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30 Jahre Jugoslawien-Tribunal: Von Milosevic zu Putin

Der russische Präsident wird per Haftbefehl vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag gesucht. Die Grundlagen dafür wurden mit den Sondertribunalen zu Ruanda und Jugoslawien gelegt.

Da saß er plötzlich: Ratko Mladic vor Gericht in Den Haag im Sommer 2011 nach mehr als einem Jahrzehnt auf der Flucht. Der später schuldig gesprochene bosnisch-serbische Ex-General, verantwortlich für die Belagerung Sarajewos und auch für das Massaker von Srebrenica an mehr als 8000 bosniakischen Jungen und Männern im Juli 1995 während des Krieges in Bosnien-Herzegowina.

Das Tribunal wurde vor 30 Jahren gegründet durch die UN-Resolution 827 vom 25. Mai 1993. Es schloss das letzte Strafverfahren 2017 ab, da waren von 161 Angeklagten immerhin 84 Täter verurteilt, darunter Mladic.

Da saß er plötzlich: Ratko Mladic vor Gericht in Den Haag im Sommer 2011 nach mehr als einem Jahrzehnt auf der Flucht. Der später schuldig gesprochene bosnisch-serbische Ex-General, verantwortlich für die Belagerung Sarajewos und auch für das Massaker von Srebrenica an mehr als 8000 bosniakischen Jungen und Männern im Juli 1995 während des Krieges in Bosnien-Herzegowina.

Der saß nur durch eine Panzerglasscheibe getrennt von dem kleinen Zuschauerraum des Internationalen Strafgerichtshofs für das frühere Jugoslawien (International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia, ICTY). Von dort wurde jede seiner Regungen beobachtet: von den Gründerinnen des Vereins Frauen von Srebrenica, deren Ehemänner und Söhne von Mladics bosnisch-serbischen Soldaten ermordet worden waren.

Opfer und Täter im Gerichtssaal

Sie und andere Opfer-Angehörige kamen immer wieder nach Den Haag: Egal ob zum Prozess gegen Mladic oder gegen den früheren Präsidenten der bosnischen Serbenrepublik, Radovan Karadzic, oder gegen den früheren Präsidenten Serbiens, Slobodan Milosevic, der von 2002 bis zu seinem Tod während der Prozesshaft 2006 vor Gericht stand.

Die Begegnung von Opfern, im Besucherraum oder als Zeuginnen und Zeugen im Gerichtssaal, mit den mutmaßlichen Tätern gehörte zum Kern der juristischen Aufarbeitung der Verbrechen während der Zerfallskriege im früheren Jugoslawien von 1991 bis 1995. Täter und Opfer auf Augenhöhe: “Es war positiv überraschend, wie viele Personen zum Beispiel bei Sexualdelikten, Frauen und Männer, sich bereitgefunden haben, im fernen Den Haag präzise auszusagen”, sagt der deutsche Jurist Wolfgang Schomburg im DW-Gespräch. “Und es war für diejenigen, die aussagen konnten, wohl eine Erleichterung, dem zu diesem Zeitpunkt für das Gericht mutmaßlichen Täter in die Augen sehen zu können.” 

Das gilt auch für den ein Jahr später gegründeten Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda, der 62 Täter wegen des Völkermordes der Hutu an den Tutsi verurteilte. Zwischen Frühjahr und Sommer 1994 waren in Ruanda bis zu eine Million Menschen getötet worden.

Wolfgang Schomburg war der erste Richter aus Deutschland am ICTY und einer, der auch am Ruanda-Tribunal urteilte. Im Gespräch mit der DW streicht er die Bedeutung der beiden vor drei Jahrzehnten gegründeten Ad-hoc-Tribunale heraus – für die Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs (International Criminal Court, ICC), der ebenfalls in Den Haag seinen Sitz hat.

Der ICC hatte zuletzt einen Haftbefehl gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin ausgestellt – wegen der mutmaßlich illegalen Verschleppung ukrainischer Kinder. “Alles, was der ICC tut, wäre nicht möglich ohne die Vorarbeiten dieser beiden Tribunale”, sagt Schomburg. “Die beiden Ad-hoc-Tribunale haben gezeigt, dass es möglich ist, wenn der politische Wille vorhanden ist, auch höchst Verantwortliche, auch Präsidenten und die Führer eines Staates oder einer Region, zur Verantwortung zu ziehen.”

Das gelte auch für den russischen Präsidenten Putin, so Schomburg. “Die Beweislage scheint, bezogen auf die Kinderverschleppung, gut.” Doch der deutsche Jurist geht noch weiter: “Ich sehe eine erdrückende Beweislage auf der Grundlage der uns allen bekannten öffentlichen Statements auch schon jetzt gegeben bei der Frage, ob die Verantwortlichen in Russland wegen Völkermords beziehungsweise der Ausrottung der Ukraine als Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Verantwortung gezogen werden können.” Es gehe “bei dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine darum, eine politische oder ethnische Gruppe zu vernichten und ein ganzes Volk oder eine ganze Nation zu zerstören.” Und das sehe er mit Beginn des russischen Angriffskrieges am 24. Februar 2022 als gegeben an.

Schomburg glaubt, dass der Haftbefehl des ICC-Chefanklägers, des Briten Karim Khan, schon jetzt Wirkung entfaltet: “Schon dadurch, dass Putin das Land zunächst einmal kaum verlassen hat und nur virtuell aufgetreten ist; auch die vielen Erklärungen aus Moskau, dass ein Haftbefehl nichts bedeutet und dass man jetzt sogar mit Haftbefehlen gegen Kahn und die Richter, die den Haftbefehl erlassen haben, arbeitet.” Und: “Auf der Grundlage eines von unabhängigen Richtern einer globalen Gemeinschaft erlassenen Haftbefehls kann jedermann sagen, dass Herr Putin ein international gesuchter Kriegsverbrecher ist”, formuliert der Jurist.

Schomburg stärkt im DW-Gespräch dem ICC den Rücken. Das scheint notwendig, denn politisch ist hoch umstritten, ob der Strafgerichtshof die juristische Aufarbeitung von Russlands Krieg gegen die Ukraine übernehmen sollte. Bis heute haben die USA die Gründungsurkunde des Gerichts nicht unterschrieben, genauso wenig wie Russland.

Zu den ICC-Kritikerinnen gehört auch die lettische Justiz-Ministerin Inese Lībiņa-Egnere. Sie fordert ein Ukraine-Sondertribunal ohne Mitwirkung der internationalen Juristinnen und Juristen in Den Haag. “Wir sind jetzt an einem Punkt, an dem jeder versteht, dass wir es brauchen”, sagt Lībiņa-Egnere im DW-Interview. “Ich bin mehr als zuversichtlich, dass wir zu diesem Ergebnis kommen werden.”

Das Problem: Die internationale Unterstützung für den ICC ist schwach. Vor allem beim wichtigsten Vorwurf gegen Russlands Führung, dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Denn “von 130 Mitgliedsstaaten des ICC haben gerade mal ein paar, rund 45, die Erweiterung des Artikel 8bis, den Straftatbestand des Verbrechens der Aggression, ratifiziert”, sagt der deutsche Bundestagsabgeordnete Boris Mijatovic. Und das liegt auch an den USA: Washington lehnte die Zuständigkeit schon immer ab – andernfalls hätte auch der Krieg gegen den Irak von 2003 in Den Haag verhandelt werden können. Mijatovic fordert eine Änderung des sogenannten Rom-Statuts, das die Arbeit des ICC regelt. “Wir sollten das Völkerstrafrecht nochmal anpassen, so dass es ausreicht, dass der angegriffene Staat Mitglied im Rom-Statut ist und nicht der Angreifer auch.”

Der deutsche Völkerrechtler Wolfgang Schomburg glaubt, mit den Diskussionen über ein Ukraine-Tribunal sollten “dem ICC Steine in den Weg gelegt werden”. Doch er ist von der Zuständigkeit des Gerichts überzeugt. Allein schon, weil vor allem die Länder des Globalen Südens, von denen viele den ICC unterstützen, kein Nebengericht finanzieren wollen, so Schomburg. Er glaube, dass auch Putin oder der russische Außenminister Sergej Lawrow einmal in Den Haag sitzen werde. “Es wird passieren, wie bei den anderen Staatsführern, die wir beim ICTY und beim Ruanda-Tribunal zur Verantwortung gezogen haben”, sagt Schomburg: “Sie werden vor Gericht landen.”

Mann mit grimmigem Blick und Kopfhörer vor einem Bildschirm
Frauen mit Kopftuch, eine alte Frau mit Krücken

Da saß er plötzlich: Ratko Mladic vor Gericht in Den Haag im Sommer 2011 nach mehr als einem Jahrzehnt auf der Flucht. Der später schuldig gesprochene bosnisch-serbische Ex-General, verantwortlich für die Belagerung Sarajewos und auch für das Massaker von Srebrenica an mehr als 8000 bosniakischen Jungen und Männern im Juli 1995 während des Krieges in Bosnien-Herzegowina.

Das Tribunal wurde vor 30 Jahren gegründet durch die UN-Resolution 827 vom 25. Mai 1993. Es schloss das letzte Strafverfahren 2017 ab, da waren von 161 Angeklagten immerhin 84 Täter verurteilt, darunter Mladic.

Opfer und Täter im Gerichtssaal

Der saß nur durch eine Panzerglasscheibe getrennt von dem kleinen Zuschauerraum des Internationalen Strafgerichtshofs für das frühere Jugoslawien (International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia, ICTY). Von dort wurde jede seiner Regungen beobachtet: von den Gründerinnen des Vereins Frauen von Srebrenica, deren Ehemänner und Söhne von Mladics bosnisch-serbischen Soldaten ermordet worden waren.

Sie und andere Opfer-Angehörige kamen immer wieder nach Den Haag: Egal ob zum Prozess gegen Mladic oder gegen den früheren Präsidenten der bosnischen Serbenrepublik, Radovan Karadzic, oder gegen den früheren Präsidenten Serbiens, Slobodan Milosevic, der von 2002 bis zu seinem Tod während der Prozesshaft 2006 vor Gericht stand.

Die Begegnung von Opfern, im Besucherraum oder als Zeuginnen und Zeugen im Gerichtssaal, mit den mutmaßlichen Tätern gehörte zum Kern der juristischen Aufarbeitung der Verbrechen während der Zerfallskriege im früheren Jugoslawien von 1991 bis 1995. Täter und Opfer auf Augenhöhe: “Es war positiv überraschend, wie viele Personen zum Beispiel bei Sexualdelikten, Frauen und Männer, sich bereitgefunden haben, im fernen Den Haag präzise auszusagen”, sagt der deutsche Jurist Wolfgang Schomburg im DW-Gespräch. “Und es war für diejenigen, die aussagen konnten, wohl eine Erleichterung, dem zu diesem Zeitpunkt für das Gericht mutmaßlichen Täter in die Augen sehen zu können.” 

Das gilt auch für den ein Jahr später gegründeten Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda, der 62 Täter wegen des Völkermordes der Hutu an den Tutsi verurteilte. Zwischen Frühjahr und Sommer 1994 waren in Ruanda bis zu eine Million Menschen getötet worden.

Pioniere der internationalen Rechtsprechung

Wolfgang Schomburg war der erste Richter aus Deutschland am ICTY und einer, der auch am Ruanda-Tribunal urteilte. Im Gespräch mit der DW streicht er die Bedeutung der beiden vor drei Jahrzehnten gegründeten Ad-hoc-Tribunale heraus – für die Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs (International Criminal Court, ICC), der ebenfalls in Den Haag seinen Sitz hat.

“Putin ein international gesuchter Kriegsverbrecher”

Der ICC hatte zuletzt einen Haftbefehl gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin ausgestellt – wegen der mutmaßlich illegalen Verschleppung ukrainischer Kinder. “Alles, was der ICC tut, wäre nicht möglich ohne die Vorarbeiten dieser beiden Tribunale”, sagt Schomburg. “Die beiden Ad-hoc-Tribunale haben gezeigt, dass es möglich ist, wenn der politische Wille vorhanden ist, auch höchst Verantwortliche, auch Präsidenten und die Führer eines Staates oder einer Region, zur Verantwortung zu ziehen.”

Das gelte auch für den russischen Präsidenten Putin, so Schomburg. “Die Beweislage scheint, bezogen auf die Kinderverschleppung, gut.” Doch der deutsche Jurist geht noch weiter: “Ich sehe eine erdrückende Beweislage auf der Grundlage der uns allen bekannten öffentlichen Statements auch schon jetzt gegeben bei der Frage, ob die Verantwortlichen in Russland wegen Völkermords beziehungsweise der Ausrottung der Ukraine als Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Verantwortung gezogen werden können.” Es gehe “bei dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine darum, eine politische oder ethnische Gruppe zu vernichten und ein ganzes Volk oder eine ganze Nation zu zerstören.” Und das sehe er mit Beginn des russischen Angriffskrieges am 24. Februar 2022 als gegeben an.

Schomburg glaubt, dass der Haftbefehl des ICC-Chefanklägers, des Briten Karim Khan, schon jetzt Wirkung entfaltet: “Schon dadurch, dass Putin das Land zunächst einmal kaum verlassen hat und nur virtuell aufgetreten ist; auch die vielen Erklärungen aus Moskau, dass ein Haftbefehl nichts bedeutet und dass man jetzt sogar mit Haftbefehlen gegen Kahn und die Richter, die den Haftbefehl erlassen haben, arbeitet.” Und: “Auf der Grundlage eines von unabhängigen Richtern einer globalen Gemeinschaft erlassenen Haftbefehls kann jedermann sagen, dass Herr Putin ein international gesuchter Kriegsverbrecher ist”, formuliert der Jurist.

Ukraine: Streit um Zuständigkeit

Schomburg stärkt im DW-Gespräch dem ICC den Rücken. Das scheint notwendig, denn politisch ist hoch umstritten, ob der Strafgerichtshof die juristische Aufarbeitung von Russlands Krieg gegen die Ukraine übernehmen sollte. Bis heute haben die USA die Gründungsurkunde des Gerichts nicht unterschrieben, genauso wenig wie Russland.

Zu den ICC-Kritikerinnen gehört auch die lettische Justiz-Ministerin Inese Lībiņa-Egnere. Sie fordert ein Ukraine-Sondertribunal ohne Mitwirkung der internationalen Juristinnen und Juristen in Den Haag. “Wir sind jetzt an einem Punkt, an dem jeder versteht, dass wir es brauchen”, sagt Lībiņa-Egnere im DW-Interview. “Ich bin mehr als zuversichtlich, dass wir zu diesem Ergebnis kommen werden.”

Moskaus Führung vor Gericht

Das Problem: Die internationale Unterstützung für den ICC ist schwach. Vor allem beim wichtigsten Vorwurf gegen Russlands Führung, dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Denn “von 130 Mitgliedsstaaten des ICC haben gerade mal ein paar, rund 45, die Erweiterung des Artikel 8bis, den Straftatbestand des Verbrechens der Aggression, ratifiziert”, sagt der deutsche Bundestagsabgeordnete Boris Mijatovic. Und das liegt auch an den USA: Washington lehnte die Zuständigkeit schon immer ab – andernfalls hätte auch der Krieg gegen den Irak von 2003 in Den Haag verhandelt werden können. Mijatovic fordert eine Änderung des sogenannten Rom-Statuts, das die Arbeit des ICC regelt. “Wir sollten das Völkerstrafrecht nochmal anpassen, so dass es ausreicht, dass der angegriffene Staat Mitglied im Rom-Statut ist und nicht der Angreifer auch.”

Der deutsche Völkerrechtler Wolfgang Schomburg glaubt, mit den Diskussionen über ein Ukraine-Tribunal sollten “dem ICC Steine in den Weg gelegt werden”. Doch er ist von der Zuständigkeit des Gerichts überzeugt. Allein schon, weil vor allem die Länder des Globalen Südens, von denen viele den ICC unterstützen, kein Nebengericht finanzieren wollen, so Schomburg. Er glaube, dass auch Putin oder der russische Außenminister Sergej Lawrow einmal in Den Haag sitzen werde. “Es wird passieren, wie bei den anderen Staatsführern, die wir beim ICTY und beim Ruanda-Tribunal zur Verantwortung gezogen haben”, sagt Schomburg: “Sie werden vor Gericht landen.”

Mann am Rednerpult

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