Kultur

Internationaler Literaturpreis geht an Cristina Morales

Die spanische Autorin lotet in ihrem Roman “Leichte Sprache” Grenzen aus: Vier Frauen mit Behinderung ringen um ihre Selbstbestimmung und kämpfen mit der Ohnmacht. Das hat enorm viel Kraft, Wucht – und Würde.

Cristina Morales’ Roman “Leichte Sprache” ist wütend, sinnlich, emanzipatorisch: Im besten Sinne frei, in Sprache und Form, schreibt die 37-jährige Spanierin sich an die Lebenssituation von vier Frauen mit geistiger Behinderung unterschiedlichen Schweregrades heran, die alle zusammen in einer Wohnung in Barcelona leben. Durch verschiedene Erzählstile und -formen – ob durch Gesprächs- oder Gerichtsprotokolle, eigene Texte oder einen WhatsApp-Roman – fängt Morales die unterschiedlichen Perspektiven ihrer Protagonistinnen ein.

Der Internationale Buchpreis zeichnet zum 14. Mal außergewöhnliche Gegenwartsliteratur aus der ganzen Welt aus – und ihre kunstvolle Übersetzung in die deutsche Sprache. Das Haus der Kulturen der Welt (HKW) in Berlin und die Stiftung Elementarteilchen verleihen die Preise dieses Jahr an Cristina Morales und Friederike von Criegern. Der Preis geht immer an ein Tandem aus Autorin und Übersetzerin; die Autorin von “Leichte Sprache” bekommt 20.000 Euro, die Übersetzerin 15.000 Euro. 

Cristina Morales’ Roman “Leichte Sprache” ist wütend, sinnlich, emanzipatorisch: Im besten Sinne frei, in Sprache und Form, schreibt die 37-jährige Spanierin sich an die Lebenssituation von vier Frauen mit geistiger Behinderung unterschiedlichen Schweregrades heran, die alle zusammen in einer Wohnung in Barcelona leben. Durch verschiedene Erzählstile und -formen – ob durch Gesprächs- oder Gerichtsprotokolle, eigene Texte oder einen WhatsApp-Roman – fängt Morales die unterschiedlichen Perspektiven ihrer Protagonistinnen ein.

Morales Werk ist weder ein Betroffenheitsroman noch eine besonders dramatische Erzählung: Allein die Emotionalität der Protagonistinnen trägt die Geschichte. Die vier Frauen gelten als geistig eingeschränkt und werden den Leserinnen und Lesern schnell vertraut. Nati, Patricia, Àngels und Marga sind rebellisch, emotional und direkt. Sie sind schamlos, wütend, feinsinnig und sinnlich. Zunehmend werden aber auch die Einschränkungen in ihrem Alltag spürbar – durch ein System, das Menschen mit Behinderung “verwaltet”.

Die Perspektive von Menschen mit Behinderungen

Besonders in der Person von Nati wird die Wut spürbar – gegen die Menschen, die Institutionen, das System, das teils mit viel Gewalt auf die Frauen einwirkt. Mit rotziger Sprache schlägt sie verbal um sich; auch wenn sie manches Mal sich selbst oder ihre Mitbewohnerinnen trifft. Und sie kämpft mit klarer, unverblümter Sprache gegen die Brutalität des Systems an: “(…) und außerdem bist du eine Neoliberale, die ‘wichst’ und sich den ‘Arsch’ mit dem gleichen eingerollten Hundert-Euro-Schein abwischt, mit dem sie das ‘Koks’ ‘snifft’, was sie beim letzten ‘Tickern’ von El Raval beschlagnahmt hat.” 

Einer der großartigsten Dialoge in “Leichte Sprache” ist einer, der sich erst im Kopf der Lesenden entfaltet: Ein Gerichtsprotokoll (das über eine etwaige Zwangssterilisierung der Protagonistin Marga entscheiden soll) dokumentiert den Dialog der Richterin und Zeugin Àngels. Letztere ist die Autorin des WhatsApp-Romans in der sogenannten Leichten Sprache. 

In der protokollierten Szene muss Àngels die Richterin belehren, was Leichte Sprache ist: nämlich “Bücher, Verwaltungs- und juristische Dokumente, Internetseiten und so weiter, die nach den internationalen Richtlinien von Inclusion Europe und der IFLA geschrieben seien, diese Siglen stünden für Internationale Vereinigung bibliothekarischer Verbände und Einrichtungen.” Damit nicht genug, klärt sie weiter auf, wie leichte Sprache Begriffe für Menschen vereinfacht, dass sie komplizierte Begriffe immer erklärt. Und sie fügt hinzu, “dass es es nicht nur darum gehe, dass sie es lesen können, sondern auch, dass das universelle Recht auf Zugang zu Kultur, Information und Kommunikation erfüllt werde, das in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte festgeschrieben sei”.

Weitere umfangreiche Erklärungen sind genauso festgehalten wie die wiederholte Nachfrage von Àngels, ob denn ihre Aussage in leichter Sprache verfasst werden wird, welche die Richterin genauso wiederholt ignoriert. Bis “die Richterin sagt, dass sie nicht in ‘leichter Sprache’ geschrieben werde, und die Zeugin sagt, dass sie dann nicht aussagen werde ‘und adiós'”. Schöner wurden verschleierte Machtdemonstration oder Unfähigkeit selten entlarvt. 

Die Vita der 1985 in Granada geborenen Autorin Cristina Morales zeigt, dass es auch ihr immer wieder um das Freimachen geht: von Normen, Zwängen, Voreingenommenheit. Nach ihrem Studium der Politik- und Rechtswissenschaften schreibt Morales mehrere preisgekrönte Kurzgeschichten, sie arbeitet als Dramatikerin, spielt in einer Punkband und ist Tänzerin und Choreografin der zeitgenössischen Tanzkompanie “Iniciativa Sexual Femenina”.

Die Jury sieht ihre Entscheidung, den Preis an Morales zu geben, als “Liebeserklärung – an das Buch und seine Protagonistinnen, an die Heftigkeit, mit der sie auf Restriktionen, Demütigungen und Entmündigung reagieren”. 

Die Stärke von Cristina Morales Buch liegt nicht nur darin, die Frauen in ihren Eigenheiten glaubwürdig zu verkörpern, sie liegt in der Ermächtigungsgeschichte dieser Frauen, die ohnmächtiger gemacht werden, als sie sind – und die ihre Würde wieder in Besitz nehmen und einfach leben. Mittels der vier Frauenstimmen übt Cristina Morales Gesellschaftskritik und stellt mit ihrem Buch die Frage: Wer behindert hier eigentlich wen? 

Buchcover Leichte Sprache Cristina Morales
Cristina Morales
Verleihung Internationaler Literaturpreis | Friederike von Criegern

Cristina Morales’ Roman “Leichte Sprache” ist wütend, sinnlich, emanzipatorisch: Im besten Sinne frei, in Sprache und Form, schreibt die 37-jährige Spanierin sich an die Lebenssituation von vier Frauen mit geistiger Behinderung unterschiedlichen Schweregrades heran, die alle zusammen in einer Wohnung in Barcelona leben. Durch verschiedene Erzählstile und -formen – ob durch Gesprächs- oder Gerichtsprotokolle, eigene Texte oder einen WhatsApp-Roman – fängt Morales die unterschiedlichen Perspektiven ihrer Protagonistinnen ein.

Der Internationale Buchpreis zeichnet zum 14. Mal außergewöhnliche Gegenwartsliteratur aus der ganzen Welt aus – und ihre kunstvolle Übersetzung in die deutsche Sprache. Das Haus der Kulturen der Welt (HKW) in Berlin und die Stiftung Elementarteilchen verleihen die Preise dieses Jahr an Cristina Morales und Friederike von Criegern. Der Preis geht immer an ein Tandem aus Autorin und Übersetzerin; die Autorin von “Leichte Sprache” bekommt 20.000 Euro, die Übersetzerin 15.000 Euro. 

Die Perspektive von Menschen mit Behinderungen

Morales Werk ist weder ein Betroffenheitsroman noch eine besonders dramatische Erzählung: Allein die Emotionalität der Protagonistinnen trägt die Geschichte. Die vier Frauen gelten als geistig eingeschränkt und werden den Leserinnen und Lesern schnell vertraut. Nati, Patricia, Àngels und Marga sind rebellisch, emotional und direkt. Sie sind schamlos, wütend, feinsinnig und sinnlich. Zunehmend werden aber auch die Einschränkungen in ihrem Alltag spürbar – durch ein System, das Menschen mit Behinderung “verwaltet”.

Besonders in der Person von Nati wird die Wut spürbar – gegen die Menschen, die Institutionen, das System, das teils mit viel Gewalt auf die Frauen einwirkt. Mit rotziger Sprache schlägt sie verbal um sich; auch wenn sie manches Mal sich selbst oder ihre Mitbewohnerinnen trifft. Und sie kämpft mit klarer, unverblümter Sprache gegen die Brutalität des Systems an: “(…) und außerdem bist du eine Neoliberale, die ‘wichst’ und sich den ‘Arsch’ mit dem gleichen eingerollten Hundert-Euro-Schein abwischt, mit dem sie das ‘Koks’ ‘snifft’, was sie beim letzten ‘Tickern’ von El Raval beschlagnahmt hat.” 

Einer der großartigsten Dialoge in “Leichte Sprache” ist einer, der sich erst im Kopf der Lesenden entfaltet: Ein Gerichtsprotokoll (das über eine etwaige Zwangssterilisierung der Protagonistin Marga entscheiden soll) dokumentiert den Dialog der Richterin und Zeugin Àngels. Letztere ist die Autorin des WhatsApp-Romans in der sogenannten Leichten Sprache. 

In der protokollierten Szene muss Àngels die Richterin belehren, was Leichte Sprache ist: nämlich “Bücher, Verwaltungs- und juristische Dokumente, Internetseiten und so weiter, die nach den internationalen Richtlinien von Inclusion Europe und der IFLA geschrieben seien, diese Siglen stünden für Internationale Vereinigung bibliothekarischer Verbände und Einrichtungen.” Damit nicht genug, klärt sie weiter auf, wie leichte Sprache Begriffe für Menschen vereinfacht, dass sie komplizierte Begriffe immer erklärt. Und sie fügt hinzu, “dass es es nicht nur darum gehe, dass sie es lesen können, sondern auch, dass das universelle Recht auf Zugang zu Kultur, Information und Kommunikation erfüllt werde, das in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte festgeschrieben sei”.

Begrenzungen und Wut

Weitere umfangreiche Erklärungen sind genauso festgehalten wie die wiederholte Nachfrage von Àngels, ob denn ihre Aussage in leichter Sprache verfasst werden wird, welche die Richterin genauso wiederholt ignoriert. Bis “die Richterin sagt, dass sie nicht in ‘leichter Sprache’ geschrieben werde, und die Zeugin sagt, dass sie dann nicht aussagen werde ‘und adiós'”. Schöner wurden verschleierte Machtdemonstration oder Unfähigkeit selten entlarvt. 

Das Feigenblatt der Leichten Sprache

Die Vita der 1985 in Granada geborenen Autorin Cristina Morales zeigt, dass es auch ihr immer wieder um das Freimachen geht: von Normen, Zwängen, Voreingenommenheit. Nach ihrem Studium der Politik- und Rechtswissenschaften schreibt Morales mehrere preisgekrönte Kurzgeschichten, sie arbeitet als Dramatikerin, spielt in einer Punkband und ist Tänzerin und Choreografin der zeitgenössischen Tanzkompanie “Iniciativa Sexual Femenina”.

Die Jury sieht ihre Entscheidung, den Preis an Morales zu geben, als “Liebeserklärung – an das Buch und seine Protagonistinnen, an die Heftigkeit, mit der sie auf Restriktionen, Demütigungen und Entmündigung reagieren”. 

Die Stärke von Cristina Morales Buch liegt nicht nur darin, die Frauen in ihren Eigenheiten glaubwürdig zu verkörpern, sie liegt in der Ermächtigungsgeschichte dieser Frauen, die ohnmächtiger gemacht werden, als sie sind – und die ihre Würde wieder in Besitz nehmen und einfach leben. Mittels der vier Frauenstimmen übt Cristina Morales Gesellschaftskritik und stellt mit ihrem Buch die Frage: Wer behindert hier eigentlich wen? 

Wer wird hier eigentlich behindert?

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