Visionär oder Kriegstreiber? Henry Kissinger wird 100
Von den einen gefeiert, von den anderen verurteilt: Kein anderer US-Politiker ist so erfahren und so umstritten wie Henry Kissinger. Der Hundertjährige blickt immer noch lieber in die Zukunft als in die Vergangenheit.
Als Henry Kissinger in den 1970er-Jahren Schloss Versailles in der Nähe von Paris besuchte, wurde er danach von Reportern gefragt, wie ihm der prächtige Spiegelsaal gefallen habe. “Wunderbar” sei es gewesen, meinte Kissinger, er habe sich “von Genialität umgeben” gesehen.
Für seine Anhänger ist und bleibt Henry Kissinger ein diplomatisches Genie, der wie kaum ein anderer die Kunst des politisch Erreichbaren kultivierte. Für seine Kritiker hingegen ist er ein lebender Kriegsverbrecher und überschätzter Diplomat. Für die Mehrheit befindet sich sein politisches Vermächtnis irgendwo zwischen diesen beiden Polen.
Als Henry Kissinger in den 1970er-Jahren Schloss Versailles in der Nähe von Paris besuchte, wurde er danach von Reportern gefragt, wie ihm der prächtige Spiegelsaal gefallen habe. “Wunderbar” sei es gewesen, meinte Kissinger, er habe sich “von Genialität umgeben” gesehen.
Während seiner Zeit als außenpolitischer Berater und später als Außenminister der USA unter den US-Präsidenten Richard Nixon und Gerald Ford wirkte Kissinger daran mit, den Vietnamkrieg zu beenden, eine Politik der Entspannung mit der Sowjetunion herbeizuführen, die Beziehungen mit China wieder aufzunehmen und den demokratisch gewählten Präsidenten in Chile 1973 zu stürzen.
“Der Zweck heiligt alle Mittel”
Auch hundert Jahre nachdem er als Heinz Alfred Kissinger in der bayerischen Stadt Fürth als Sohn einer jüdischen Familie geboren wurde, gilt Kissinger noch als internationales Schwergewicht in der Außenpolitik. Er gilt als Mensch, der nicht davor zurückscheut, seine Ansichten zu geopolitischen Fragen zu äußern.
In den vergangenen Jahren warnte er außerdem mehrfach in Interviews und Kommentaren vor den Gefahren der Künstlichen Intelligenz (KI). In seinen Augen ist sie “ebenso gefährlich wie Atomwaffen”.
Seine Forderung im vergangenen November, Russlands Krieg in der Ukraine durch einen Verhandlungsfrieden zu beenden, sorgte ebenfalls für viel Aufsehen. Sein Aufruf kam ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, als die westlichen Verbündeten der Ukraine gerade damit begonnen hatten, ihre Militärhilfe für Kiew deutlich aufzustocken.
Kissinger argumentierte, dass baldige Gespräche notwendig seien, um einen weiteren verheerenden Krieg zu vermeiden. Die Regierung in Kiew beschuldigte ihn daraufhin, Appeasement-Politik gegenüber dem Angreifer zu betreiben.
China-Experte und Politikwissenschaftler Ken Lieberthal, der in den vergangenen Jahrzehnten mehrfach mit Kissinger zusammengearbeitet hat, sagt, dass Kissinger “eine klare Vorstellung davon hat, was getan werden muss, und wie man von hier nach dort kommt”. Kissingers Denkansatz basiere auf einer “unsentimentalen Beurteilung der Möglichkeiten”, so Lieberthal. Kissinger selbst beschreibt sich als überzeugten Verfechter von Realpolitik: “Der Zweck heiligt die Mittel”.
Die Kritik der Ukraine ließ Kissinger unbeeindruckt. Er war federführend für die US-amerikanische Entspannungspolitik der 1970er-Jahre. Später beschrieb er seinen Ansatz als eine “Strategie für die Austragung des Konflikts mit der Sowjetunion”, die beiden Seiten Zeit für Diplomatie gegeben und einen offenen Konflikt vermieden hätte.
Kissinger ändert seine Meinung nur selten. Doch seit er zu der Überzeugung kam, dass “die Idee einer neutralen Ukraine unter diesen Umständen” nicht mehr sinnvoll sei, unterstützt er heute eine Mitgliedschaft des Landes in der NATO.
Allerdings betrachtet Kissinger Prinzipien des internationalen Rechts und der Menschenrechte weiterhin nicht als prioritär, sondern lediglich als einen wichtigen Faktor bei politischen Überlegungen. Menschenrechtler in der ganzen Welt zucken deshalb zusammen, wenn sie nur seinen Namen hören.
US-Senator Bernie Sanders, Führungsfigur der politischen Linken in den USA, meinte einmal, er sei “stolz, sagen zu können, dass Henry Kissinger nicht mein Freund ist”. Mit Blick auf Kissingers Politik in Asien in den 1970er-Jahren bezeichnete Sanders ihn als den “destruktivsten Außenminister in der modernen Geschichte”.
Kissinger hat seine häufig kontroversen Ansichten zur strategischen Führung als einen Balanceakt auf einem Seil beschrieben, das “zwischen den relativen Sicherheiten der Vergangenheit und den Ungewissheiten der Zukunft” gespannt ist. Über seinen Entscheidungsfindungsprozess hat er ausführlich geschrieben. So ließ er die US-Öffentlichkeit über die Bombardierung Kambodschas von 1969 bis 1973 zunächst im Dunkeln.
Die USA wollten die “Nationale Front für die Befreiung Südvietnams”, also den Vietcong, dort besiegen. Der brutale Bombenkrieg brachte den mörderischen Roten Khmer viel Zulauf und ermöglichte deren politischen Aufstieg. Kissinger wollte einen Waffenstillstand erreichen, der den Vietnamkrieg beenden würde. Sowohl ihm als auch seinem nordvietnamesischen Gegenspieler Le Duc Tho wurde für diesen Plan der Friedensnobelpreis verliehen.
Nur Kissinger nahm den Preis an, versuchte aber später, ihn wieder zurückzugeben, als die Friedensverhandlungen mit dem Fall Saigons spektakulär scheiterten. Die Entscheidungen, die er auf diesem Weg traf, kosteten zehntausenden Menschen in Vietnam, Kambodscha und im benachbarten Laos das Leben.
Bei öffentlichen Auftritten Kissingers besteht auch heute noch kein Zweifel daran, dass er sich der schwerwiegenden Konsequenzen seines Handelns bewusst war. Dokumente aus dem US-Nationalarchiv aus den 1970er-Jahren, die nach vierzig Jahren freigegeben wurden, belegen, dass er Druck auf US-Präsident Nixon ausübte, um den demokratisch gewählten Präsidenten Chiles, Salvador Allende, im Jahr 1973 zu stürzen.
Kissinger fürchtete, dass Allendes Regierung in Chile zu einem Modell für Lateinamerika werden und sich als “tückisch” für US-Interessen in der Region erweisen könnte. Damit ermöglichte Kissinger den Aufstieg des chilenischen Diktators Augusto Pinochet, unter dessen Regime Tausende von Menschen gefoltert und getötet wurden.
“Ihm war immer eine Art Gleichgewicht der Kräfte wichtig”, sagt Politikwissenschaftler Lieberthal über Kissingers Unterstützung für Interventionen in Prozessen, die eigentlich demokratisch verlaufen sollten. Seiner Meinung nach stand für Kissinger die Überlegung im Vordergrund, dass “die Dominanz eines Landes zu Anstrengungen bei anderen Ländern führen” würde.
Um die Instabilität zu verhindern, die eine solche Kettenreaktion auslösen könnte, vermittelte Kissinger die historische Anerkennung von China durch Nixon im Jahr 1972. Eine Haltung, die auch heute noch die USA daran bindet, Taiwan als Teil von China anzuerkennen.
Die gegenwärtigen Spannungen in der Straße von Taiwan und die Angst vor einem Krieg um Taiwan zeigen, wie sehr die durch Kissinger geprägte US-Außenpolitik der 1970er-Jahre in die Gegenwart hineinragt. Kissinger kann für sich in Anspruch nehmen, die Entwicklung Chinas zu einer Weltmacht und einem systemischen Rivalen Jahrzehnte vor den meisten seiner Kollegen erkannt zu haben.
Als Henry Kissinger in den 1970er-Jahren Schloss Versailles in der Nähe von Paris besuchte, wurde er danach von Reportern gefragt, wie ihm der prächtige Spiegelsaal gefallen habe. “Wunderbar” sei es gewesen, meinte Kissinger, er habe sich “von Genialität umgeben” gesehen.
Für seine Anhänger ist und bleibt Henry Kissinger ein diplomatisches Genie, der wie kaum ein anderer die Kunst des politisch Erreichbaren kultivierte. Für seine Kritiker hingegen ist er ein lebender Kriegsverbrecher und überschätzter Diplomat. Für die Mehrheit befindet sich sein politisches Vermächtnis irgendwo zwischen diesen beiden Polen.
“Der Zweck heiligt alle Mittel”
Während seiner Zeit als außenpolitischer Berater und später als Außenminister der USA unter den US-Präsidenten Richard Nixon und Gerald Ford wirkte Kissinger daran mit, den Vietnamkrieg zu beenden, eine Politik der Entspannung mit der Sowjetunion herbeizuführen, die Beziehungen mit China wieder aufzunehmen und den demokratisch gewählten Präsidenten in Chile 1973 zu stürzen.
Auch hundert Jahre nachdem er als Heinz Alfred Kissinger in der bayerischen Stadt Fürth als Sohn einer jüdischen Familie geboren wurde, gilt Kissinger noch als internationales Schwergewicht in der Außenpolitik. Er gilt als Mensch, der nicht davor zurückscheut, seine Ansichten zu geopolitischen Fragen zu äußern.
In den vergangenen Jahren warnte er außerdem mehrfach in Interviews und Kommentaren vor den Gefahren der Künstlichen Intelligenz (KI). In seinen Augen ist sie “ebenso gefährlich wie Atomwaffen”.
Seine Forderung im vergangenen November, Russlands Krieg in der Ukraine durch einen Verhandlungsfrieden zu beenden, sorgte ebenfalls für viel Aufsehen. Sein Aufruf kam ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, als die westlichen Verbündeten der Ukraine gerade damit begonnen hatten, ihre Militärhilfe für Kiew deutlich aufzustocken.
Balancieren auf einem Seil
Kissinger argumentierte, dass baldige Gespräche notwendig seien, um einen weiteren verheerenden Krieg zu vermeiden. Die Regierung in Kiew beschuldigte ihn daraufhin, Appeasement-Politik gegenüber dem Angreifer zu betreiben.
Prägende China-Politik
China-Experte und Politikwissenschaftler Ken Lieberthal, der in den vergangenen Jahrzehnten mehrfach mit Kissinger zusammengearbeitet hat, sagt, dass Kissinger “eine klare Vorstellung davon hat, was getan werden muss, und wie man von hier nach dort kommt”. Kissingers Denkansatz basiere auf einer “unsentimentalen Beurteilung der Möglichkeiten”, so Lieberthal. Kissinger selbst beschreibt sich als überzeugten Verfechter von Realpolitik: “Der Zweck heiligt die Mittel”.
Die Kritik der Ukraine ließ Kissinger unbeeindruckt. Er war federführend für die US-amerikanische Entspannungspolitik der 1970er-Jahre. Später beschrieb er seinen Ansatz als eine “Strategie für die Austragung des Konflikts mit der Sowjetunion”, die beiden Seiten Zeit für Diplomatie gegeben und einen offenen Konflikt vermieden hätte.
Kissinger ändert seine Meinung nur selten. Doch seit er zu der Überzeugung kam, dass “die Idee einer neutralen Ukraine unter diesen Umständen” nicht mehr sinnvoll sei, unterstützt er heute eine Mitgliedschaft des Landes in der NATO.
Allerdings betrachtet Kissinger Prinzipien des internationalen Rechts und der Menschenrechte weiterhin nicht als prioritär, sondern lediglich als einen wichtigen Faktor bei politischen Überlegungen. Menschenrechtler in der ganzen Welt zucken deshalb zusammen, wenn sie nur seinen Namen hören.
US-Senator Bernie Sanders, Führungsfigur der politischen Linken in den USA, meinte einmal, er sei “stolz, sagen zu können, dass Henry Kissinger nicht mein Freund ist”. Mit Blick auf Kissingers Politik in Asien in den 1970er-Jahren bezeichnete Sanders ihn als den “destruktivsten Außenminister in der modernen Geschichte”.
Kissinger hat seine häufig kontroversen Ansichten zur strategischen Führung als einen Balanceakt auf einem Seil beschrieben, das “zwischen den relativen Sicherheiten der Vergangenheit und den Ungewissheiten der Zukunft” gespannt ist. Über seinen Entscheidungsfindungsprozess hat er ausführlich geschrieben. So ließ er die US-Öffentlichkeit über die Bombardierung Kambodschas von 1969 bis 1973 zunächst im Dunkeln.
Die USA wollten die “Nationale Front für die Befreiung Südvietnams”, also den Vietcong, dort besiegen. Der brutale Bombenkrieg brachte den mörderischen Roten Khmer viel Zulauf und ermöglichte deren politischen Aufstieg. Kissinger wollte einen Waffenstillstand erreichen, der den Vietnamkrieg beenden würde. Sowohl ihm als auch seinem nordvietnamesischen Gegenspieler Le Duc Tho wurde für diesen Plan der Friedensnobelpreis verliehen.
Nur Kissinger nahm den Preis an, versuchte aber später, ihn wieder zurückzugeben, als die Friedensverhandlungen mit dem Fall Saigons spektakulär scheiterten. Die Entscheidungen, die er auf diesem Weg traf, kosteten zehntausenden Menschen in Vietnam, Kambodscha und im benachbarten Laos das Leben.
Bei öffentlichen Auftritten Kissingers besteht auch heute noch kein Zweifel daran, dass er sich der schwerwiegenden Konsequenzen seines Handelns bewusst war. Dokumente aus dem US-Nationalarchiv aus den 1970er-Jahren, die nach vierzig Jahren freigegeben wurden, belegen, dass er Druck auf US-Präsident Nixon ausübte, um den demokratisch gewählten Präsidenten Chiles, Salvador Allende, im Jahr 1973 zu stürzen.
Kissinger fürchtete, dass Allendes Regierung in Chile zu einem Modell für Lateinamerika werden und sich als “tückisch” für US-Interessen in der Region erweisen könnte. Damit ermöglichte Kissinger den Aufstieg des chilenischen Diktators Augusto Pinochet, unter dessen Regime Tausende von Menschen gefoltert und getötet wurden.
“Ihm war immer eine Art Gleichgewicht der Kräfte wichtig”, sagt Politikwissenschaftler Lieberthal über Kissingers Unterstützung für Interventionen in Prozessen, die eigentlich demokratisch verlaufen sollten. Seiner Meinung nach stand für Kissinger die Überlegung im Vordergrund, dass “die Dominanz eines Landes zu Anstrengungen bei anderen Ländern führen” würde.
Um die Instabilität zu verhindern, die eine solche Kettenreaktion auslösen könnte, vermittelte Kissinger die historische Anerkennung von China durch Nixon im Jahr 1972. Eine Haltung, die auch heute noch die USA daran bindet, Taiwan als Teil von China anzuerkennen.
Die gegenwärtigen Spannungen in der Straße von Taiwan und die Angst vor einem Krieg um Taiwan zeigen, wie sehr die durch Kissinger geprägte US-Außenpolitik der 1970er-Jahre in die Gegenwart hineinragt. Kissinger kann für sich in Anspruch nehmen, die Entwicklung Chinas zu einer Weltmacht und einem systemischen Rivalen Jahrzehnte vor den meisten seiner Kollegen erkannt zu haben.
Während Kissinger an diesem Samstag seinen hundertsten Geburtstag feiert, diskutieren Politiker und Wissenschaftler weiter über die Bedeutung und Auswirkungen der Politik, die diese lebende US-Legende so leidenschaftlich vertreten hat – in einem Englisch, dessen Akzent seine deutschen Wurzeln noch immer offenbart.
Adaptiert aus dem Englischen von Phoenix Hanzo
Adaptiert aus dem Englischen von Phoenix Hanzo