institut für die Geschichte der deutschen Juden. Außerdem wird sein Projekt von einem Netzwerk von Freiwilligen unterstützt, das Paten für die Steine wirbt und die Genehmigungen der Kommunen einholt.

Oft sind es die Nachkommen der Opfer, die einen Stein in Auftrag geben. 130 Euro nimmt Demnig pro Stück. Vorwürfe, er bereichere sich am Gedenken, weist er mit dem Hinweis auf die Material- und Logistikkosten zurück.

Kein Gedanke ans Aufhören 

Für sein unermüdliches Engagement bekam der Künstler zahlreiche Auszeichnungen, darunter 2005 das Bundesverdienstkreuz und 2012 den Marion Dönhoff Förderpreis für internationale Verständigung und Versöhnung. Demnig lasse die Deutschen ein ums andere Mal über die nationalsozialistischen Verbrechen ‘stolpern’ und halte so die Erinnerung an die Opfer wach, hieß es in der Laudatio. Im gleichen Jahr erhielt der Künstler auch den Erich-Kästner-Preis, dessen Preisgeld von 10.000 Euro auch dem Neuen Jüdischen Friedhof in Dresden zugute kam: “Die Stolpersteine sind das Gegenteil von Verdrängung”, würdigte Laudator Avi Primor damals Demnigs Werk. “Sie liegen zu unseren Füßen, vor unseren Augen, und zwingen uns zum Hinschauen. Durch Projekte wie die Stolpersteine wurde ein Dialog zwischen den Menschen in Deutschland und Israel möglich.” 

Nicht alle finden Demnigs Arbeit gut. Prominenteste Kritikerin ist Charlotte Knobloch, Holocaust-Überlebende und Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern. Sie wirft Demnig vor, dass damit das Andenken der Menschen sprichwörtlich mit Füßen getreten werde. In München dürfen keine “Stolpersteine” auf öffentlichen Wegen verlegt werden.  

Gunter Demnig hinter aufgestapelten Stolpersteinen

Woanders werden Stolpersteine immer wieder beschmiert, zerstört oder aus dem Pflaster herausgerissen. Aber es finden sich immer schnell Spender, die die Gedenktafeln erneuern lassen. Der Sorge, Neonazis könnten mit ihren Springerstiefeln auf dem Andenken der Opfer herumtrampeln, hält Demnig entgegen, dadurch würden die Steine umso blanker. Und: “Wer eine Inschrift auf einem Stolperstein lesen will, muss sich automatisch vor den Opfern verbeugen.”  

Besonders die Geschichte von zwei Schwestern, die sich 60 Jahre lang nicht gesehen haben, hat sich ihm eingebrannt.  Auf der Flucht aus Nazi-Deutschland habe es eine nach Kolumbien, die andere nach Schottland verschlagen. “Da standen sie dann vor dem ehemaligen Wohnhaus und sagten: ‘Jetzt sind wir wieder mit unseren Eltern zusammen.’ In solchen Momenten, weiß ich, wofür ich das mache.”

Jetzt wird Gunter Demnig 75. Ein bisschen kürzertreten möchte er, aber ans Aufhören denkt er noch nicht. Er wolle so lange weitermachen, wie es ihm die Knie erlaubten, sagt er. 95 Prozent aller Stolpersteine hat der Mann laut eigener Aussage selbst gesetzt. Bis August 2023 ist er ausgebucht. Der Zeitung FAZ sagte er einmal: “Kein Künstler, der in seinem Atelier hockt und Skulpturen hämmert, erlebt das, was ich erlebe.” 

Wenn es eines Tages körperlich nicht mehr so klappen sollte mit dem Steineverlegen, hat Gunter Demnig schon vorgesorgt: Er hat eine Stiftung gegründet, die seine Mission dann fortführen soll. 

Dies ist die aktualisierte Fassung eines Porträts zum 70. Geburtstag aus dem Jahr 2017.

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