Türkei: Religiöse Radikale, eine Zwangsheirat und die AKP
Die ultrakonservative Ismail-Aga-Gemeinde in der Türkei ist eng verbunden mit der Regierungspartei AKP. Ihr Einfluss wird nun zum öffentlichen Skandal. Grund: die Zwangsverheiratung einer Sechsjährigen.
“Dass es nicht normal ist, mit sechs Jahren verheiratet zu werden, das habe ich erst verstanden, als ich es auf dem Handy recherchiert habe.” Das hat laut Anklageschrift eine junge Frau zu Protokoll gegeben, die jetzt 24 Jahre alt ist.
Als sie sechs Jahre alt war, hatte ihr Vater sie zur Ehe mit einem damals 29-jährigen Mann gezwungen. Der Vater ist ein einflussreiches Mitglied der türkischen Ismail-Aga-Gemeinde, zu der auch der Ehemann gehört. Sie schlossen eine sogenannte Imam-Ehe, eine islamische Ehe vor einem Geistlichen. Sie wird in der Türkei nicht legal anerkannt, aber viele Türkinnen und Türken vollziehen sie als Brauchtum ergänzend zur standesamtlichen Ehe, praktizierende Muslime ebenso wie säkular Lebende. Als das Mädchen 18 Jahre alt war, wurde es standesamtlich verheiratet; mittlerweile ist das Paar geschieden.
“Dass es nicht normal ist, mit sechs Jahren verheiratet zu werden, das habe ich erst verstanden, als ich es auf dem Handy recherchiert habe.” Das hat laut Anklageschrift eine junge Frau zu Protokoll gegeben, die jetzt 24 Jahre alt ist.
Die Geschichte wurde publik, nachdem die betroffene Frau Anzeige erstattete und der Journalist Timur Soykan in der linken Tageszeitung “BirGün” darüber berichtete. Der Mann soll mit dem Mädchen sexuellen Kontakt gehabt haben, als es noch ein Kind war, ihm also sexualisierte Gewalt angetan haben. Inzwischen wurden Ermittlungen gegen den Ex-Mann aufgenommen, ihm wird “Vergewaltigung einer Minderjährigen” vorgeworfen. In der Anklageschrift befinden sich unter anderem Bilder von dem Mädchen im Hochzeitskleid.
Unterstützer der Regierungspartei AKP
Obwohl über dieses Thema in der türkischen Öffentlichkeit seit Tagen diskutiert wird, hat die Regierung mehrere Tage gebraucht, um sich zu äußern. Dabei hat der Sprecher der Regierungspartei AKP generell “Kindesmissbrauch” kritisiert, aber nicht die Ismail-Aga-Gemeinde erwähnt, die bei den Wahlen die AKP unterstützt.
Die Ismail-Aga-Gemeinde gilt als eine der größten orthodox-sunnitischen Gemeinden in der Türkei. Sie predigt gegen den Laizismus, also die Trennung von Staat und Religion, auf der die türkische Staatsräson ursprünglich basiert. Die weiblichen Mitglieder müssen sich verhüllen, die männlichen Bärte trägen. Die Ismail-Aga-Gemeinde unterhält eigene Koranschulen und Studentenwohnheime. Gegründet hat sie 1980 der Imam Mahmut Ustaosmanoglu, der sie danach 42 Jahre lang leitete. Als er im Juni dieses Jahres starb, nahmen an seiner Beerdigung Präsident Recep Tayyip Erdogan und mehrere Minister der AKP teil. Auch zu Lebzeiten pflegte Ustaosmanoglu ein gutes Verhältnis zu Erdogan, der ihn mehrfach in der Gemeinde in Istanbul besuchte.
Und ihr Einfluss fällt auch jenseits der türkischen Staatsgrenzen auf: Deutsche Sicherheitsbehörden haben ein Auge auf die Ismail-Aga-Gemeinde, der baden-württembergische Verfassungsschutz wirft ihr vor, “eine umfassende Gültigkeit der Scharia zu propagieren”.
Religiöse Gemeinschaften waren in der Türkei nach der Gründung der Republik vor 100 Jahren verboten worden. Im Laufe der vergangenen Jahrzehnte wurden sie jedoch neu gegründet oder zu neuem Leben erweckt. Bis vor 20 Jahren, also vor Beginn der AKP-Herrschaft, waren sie kleine, einflusslose radikale Organisationen am Rand der Gesellschaft. Heute sind sie allerdings einflussreicher denn je. Besonders politische Parteien am rechten Rand pflegen enge Beziehungen zu islamistischen Gemeinden.
Eine besonders einflussreiche islamistische Gruppierung war die Gülen-Bewegung. Wie groß ihre gesellschaftliche Macht tatsächlich war, ist erst durch den gescheiterten Militärputsch 2016 öffentlich bekannt geworden, quasi über einen Umweg: Denn weil Präsident Recep Tayyip Erdogan seinen einstigen engen Vertrauten Fethullah Gülen und dessen Anhänger für den Putschversuch verantwortlich machte, ließ er sie aus allen Ämtern entfernen. In Ministerien, Bürokratie und Justiz fehlten danach über hunderttausend Beschäftigte.
Beobachter behaupten, dass diese Lücken zum Teil mit Mitgliedern der Ismail-Aga-Gemeinde gefüllt worden seien. Tatsächlich arbeiten viele Menschen, die in der Ismail-Aga-Gemeinde ausgebildet wurden, heute in der türkischen Justiz, der Polizei, bei den Streitkräften sowie im Bildungsministerium.
2007 ermittelte Ilhan Cihaner, damals Oberstaatsanwalt in der osttürkischen Stadt Erzincan, gegen die Gemeinde wegen Betrugs, illegaler Spendensammlungen und illegalen Unterrichts von Kindern im Vor- und Grundschulalter. Die Regierung stoppte seine Bemühungen und ließ stattdessen Cihaner verhaften und gegen ihn ermitteln.
Cihaner, heute Parlamentarier der oppositionellen CHP, betont im Gespräch mit der DW den Einfluss der extremistischen religiösen Gemeinden. “Früher hat die Gülen-Bewegung die Wirtschaft, die Bürokratie, die Justiz und sogar die Armee kontrolliert. Und das, obwohl sie nicht mal zwei oder drei Prozent der türkischen Gesellschaft repräsentiert haben.”
Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Metropoll haben nur 4,3 Prozent aller Türken eine feste Verbindung zu einer religiösen Gemeinde. Politisch jedoch spielen sie eine überproportional große Rolle.
Das hat auch damit zu tun, sagt der Sozialwissenschaftler Ihsan Dagi von der Technischen Universität des Nahen Ostens in Ankara, dass sie sich gut vermarkten und damit ihre Macht gekonnt aufbauschen. “Damit erhöhen sie ihre Verhandlungsfähigkeit mit der Politik, sie verhandeln auf einer viel höheren Stufe, als die, auf der sie eigentlich stehen.”
Die Ismail-Aga-Gemeinde ist nicht die einzige dieser extrem konservativen Gruppierungen. Es gibt etliche Gemeinden, die miteinander um Einfluss in Politik und Gesellschaft konkurrieren. “Wenn sie mit ihrer Macht prahlen”, so Dagi, “dann schicken sie damit auch eine Botschaft an rivalisierende Gemeinden: Wir sind stärker als ihr. Und das hilft ihnen, Anhänger abzuwerben.”
Im Fall der Ismail-Aga-Gemeinde haben die Anhänger mit einem Shitstorm gegen Timur Soykan und seine Berichterstattung reagiert. Aus islamistischen Kreisen kam die Forderung, den Journalisten zu verhaften. Wie es der betroffenen Frau heute geht, ist nicht bekannt. Ihr Bruder und ihre Schwestern haben ein YouTube-Video veröffentlicht, in dem sie den Vorwürfen widersprechen. Für die türkische Öffentlichkeit ist die Geschichte ein seltener Blick hinter die Türen dieses geschlossenen religiösen Zirkels.
Mitarbeit: Alican Uludag und Gülsen Solaker
“Dass es nicht normal ist, mit sechs Jahren verheiratet zu werden, das habe ich erst verstanden, als ich es auf dem Handy recherchiert habe.” Das hat laut Anklageschrift eine junge Frau zu Protokoll gegeben, die jetzt 24 Jahre alt ist.
Als sie sechs Jahre alt war, hatte ihr Vater sie zur Ehe mit einem damals 29-jährigen Mann gezwungen. Der Vater ist ein einflussreiches Mitglied der türkischen Ismail-Aga-Gemeinde, zu der auch der Ehemann gehört. Sie schlossen eine sogenannte Imam-Ehe, eine islamische Ehe vor einem Geistlichen. Sie wird in der Türkei nicht legal anerkannt, aber viele Türkinnen und Türken vollziehen sie als Brauchtum ergänzend zur standesamtlichen Ehe, praktizierende Muslime ebenso wie säkular Lebende. Als das Mädchen 18 Jahre alt war, wurde es standesamtlich verheiratet; mittlerweile ist das Paar geschieden.
Unterstützer der Regierungspartei AKP
Die Geschichte wurde publik, nachdem die betroffene Frau Anzeige erstattete und der Journalist Timur Soykan in der linken Tageszeitung “BirGün” darüber berichtete. Der Mann soll mit dem Mädchen sexuellen Kontakt gehabt haben, als es noch ein Kind war, ihm also sexualisierte Gewalt angetan haben. Inzwischen wurden Ermittlungen gegen den Ex-Mann aufgenommen, ihm wird “Vergewaltigung einer Minderjährigen” vorgeworfen. In der Anklageschrift befinden sich unter anderem Bilder von dem Mädchen im Hochzeitskleid.
Obwohl über dieses Thema in der türkischen Öffentlichkeit seit Tagen diskutiert wird, hat die Regierung mehrere Tage gebraucht, um sich zu äußern. Dabei hat der Sprecher der Regierungspartei AKP generell “Kindesmissbrauch” kritisiert, aber nicht die Ismail-Aga-Gemeinde erwähnt, die bei den Wahlen die AKP unterstützt.
Die Ismail-Aga-Gemeinde gilt als eine der größten orthodox-sunnitischen Gemeinden in der Türkei. Sie predigt gegen den Laizismus, also die Trennung von Staat und Religion, auf der die türkische Staatsräson ursprünglich basiert. Die weiblichen Mitglieder müssen sich verhüllen, die männlichen Bärte trägen. Die Ismail-Aga-Gemeinde unterhält eigene Koranschulen und Studentenwohnheime. Gegründet hat sie 1980 der Imam Mahmut Ustaosmanoglu, der sie danach 42 Jahre lang leitete. Als er im Juni dieses Jahres starb, nahmen an seiner Beerdigung Präsident Recep Tayyip Erdogan und mehrere Minister der AKP teil. Auch zu Lebzeiten pflegte Ustaosmanoglu ein gutes Verhältnis zu Erdogan, der ihn mehrfach in der Gemeinde in Istanbul besuchte.
Und ihr Einfluss fällt auch jenseits der türkischen Staatsgrenzen auf: Deutsche Sicherheitsbehörden haben ein Auge auf die Ismail-Aga-Gemeinde, der baden-württembergische Verfassungsschutz wirft ihr vor, “eine umfassende Gültigkeit der Scharia zu propagieren”.
Statt Gülen-Bewegung nun Ismail-Aga-Gemeinde
Religiöse Gemeinschaften waren in der Türkei nach der Gründung der Republik vor 100 Jahren verboten worden. Im Laufe der vergangenen Jahrzehnte wurden sie jedoch neu gegründet oder zu neuem Leben erweckt. Bis vor 20 Jahren, also vor Beginn der AKP-Herrschaft, waren sie kleine, einflusslose radikale Organisationen am Rand der Gesellschaft. Heute sind sie allerdings einflussreicher denn je. Besonders politische Parteien am rechten Rand pflegen enge Beziehungen zu islamistischen Gemeinden.
Konkurrenzkampf um Anhänger
Eine besonders einflussreiche islamistische Gruppierung war die Gülen-Bewegung. Wie groß ihre gesellschaftliche Macht tatsächlich war, ist erst durch den gescheiterten Militärputsch 2016 öffentlich bekannt geworden, quasi über einen Umweg: Denn weil Präsident Recep Tayyip Erdogan seinen einstigen engen Vertrauten Fethullah Gülen und dessen Anhänger für den Putschversuch verantwortlich machte, ließ er sie aus allen Ämtern entfernen. In Ministerien, Bürokratie und Justiz fehlten danach über hunderttausend Beschäftigte.
Beobachter behaupten, dass diese Lücken zum Teil mit Mitgliedern der Ismail-Aga-Gemeinde gefüllt worden seien. Tatsächlich arbeiten viele Menschen, die in der Ismail-Aga-Gemeinde ausgebildet wurden, heute in der türkischen Justiz, der Polizei, bei den Streitkräften sowie im Bildungsministerium.
2007 ermittelte Ilhan Cihaner, damals Oberstaatsanwalt in der osttürkischen Stadt Erzincan, gegen die Gemeinde wegen Betrugs, illegaler Spendensammlungen und illegalen Unterrichts von Kindern im Vor- und Grundschulalter. Die Regierung stoppte seine Bemühungen und ließ stattdessen Cihaner verhaften und gegen ihn ermitteln.
Cihaner, heute Parlamentarier der oppositionellen CHP, betont im Gespräch mit der DW den Einfluss der extremistischen religiösen Gemeinden. “Früher hat die Gülen-Bewegung die Wirtschaft, die Bürokratie, die Justiz und sogar die Armee kontrolliert. Und das, obwohl sie nicht mal zwei oder drei Prozent der türkischen Gesellschaft repräsentiert haben.”
Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Metropoll haben nur 4,3 Prozent aller Türken eine feste Verbindung zu einer religiösen Gemeinde. Politisch jedoch spielen sie eine überproportional große Rolle.
Das hat auch damit zu tun, sagt der Sozialwissenschaftler Ihsan Dagi von der Technischen Universität des Nahen Ostens in Ankara, dass sie sich gut vermarkten und damit ihre Macht gekonnt aufbauschen. “Damit erhöhen sie ihre Verhandlungsfähigkeit mit der Politik, sie verhandeln auf einer viel höheren Stufe, als die, auf der sie eigentlich stehen.”
Die Ismail-Aga-Gemeinde ist nicht die einzige dieser extrem konservativen Gruppierungen. Es gibt etliche Gemeinden, die miteinander um Einfluss in Politik und Gesellschaft konkurrieren. “Wenn sie mit ihrer Macht prahlen”, so Dagi, “dann schicken sie damit auch eine Botschaft an rivalisierende Gemeinden: Wir sind stärker als ihr. Und das hilft ihnen, Anhänger abzuwerben.”
Im Fall der Ismail-Aga-Gemeinde haben die Anhänger mit einem Shitstorm gegen Timur Soykan und seine Berichterstattung reagiert. Aus islamistischen Kreisen kam die Forderung, den Journalisten zu verhaften. Wie es der betroffenen Frau heute geht, ist nicht bekannt. Ihr Bruder und ihre Schwestern haben ein YouTube-Video veröffentlicht, in dem sie den Vorwürfen widersprechen. Für die türkische Öffentlichkeit ist die Geschichte ein seltener Blick hinter die Türen dieses geschlossenen religiösen Zirkels.
Mitarbeit: Alican Uludag und Gülsen Solaker