Rio-Reiser-Platz in Berlin: Warum Rio Reiser eine deutsche Ikone ist
Poet, Rebell, Rockstar, gehasst und geliebt. Kultfigur des linken Widerstands. Leidenschaftlicher Songschreiber und Idol. Nun wird ein Platz in Berlin nach Rio Reiser benannt.
Der Heinrichplatz in Berlin-Kreuzberg bekommt einen neuen Namen: Rio-Reiser-Platz. Damit wird der Mann geehrt, der in den späten 1960er und 1970er Jahren zum Idol der linken Szene nicht nur Berlins, sondern ganz Deutschlands wurde. Geplant war die Umbenennung bereits 2017. Als der Berliner Stadtrat den Beschluss öffentlich machte, gab es zunächst Kritik – denn eigentlich sollen in Berlin mehr weibliche Figuren auf Straßenschildern verewigt werden. Doch schließlich einigte man sich – denn Rio Reiser ist nicht nur musikalisches Idol, sondern steht auch für die queere Szene – er hatte sich offen zu seiner Homosexualität bekannt.
Am Sonntag (21. August 2022) wird die Umbenennung des Platztes gefeiert – unter anderem mit der Kulturstaatsministerin Claudia Roth. “Mit dieser Einweihung feiern wir die symbolische Rückkehr von Rio Reiser nach Hause”, sagte Roth der Nachrichtenagentur dpa. “Rios Kreuzberger Zeit war eine kreative, aufrührerische und schwierige Zeit. Sein privates und künstlerisches Leben war avantgardistisch in jeder Hinsicht.” Er habe offen und selbstbewusst zu seiner Homosexualität gestanden. “Wie kaum ein anderer Künstler in Deutschland hat er gezeigt, dass das Private politisch ist.” Roth hat ein besonderes Verhältnis zu Rio Reiser – denn in den 1980ern war sie die Managerin von Reisers Band Ton Steine Scherben.
Der Heinrichplatz in Berlin-Kreuzberg bekommt einen neuen Namen: Rio-Reiser-Platz. Damit wird der Mann geehrt, der in den späten 1960er und 1970er Jahren zum Idol der linken Szene nicht nur Berlins, sondern ganz Deutschlands wurde. Geplant war die Umbenennung bereits 2017. Als der Berliner Stadtrat den Beschluss öffentlich machte, gab es zunächst Kritik – denn eigentlich sollen in Berlin mehr weibliche Figuren auf Straßenschildern verewigt werden. Doch schließlich einigte man sich – denn Rio Reiser ist nicht nur musikalisches Idol, sondern steht auch für die queere Szene – er hatte sich offen zu seiner Homosexualität bekannt.
Die Scherben waren die erste deutsche Rockband, die mit deutschen Texten offen Systemkritik betrieb, und damit den Soundtrack zu den Studentenrevolten der späten 1960er und der linken Anarchoszene bis in die frühen 1980er lieferte.
Rockmusik gegen Nachkriegsmief
Die Jugend der 1960er Jahre hat genug von der heilen Welt, die sich die deutsche Nachkriegsgesellschaft aufgebaut hat. Sie merkt, dass hier was nicht stimmt: Der Nationalsozialismus ist gerade mal 20 Jahre her. Also noch so frisch, dass man sich fragt, warum so viele Eltern und Lehrer nicht darüber sprechen.
Beat- und Rockmusik sind in Deutschland angekommen – das perfekte Ventil, ein starker Ausdruck von Revolte. Während in deutschen Radios harmlose Schlager laufen, dröhnen in Garagen und Kellern elektrische Gitarren und Schlagzeuge. Rio Reiser, geboren als Ralph Christian Möbius, will auch Rockmusik machen. Er bringt sich das Spielen von Gitarre, Klavier und Cello selbst bei – und ist gerade mal 17 Jahre alt, als er seine Fotografenlehre abbricht und nach Berlin geht.
Dort beginnt er, mit Musik- und Theaterprojekten in der linken Szene zu arbeiten, erlebt die Studentenunruhen, den Mord an dem Studenten Benno Ohnesorg und das Attentat auf Rudi Dutschke.
Mit seinen Kumpels gründet er die Band Ton Steine Scherben. Rio schreit und rotzt mit rau-verwaschener Stimme seinen Traum von einer gerechten Welt ins Mikro. Auch seine Wut auf das Establishment: “Ich will nicht werden, was mein Alter ist.”
Den ersten Auftritt hat die Band 1970 beim Love-and-Peace-Festival auf der Insel Fehmarn – dort, wo Jimi Hendrix sein letztes Konzert spielt. Das Festival endet in einem Desaster – die Veranstalter sind mit der Kasse getürmt, das Publikum versinkt im Schlamm, alle Bands haben nach Hendrix abgesagt – nur die Scherben spielen.
Nach dem Song “Macht kaputt, was euch kaputt macht” und Rios (überlieferter) Ansage, man solle die Veranstalter ungespitzt in den Boden rammen, gehen Organisationsbüro und Bühne in Flammen auf. Ton Steine Scherben sind auf einen Schlag bekannt.
Wo auch immer was los ist in den Straßen von Berlin: Die Scherben sind da und spielen Lieder mit Titeln wie “Keine Macht für Niemand”. Sie glauben daran, dass man mit Musik etwas verändern kann, und werden zum Sprachrohr der linken Szene.
Sie besetzen das ehemalige Schwesternwohnheim des Bethanien-Krankenhauses in Berlin-Kreuzberg und benennen das Gebäude in Georg-von-Rauch-Haus um. Von Rauch ist wenige Tage zuvor bei einem Schusswechsel mit der Polizei getötet worden und wird zum Märtyrer der linken Szene, das Rauch-Haus zu einem ihrer Zentren.
Das alles spricht sich rum in Deutschland. In allen größeren Städten entsteht eine Hausbesetzer-Szene, ihre Hymne ist der “Rauch-Haus-Song” der Scherben: “Ihr kriegt uns hier nicht raus, das ist unser Haus!” Die Band wird von rebellischen Jugendlichen in ganz Deutschland verehrt, von den Konservativen und der älteren Generation gehasst, im Radio nicht gespielt – und vom Staat beobachtet: Beinahe täglich bekommt die Scherben-Familie Besuch von der Polizei.
Die Scherben produzieren ihre erste Platte – komplett im Alleingang. Sie wollen sich nicht von der “Industrie” abhängig machen. Auch ihre gut besuchten Konzerte spielen sie umsonst. Denn wer linke Lieder singt, darf kein Geld damit verdienen, das wäre ja unglaubwürdig. Arbeiten gehen darf man aber auch nicht. Also gibt es auch kein Geld.
Langsam gehen die ständigen Razzien und das permanente Pleitesein dem Kollektiv auf die Nerven. Sie wollen auch nicht mehr als “Jukebox der Linken” herhalten. Die Scherben-Familie zieht Mitte der Siebziger auf einen Bauernhof in der Nähe der dänischen Grenze. In Fresenhagen entsteht eine Landkommune. Claudia Roth, die Managerin der Scherben, zieht mit ein. Die Band macht neue Musik – unpolitisch, melodisch. Rio kann seiner Phantasie, seinen Gefühlen nachgehen, schreibt unter anderem “Halt dich an deiner Liebe fest” – eine seiner bekanntesten Balladen.
Nachdem die Scherben sich 1985 hoch verschuldet auflösen, macht Rio Reiser allein weiter. Später wird er dies in seiner Biografie als “auf den Strich gehen” umschreiben. Denn jetzt geht es doch um einen Plattenvertrag – den Verkauf an die “Industrie”. Rios erste Soloplatte “Rio I.” erscheint. Und plötzlich werden Rio-Reiser-Songs im Radio gespielt: “Alles Lüge”, “Junimond” und schließlich sein Superhit “König von Deutschland”. Eingefleischte Scherben-Fans sehen Rios Soloerfolg kritisch. Sie wollen ihren Messias nicht mit dem Mainstream teilen. Zu spät, Rio ist oben in den Hitparaden gelandet.
1988 tritt er in Ostberlin auf. Er singt seinen alten Scherben-Song “Der Traum ist aus”, darin fragt er: “Gibt es ein Land auf der Erde, wo der Traum Wirklichkeit ist?” Das Publikum schreit: “Dieses Land ist es nicht!” Ein Jahr später ist die DDR Geschichte.
Rio Reisers Songs sind begnadet. Seine Kompositionen sind wild und rau, sanft und zärtlich, manchmal melodramatisch und immer geprägt von einer kaum zu bändigenden Leidenschaft. Deutsche Popmusiker werden bis heute nicht müde, Rio Reiser als eines ihrer wichtigsten Vorbilder zu bezeichnen, seine Songs werden wieder und wieder gecovert. Zuweilen wird Rio Reiser mythisiert – was sicher auch seinem plötzlichen Tod am 20. August 1996 zu verdanken ist.
In Zukunft also können die Menschen auf den Spuren des Musikers über die Kreuzberger Oranienstraße wandeln, vorbei an Kneipen und Cafés zum Rio-Reiser-Platz schlendern – und vielleicht haben sie dabei die Melodie vom “König von Deutschland” im Kopf.
Dieser Artikel von 2020 wurde anlässlich der Umbenennung des Heinrichplatzes in Rio-Reiser-Platz aktualisiert.
Der Heinrichplatz in Berlin-Kreuzberg bekommt einen neuen Namen: Rio-Reiser-Platz. Damit wird der Mann geehrt, der in den späten 1960er und 1970er Jahren zum Idol der linken Szene nicht nur Berlins, sondern ganz Deutschlands wurde. Geplant war die Umbenennung bereits 2017. Als der Berliner Stadtrat den Beschluss öffentlich machte, gab es zunächst Kritik – denn eigentlich sollen in Berlin mehr weibliche Figuren auf Straßenschildern verewigt werden. Doch schließlich einigte man sich – denn Rio Reiser ist nicht nur musikalisches Idol, sondern steht auch für die queere Szene – er hatte sich offen zu seiner Homosexualität bekannt.
Am Sonntag (21. August 2022) wird die Umbenennung des Platztes gefeiert – unter anderem mit der Kulturstaatsministerin Claudia Roth. “Mit dieser Einweihung feiern wir die symbolische Rückkehr von Rio Reiser nach Hause”, sagte Roth der Nachrichtenagentur dpa. “Rios Kreuzberger Zeit war eine kreative, aufrührerische und schwierige Zeit. Sein privates und künstlerisches Leben war avantgardistisch in jeder Hinsicht.” Er habe offen und selbstbewusst zu seiner Homosexualität gestanden. “Wie kaum ein anderer Künstler in Deutschland hat er gezeigt, dass das Private politisch ist.” Roth hat ein besonderes Verhältnis zu Rio Reiser – denn in den 1980ern war sie die Managerin von Reisers Band Ton Steine Scherben.
Rockmusik gegen Nachkriegsmief
Die Scherben waren die erste deutsche Rockband, die mit deutschen Texten offen Systemkritik betrieb, und damit den Soundtrack zu den Studentenrevolten der späten 1960er und der linken Anarchoszene bis in die frühen 1980er lieferte.
Die Jugend der 1960er Jahre hat genug von der heilen Welt, die sich die deutsche Nachkriegsgesellschaft aufgebaut hat. Sie merkt, dass hier was nicht stimmt: Der Nationalsozialismus ist gerade mal 20 Jahre her. Also noch so frisch, dass man sich fragt, warum so viele Eltern und Lehrer nicht darüber sprechen.
Beat- und Rockmusik sind in Deutschland angekommen – das perfekte Ventil, ein starker Ausdruck von Revolte. Während in deutschen Radios harmlose Schlager laufen, dröhnen in Garagen und Kellern elektrische Gitarren und Schlagzeuge. Rio Reiser, geboren als Ralph Christian Möbius, will auch Rockmusik machen. Er bringt sich das Spielen von Gitarre, Klavier und Cello selbst bei – und ist gerade mal 17 Jahre alt, als er seine Fotografenlehre abbricht und nach Berlin geht.
Dort beginnt er, mit Musik- und Theaterprojekten in der linken Szene zu arbeiten, erlebt die Studentenunruhen, den Mord an dem Studenten Benno Ohnesorg und das Attentat auf Rudi Dutschke.
Tödliche Schüsse und ein katastrophales Festival
Mit seinen Kumpels gründet er die Band Ton Steine Scherben. Rio schreit und rotzt mit rau-verwaschener Stimme seinen Traum von einer gerechten Welt ins Mikro. Auch seine Wut auf das Establishment: “Ich will nicht werden, was mein Alter ist.”
Sprachrohr der linken Szene
Den ersten Auftritt hat die Band 1970 beim Love-and-Peace-Festival auf der Insel Fehmarn – dort, wo Jimi Hendrix sein letztes Konzert spielt. Das Festival endet in einem Desaster – die Veranstalter sind mit der Kasse getürmt, das Publikum versinkt im Schlamm, alle Bands haben nach Hendrix abgesagt – nur die Scherben spielen.
Nach dem Song “Macht kaputt, was euch kaputt macht” und Rios (überlieferter) Ansage, man solle die Veranstalter ungespitzt in den Boden rammen, gehen Organisationsbüro und Bühne in Flammen auf. Ton Steine Scherben sind auf einen Schlag bekannt.
Wo auch immer was los ist in den Straßen von Berlin: Die Scherben sind da und spielen Lieder mit Titeln wie “Keine Macht für Niemand”. Sie glauben daran, dass man mit Musik etwas verändern kann, und werden zum Sprachrohr der linken Szene.
Im Visier des Staats
Sie besetzen das ehemalige Schwesternwohnheim des Bethanien-Krankenhauses in Berlin-Kreuzberg und benennen das Gebäude in Georg-von-Rauch-Haus um. Von Rauch ist wenige Tage zuvor bei einem Schusswechsel mit der Polizei getötet worden und wird zum Märtyrer der linken Szene, das Rauch-Haus zu einem ihrer Zentren.
Das alles spricht sich rum in Deutschland. In allen größeren Städten entsteht eine Hausbesetzer-Szene, ihre Hymne ist der “Rauch-Haus-Song” der Scherben: “Ihr kriegt uns hier nicht raus, das ist unser Haus!” Die Band wird von rebellischen Jugendlichen in ganz Deutschland verehrt, von den Konservativen und der älteren Generation gehasst, im Radio nicht gespielt – und vom Staat beobachtet: Beinahe täglich bekommt die Scherben-Familie Besuch von der Polizei.
Rückzug aufs Land
Die Scherben produzieren ihre erste Platte – komplett im Alleingang. Sie wollen sich nicht von der “Industrie” abhängig machen. Auch ihre gut besuchten Konzerte spielen sie umsonst. Denn wer linke Lieder singt, darf kein Geld damit verdienen, das wäre ja unglaubwürdig. Arbeiten gehen darf man aber auch nicht. Also gibt es auch kein Geld.
Erfolg im Alleingang
Langsam gehen die ständigen Razzien und das permanente Pleitesein dem Kollektiv auf die Nerven. Sie wollen auch nicht mehr als “Jukebox der Linken” herhalten. Die Scherben-Familie zieht Mitte der Siebziger auf einen Bauernhof in der Nähe der dänischen Grenze. In Fresenhagen entsteht eine Landkommune. Claudia Roth, die Managerin der Scherben, zieht mit ein. Die Band macht neue Musik – unpolitisch, melodisch. Rio kann seiner Phantasie, seinen Gefühlen nachgehen, schreibt unter anderem “Halt dich an deiner Liebe fest” – eine seiner bekanntesten Balladen.
Nachdem die Scherben sich 1985 hoch verschuldet auflösen, macht Rio Reiser allein weiter. Später wird er dies in seiner Biografie als “auf den Strich gehen” umschreiben. Denn jetzt geht es doch um einen Plattenvertrag – den Verkauf an die “Industrie”. Rios erste Soloplatte “Rio I.” erscheint. Und plötzlich werden Rio-Reiser-Songs im Radio gespielt: “Alles Lüge”, “Junimond” und schließlich sein Superhit “König von Deutschland”. Eingefleischte Scherben-Fans sehen Rios Soloerfolg kritisch. Sie wollen ihren Messias nicht mit dem Mainstream teilen. Zu spät, Rio ist oben in den Hitparaden gelandet.
1988 tritt er in Ostberlin auf. Er singt seinen alten Scherben-Song “Der Traum ist aus”, darin fragt er: “Gibt es ein Land auf der Erde, wo der Traum Wirklichkeit ist?” Das Publikum schreit: “Dieses Land ist es nicht!” Ein Jahr später ist die DDR Geschichte.
Rio Reisers Songs sind begnadet. Seine Kompositionen sind wild und rau, sanft und zärtlich, manchmal melodramatisch und immer geprägt von einer kaum zu bändigenden Leidenschaft. Deutsche Popmusiker werden bis heute nicht müde, Rio Reiser als eines ihrer wichtigsten Vorbilder zu bezeichnen, seine Songs werden wieder und wieder gecovert. Zuweilen wird Rio Reiser mythisiert – was sicher auch seinem plötzlichen Tod am 20. August 1996 zu verdanken ist.
In Zukunft also können die Menschen auf den Spuren des Musikers über die Kreuzberger Oranienstraße wandeln, vorbei an Kneipen und Cafés zum Rio-Reiser-Platz schlendern – und vielleicht haben sie dabei die Melodie vom “König von Deutschland” im Kopf.
Dieser Artikel von 2020 wurde anlässlich der Umbenennung des Heinrichplatzes in Rio-Reiser-Platz aktualisiert.