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Juri Andruchowytsch: “Die russische Gesellschaft ist in starkem Verfall”

Der Schriftsteller Juri Andruchowytsch spricht im DW-Interview über das wachsende Interesse an ukrainischer Literatur im Westen, einen Dialog mit Vertretern der russischen Kultur – und über ein Ende des Krieges.

In der Ukraine wird Juri Andruchowytsch als Patriarch der modernen ukrainischen Literatur bezeichnet. Im Westen gilt er als einer der bekanntesten und einflussreichsten europäischen zeitgenössischen Autoren. Andruchowytschs Romane wurden in mehr als 20 Sprachen übersetzt. Jüngst wurde der Schriftsteller mit dem Heinrich-Heine-Preis der Stadt Düsseldorf geehrt. Anfang Oktober erschien in Deutschland Andruchowytschs neuer Roman “Radio Nacht”. Die DW sprach mit ihm während einer Reise durch Deutschland anlässlich der Veröffentlichung seines Buches.

DW: Herr Andruchowytsch, worin besteht – während des Krieges in der Ukraine – Ihre Mission im Ausland als Repräsentant der ukrainischen Kultur?

In der Ukraine wird Juri Andruchowytsch als Patriarch der modernen ukrainischen Literatur bezeichnet. Im Westen gilt er als einer der bekanntesten und einflussreichsten europäischen zeitgenössischen Autoren. Andruchowytschs Romane wurden in mehr als 20 Sprachen übersetzt. Jüngst wurde der Schriftsteller mit dem Heinrich-Heine-Preis der Stadt Düsseldorf geehrt. Anfang Oktober erschien in Deutschland Andruchowytschs neuer Roman “Radio Nacht”. Die DW sprach mit ihm während einer Reise durch Deutschland anlässlich der Veröffentlichung seines Buches.

Juri Andruchowytsch: Sie hängt zum großen Teil mit der besonderen Situation in unserem Land zusammen. Sie ist Thema bei jedem meiner Treffen mit Leserinnen und Lesern. Nicht nur ich, sondern auch alle ukrainischen Künstler, die Auftritte oder Projekte im Ausland haben, zeigen, dass unser Land nicht unterzukriegen ist, dass unsere Kultur nicht nur irgendwie überlebt, sondern äußerst aktiv ist, auch wenn sie sich in einem ziemlich turbulenten Zustand befindet. Im europäischen Bewusstsein, insbesondere hier in Deutschland, gab es schon lange keine solche kulturelle Präsenz. Dieser Moment sollte genutzt werden.

Wie ist Ihrer Meinung nach die derzeitige Stimmung in der deutschen Gesellschaft, was den Krieg in der Ukraine angeht?

Mein Gefühl ist, dass uns die Mehrheit der Gesellschaft unterstützt und immer besser versteht, warum wir uns auf keinen schnellen Waffenstillstand einlassen und mit dem Feind nicht verhandeln können. Aber es gibt einen Teil der Gesellschaft, der traditionell prorussisch ist, was besonders für die Regionen der ehemaligen DDR charakteristisch ist, oder es sind einfach Pazifisten, die nur eines sehen: “Frieden so schnell wie möglich, weil Krieg schlecht ist.” Dann gibt es noch eine antiamerikanische Haltung, die tief in der Mentalität der deutschen Nation sitzt. Das sind Leute, die immer noch glauben, dass dies ein amerikanisch-russischer Konflikt ist, dass die Ukraine nichts entscheidet und von diesen beiden mächtigen Kräften auseinandergerissen wird – obwohl nur eine von ihnen, wie wir heute sehen, wirklich mächtig ist.

Weder ein Schriftsteller noch eine ganze Gruppe von Schriftstellern kann hier grundlegend etwas verändern, denn solche Menschen kommen gar nicht zu ihren Treffen. Aber ich denke, dass alles zusammen, sowohl die politischen Bemühungen, vor allem die Erfolge unserer Streitkräfte, als auch die Kulturdiplomatie auf vielen Ebenen allmählich das Bild verändern und positiv wirken.

Ist die deutsche Gesellschaft der Ukraine gegenüber offener geworden?

Auf jeden Fall. Ich weiß, wie es früher war. Ich erinnere mich an die Schwierigkeiten, die es nach dem Euromaidan und dem Beginn der russischen Invasion 2014 und 2015 zu überwinden galt. Journalisten, mit denen ich damals gesprochen habe, waren eher bereit zuzuhören. Aber bei solchen Treffen war es sehr schwierig, denn sture Leute aus dem Publikum stellten Fragen zu irgendwelchen Neonazis und sagten, die Krim sei schon immer russisch gewesen. Mit anderen Worten: “Vergesst die Krim und lebt in Frieden und Harmonie mit den Russen.”

Wie hat sich Ihr Leben in diesen acht Monaten des Krieges verändert?

Wir in den westlichen Regionen der Ukraine, insbesondere in Iwano-Frankiwsk, mussten noch nicht all die vielen Prüfungen erleben, die unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger im Osten des Landes durchmachen. Aber natürlich verändert der Krieg auch mein Leben. Zunächst verbrachte ich viel Zeit mit der Kommunikation mit ausländischen Medien. Ich bekam viele Anrufe, gab Interviews, kommentierte. Dann begann eine Phase, in der ich Texte für ausländische Zeitungen schrieb.

Bei einem Literaturfestival in Norwegen sind Sie zusammen mit dem russischsprachigen Schriftsteller Michail Schischkin aufgetreten. Dies hat einen gewissen Teil der ukrainischen Gesellschaft empört. Was halten Sie von einem Dialog mit Vertretern der russischen Kultur unter den jetzigen Bedingungen?

Dies sind sehr individuelle und persönliche Dinge, die man in einem bestimmten Kontext betrachten sollte. Man muss in jedem einzelnen Fall so vorgehen, damit dies der Ukraine so viel Nutzen wie möglich bringt. Am einfachsten wäre es, die Kommunikation einfach abzulehnen und beispielsweise den Organisatoren des norwegischen Festivals mitzuteilen, mit Russen würden wir nicht sprechen. Aber es gibt einen anderen Weg. Man kann hingehen und darüber sprechen, was man für wichtig hält. Zumal mein Gesprächspartner Michail Schischkin ein Narrativ vertritt, das für die Ukraine sehr nützlich und notwendig ist. Also, hier gibt es kein einheitliches Prinzip. Hier unterscheide ich mich von denen, die, wie Sie sagen, empört waren.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat nach der Anordnung einer Teilmobilmachung in Russland die Russen gewarnt, sich am Krieg in der Ukraine zu beteiligen. Macht es Sinn, sich heute so an die Russen zu wenden?

Ich denke, dass dies aus taktischen Gründen gut und richtig ist, weil dies Verwirrung stiftet. Dies ist Teil des Informationskrieges. Selenskyj beteiligt sich persönlich daran und appelliert an die Bevölkerung. Aber die andere Seite wird einen solchen Dialog nicht erwidern. Russland hat diese Ebene noch nicht erreicht. Dies ist eine Gesellschaft in starkem Verfall, sie ist degradiert und degradiert immer mehr. Das heißt, man wird Selenskyj gar nicht wahrnehmen. Umfragen zeigen, dass die unpopuläre Mobilmachung die Russen nicht verändert. Sie bessern sich nicht, gehen nicht mit Protesten auf die Straße. Aber dies bedeutet nicht, dass es immer so bleiben wird.

Unter welchen Umständen kann Russlands Krieg gegen die Ukraine enden?

Hier ist zweifellos das Versagen des Militärs unseres Feindes und die Erschöpfung seiner Ressourcen an Waffen zu nennen, denn seine Ressourcen an Menschen sind noch groß, allerdings sind sie von immer schlechterer Qualität. Für mich wird ein klares Zeichen des Sieges die Wiederherstellung der international anerkannten Grenzen der Ukraine sein, mit denen unser unabhängiger Staat begann. Die zweite Etappe des Sieges wird dann der unvermeidliche Beitritt zur NATO und zur EU sein, was die Tatsache festschreiben wird, dass wir Teil der westlichen Welt geworden sind. Und dass der russische Aggressor nie wieder jemals einmarschiert – unter keinen Umständen, egal wie sich sein innenpolitisches Leben verändern wird. Und das für immer. 

Wie wird die Ukraine nach einem Sieg in diesem Krieg aussehen?

Ein Sieg bedeutet großes Selbstvertrauen und sozialen Optimismus. Davon gibt es auch heute schon ziemlich viel. Erstaunlich hohe Prozentzahlen zeigen, dass die Ukrainer optimistisch in die Zukunft blicken. Wenn dieser Zustand noch durch einen Sieg untermauert wird, dann wird dies ein sehr großes Plus für den Wiederaufbau der Ukraine und ihre vollständige Erneuerung sein. Aber es wird auch viel Schmerz und Trauer geben, denn unzählige Menschen haben alles oder etwas ganz Wichtiges verloren. Es wird eine sehr große Anstrengung der gesamten Gesellschaft erfordern, sie aus der Depression herauszuholen und zurück ins Leben zu führen. Es wird auf unserem Weg noch viele Gefahren geben, verschiedene Trennlinien zwischen Menschen, die im Ausland saßen, die an der Front gekämpft haben oder unter Besatzung waren und so weiter. Man kann, wenn man will, noch viele Konflikte aufzählen. Um sie zu vermeiden, sollte man sich schon jetzt klarmachen, welches negative Potenzial sie haben können.

Das Gespräch führte Marina Baranovska

Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk

Juri Andruchowytschs Buch Radio Nacht
Juri Andruchowytsch (links) bei der Vorstellung seines Buches Radio Nacht in Bonn

In der Ukraine wird Juri Andruchowytsch als Patriarch der modernen ukrainischen Literatur bezeichnet. Im Westen gilt er als einer der bekanntesten und einflussreichsten europäischen zeitgenössischen Autoren. Andruchowytschs Romane wurden in mehr als 20 Sprachen übersetzt. Jüngst wurde der Schriftsteller mit dem Heinrich-Heine-Preis der Stadt Düsseldorf geehrt. Anfang Oktober erschien in Deutschland Andruchowytschs neuer Roman “Radio Nacht”. Die DW sprach mit ihm während einer Reise durch Deutschland anlässlich der Veröffentlichung seines Buches.

DW: Herr Andruchowytsch, worin besteht – während des Krieges in der Ukraine – Ihre Mission im Ausland als Repräsentant der ukrainischen Kultur?

Juri Andruchowytsch: Sie hängt zum großen Teil mit der besonderen Situation in unserem Land zusammen. Sie ist Thema bei jedem meiner Treffen mit Leserinnen und Lesern. Nicht nur ich, sondern auch alle ukrainischen Künstler, die Auftritte oder Projekte im Ausland haben, zeigen, dass unser Land nicht unterzukriegen ist, dass unsere Kultur nicht nur irgendwie überlebt, sondern äußerst aktiv ist, auch wenn sie sich in einem ziemlich turbulenten Zustand befindet. Im europäischen Bewusstsein, insbesondere hier in Deutschland, gab es schon lange keine solche kulturelle Präsenz. Dieser Moment sollte genutzt werden.

Wie ist Ihrer Meinung nach die derzeitige Stimmung in der deutschen Gesellschaft, was den Krieg in der Ukraine angeht?

Mein Gefühl ist, dass uns die Mehrheit der Gesellschaft unterstützt und immer besser versteht, warum wir uns auf keinen schnellen Waffenstillstand einlassen und mit dem Feind nicht verhandeln können. Aber es gibt einen Teil der Gesellschaft, der traditionell prorussisch ist, was besonders für die Regionen der ehemaligen DDR charakteristisch ist, oder es sind einfach Pazifisten, die nur eines sehen: “Frieden so schnell wie möglich, weil Krieg schlecht ist.” Dann gibt es noch eine antiamerikanische Haltung, die tief in der Mentalität der deutschen Nation sitzt. Das sind Leute, die immer noch glauben, dass dies ein amerikanisch-russischer Konflikt ist, dass die Ukraine nichts entscheidet und von diesen beiden mächtigen Kräften auseinandergerissen wird – obwohl nur eine von ihnen, wie wir heute sehen, wirklich mächtig ist.

Weder ein Schriftsteller noch eine ganze Gruppe von Schriftstellern kann hier grundlegend etwas verändern, denn solche Menschen kommen gar nicht zu ihren Treffen. Aber ich denke, dass alles zusammen, sowohl die politischen Bemühungen, vor allem die Erfolge unserer Streitkräfte, als auch die Kulturdiplomatie auf vielen Ebenen allmählich das Bild verändern und positiv wirken.

Ist die deutsche Gesellschaft der Ukraine gegenüber offener geworden?

Auf jeden Fall. Ich weiß, wie es früher war. Ich erinnere mich an die Schwierigkeiten, die es nach dem Euromaidan und dem Beginn der russischen Invasion 2014 und 2015 zu überwinden galt. Journalisten, mit denen ich damals gesprochen habe, waren eher bereit zuzuhören. Aber bei solchen Treffen war es sehr schwierig, denn sture Leute aus dem Publikum stellten Fragen zu irgendwelchen Neonazis und sagten, die Krim sei schon immer russisch gewesen. Mit anderen Worten: “Vergesst die Krim und lebt in Frieden und Harmonie mit den Russen.”

Wie hat sich Ihr Leben in diesen acht Monaten des Krieges verändert?

Wir in den westlichen Regionen der Ukraine, insbesondere in Iwano-Frankiwsk, mussten noch nicht all die vielen Prüfungen erleben, die unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger im Osten des Landes durchmachen. Aber natürlich verändert der Krieg auch mein Leben. Zunächst verbrachte ich viel Zeit mit der Kommunikation mit ausländischen Medien. Ich bekam viele Anrufe, gab Interviews, kommentierte. Dann begann eine Phase, in der ich Texte für ausländische Zeitungen schrieb.

Bei einem Literaturfestival in Norwegen sind Sie zusammen mit dem russischsprachigen Schriftsteller Michail Schischkin aufgetreten. Dies hat einen gewissen Teil der ukrainischen Gesellschaft empört. Was halten Sie von einem Dialog mit Vertretern der russischen Kultur unter den jetzigen Bedingungen?

Dies sind sehr individuelle und persönliche Dinge, die man in einem bestimmten Kontext betrachten sollte. Man muss in jedem einzelnen Fall so vorgehen, damit dies der Ukraine so viel Nutzen wie möglich bringt. Am einfachsten wäre es, die Kommunikation einfach abzulehnen und beispielsweise den Organisatoren des norwegischen Festivals mitzuteilen, mit Russen würden wir nicht sprechen. Aber es gibt einen anderen Weg. Man kann hingehen und darüber sprechen, was man für wichtig hält. Zumal mein Gesprächspartner Michail Schischkin ein Narrativ vertritt, das für die Ukraine sehr nützlich und notwendig ist. Also, hier gibt es kein einheitliches Prinzip. Hier unterscheide ich mich von denen, die, wie Sie sagen, empört waren.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat nach der Anordnung einer Teilmobilmachung in Russland die Russen gewarnt, sich am Krieg in der Ukraine zu beteiligen. Macht es Sinn, sich heute so an die Russen zu wenden?

Ich denke, dass dies aus taktischen Gründen gut und richtig ist, weil dies Verwirrung stiftet. Dies ist Teil des Informationskrieges. Selenskyj beteiligt sich persönlich daran und appelliert an die Bevölkerung. Aber die andere Seite wird einen solchen Dialog nicht erwidern. Russland hat diese Ebene noch nicht erreicht. Dies ist eine Gesellschaft in starkem Verfall, sie ist degradiert und degradiert immer mehr. Das heißt, man wird Selenskyj gar nicht wahrnehmen. Umfragen zeigen, dass die unpopuläre Mobilmachung die Russen nicht verändert. Sie bessern sich nicht, gehen nicht mit Protesten auf die Straße. Aber dies bedeutet nicht, dass es immer so bleiben wird.

Unter welchen Umständen kann Russlands Krieg gegen die Ukraine enden?

Hier ist zweifellos das Versagen des Militärs unseres Feindes und die Erschöpfung seiner Ressourcen an Waffen zu nennen, denn seine Ressourcen an Menschen sind noch groß, allerdings sind sie von immer schlechterer Qualität. Für mich wird ein klares Zeichen des Sieges die Wiederherstellung der international anerkannten Grenzen der Ukraine sein, mit denen unser unabhängiger Staat begann. Die zweite Etappe des Sieges wird dann der unvermeidliche Beitritt zur NATO und zur EU sein, was die Tatsache festschreiben wird, dass wir Teil der westlichen Welt geworden sind. Und dass der russische Aggressor nie wieder jemals einmarschiert – unter keinen Umständen, egal wie sich sein innenpolitisches Leben verändern wird. Und das für immer. 

Wie wird die Ukraine nach einem Sieg in diesem Krieg aussehen?

Ein Sieg bedeutet großes Selbstvertrauen und sozialen Optimismus. Davon gibt es auch heute schon ziemlich viel. Erstaunlich hohe Prozentzahlen zeigen, dass die Ukrainer optimistisch in die Zukunft blicken. Wenn dieser Zustand noch durch einen Sieg untermauert wird, dann wird dies ein sehr großes Plus für den Wiederaufbau der Ukraine und ihre vollständige Erneuerung sein. Aber es wird auch viel Schmerz und Trauer geben, denn unzählige Menschen haben alles oder etwas ganz Wichtiges verloren. Es wird eine sehr große Anstrengung der gesamten Gesellschaft erfordern, sie aus der Depression herauszuholen und zurück ins Leben zu führen. Es wird auf unserem Weg noch viele Gefahren geben, verschiedene Trennlinien zwischen Menschen, die im Ausland saßen, die an der Front gekämpft haben oder unter Besatzung waren und so weiter. Man kann, wenn man will, noch viele Konflikte aufzählen. Um sie zu vermeiden, sollte man sich schon jetzt klarmachen, welches negative Potenzial sie haben können.

Das Gespräch führte Marina Baranovska

Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk

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