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Dschinderis in Syrien – auf der Suche nach den Toten

Über zwei Monate sind seit den Erdbeben in der Türkei und Syrien vergangen. Millionen Menschen leben noch immer in Zelten und trauern um die Toten. Im syrischen Dschinderis sucht eine Familie bis heute nach ihrem Sohn.

Als Mushir Sheikho, seine Frau Dilshan und seine Kinder aus ihrem Haus in Dschinderis im Nordwesten Syriens fliehen wollten, um sich in Sicherheit zu bringen, war es bereits zu spät. “Ich spürte, wie die Erde zu beben begann, dann kam mir die Hauswand entgegen”, erzählt Mushir Sheikho. Das nächste woran er sich erinnert, ist, dass er auf einer Krankenstation aufgewacht ist.

Um 4.17 Uhr am 6. Februar brachte ein Erdbeben der Stärke 7,7 im Südosten der Türkei Häuser zum Einsturz, Zehntausende wurden unter den Trümmern begraben. Auf das erste Beben folgte am Nachmittag desselben Tages eines der Stärke 7,6 – und mehrere Nachbeben.

Als Mushir Sheikho, seine Frau Dilshan und seine Kinder aus ihrem Haus in Dschinderis im Nordwesten Syriens fliehen wollten, um sich in Sicherheit zu bringen, war es bereits zu spät. “Ich spürte, wie die Erde zu beben begann, dann kam mir die Hauswand entgegen”, erzählt Mushir Sheikho. Das nächste woran er sich erinnert, ist, dass er auf einer Krankenstation aufgewacht ist.

Die offizielle Zahl der Todesopfer des Erdbebens liegt bei 50.000 in der Türkei, im Norden Syriens sollen es schätzungsweise 7000 Tote sein. Experten gehen jedoch davon aus, dass die Zahlen in beiden Ländern weitaus höher liegen. Besonders in Syrien fehlte es an Bergungsgeräten, viele Helfer zogen Opfer mit bloßen Händen aus den Trümmern.

Angehörige werden vermisst

Auch in der Familie Sheikho haben nicht alle überlebt. Für fast niemanden in Dschinderis geht das Leben normal weiter. Kaum einer hatte Glück, wenn überhaupt, dann Glück im Unglück. Zwischen Leben und Tod lagen häufig nur Meter, ein paar Sekunden. Das Erdbeben hat eine Zerstörung angerichtet, wie sie hier noch niemand erlebt hat – und in Syrien herrscht seit 2011 Krieg. 60 Prozent von Dschinderis liegen in Trümmern, 90 Prozent aller Gebäude sind nach Angaben von Ärzte ohne Grenzen beschädigt. Heute sind schätzungsweise 90 Prozent der 4,6 Millionen Menschen im Nordwesten Syriens auf humanitäre Hilfe angewiesen.

Die meisten Menschen in Dschinderis leben in Zelten unter schwierigen Bedingungen, sagt die Politologin Radwa Khaled-Ibrahim, die bei der Organisation Medico International als Referentin für kritische Nothilfe arbeitet. Wer nicht selbst Haus und Habe verloren hat, hat keine Arbeit mehr oder vermisst Angehörige. So wie Mushir Sheikho. Der 35-Jährige vermisst bis heute einen Sohn.

Sheikho leidet seit dem Beben unter Gedächtnislücken. Er kann sich nicht mehr an alles erinnern, vergisst immer wieder Ereignisse, die in der Gegenwart passieren. Dass seine Frau Dilshan und zwei seiner vier Kinder tot geborgen wurden, hat ihm die Familie erst einige Wochen nach dem Beben erzählt. “Wir hatten Angst, dass es seine sowieso schon angeschlagene Gesundheit weiter beeinträchtigten könnte“, sagt seine Schwester Intisar. “Wir mussten ihn zum Friedhof bringen, damit er uns glaubt, dass sie tot sind.” Ihre Gräber liegen neben Dutzenden Gräbern, einige davon ohne Namen, auf dem Friedhof von Dschinderis. 

Doch Familie Sheikho stand vor einer weiteren Herausforderung: Mushir Sheikhos ältester Sohn überlebte, doch der 13-jährige Mustafa gilt weiterhin als vermisst. “Als wir bei einem erneuten Krankenhaus-Aufenthalt an seinem Bett saßen, sah er auf dem Handy seines ältesten Sohnes ein Video des vermissten Sohnes Mustafa und begann nach ihm zu fragen”, erzählt Intisar. Die Ärzte hatten ihnen geraten, ihm die Wahrheit zu sagen.

“Das war ein großer Schock für meinen Bruder Mushir, er hatte einen Nervenzusammenbruch”, sagt Intisar. Weil er Probleme mit dem Gedächtnis hat, vergisst er manchmal, dass ein Großteil seiner eigenen Familie tot ist, dass ein Sohn weiterhin vermisst wird. “Aber wenn er sich dann wieder erinnert, geht es ihm unglaublich schlecht.” Strukturen für eine psychosoziale Unterstützung seien so gut wie nicht existent, sagt Medico-Referentin Radwa Khaled-Ibrahim. Die Kräfte, die in der Region vorhanden sind, kümmerten sich meist um die Kinder. Dabei sei der Bedarf auch bei Erwachsenen sehr groß.

Auch mehr als zwei Monate nach dem verheerenden Erdbeben gibt Mushirs Familie die Suche nach Mustafa nicht auf. Dabei können sie auf die Unterstützung der Behörden von Dschinderis bauen. Die Stadtverwaltung, die sich in Absprache mit internationalen Organisationen eigentlich um die Wasser- und Gesundheitsversorgung kümmert, dokumentiert seit dem Beben auch die Leichen, die nicht sofort identifiziert werden können.

“Wir versuchen, alle zu dokumentieren und Fotos von ihnen zu machen, bevor wir sie beerdigen. Aber einige sind so stark entstellt, dass es nicht einfach ist, sie zu erkennen“, sagt der Direktor des Gemeinderates Yazan al-Naser. “Wir werden weiterhin nach den Angehörigen suchen, die vermisst werden.”

Bis 2018 wurde Dschinderis von kurdischen Kämpfern kontrolliert, dann nahmen von der Türkei unterstützte Oppositionskämpfer die Stadt ein.

Auch die Sheikhos erhalten immer wieder Fotos von Leichen. Allein der Anblick dieser Bilder ist für sie jedes Mal eine Herausforderung für sie. Bisher konnten sie Mustafa auf keinem der Bilder erkennen. Die Suche nahm ihm wollen sie nicht aufgeben, denn nur so könne der Trauerprozess beginnen, sagt Intisar.

Mushirs Gesundheitszustand ist bis heute nicht stabil. Sein Haus, das er mit seinen eigenen Händen gebaut hat, liegt in Schutt und Asche. Das Leben in dem Zelt auf engstem Raum unter schlechten hygienischen Bedingungen hat ihm so zugesetzt, dass er es jetzt verlassen hat. Und: Er vermisst seine verstorbene Frau und seine Kinder. Seine Angehörigen versuchen trotz aller Widrigkeiten, für ihn zu sorgen. Gleichzeitig suchen sie weiter nach Mustafa, in der Hoffnung, ihn vielleicht sogar lebend zu finden oder zumindest seine Leiche zu bergen, um ihn beerdigen zu können – bei seiner Mutter und seinen Geschwistern.

Intisar Sheikho (rechts) steht mit einem Mann (links) auf den Trümmern des total zerstörten Hauses ihres Bruders Mushir in Dschinderis
Mushir Sheikho sitzt auf einem Bett und schaut auf sein Handy, das neben ihm liegt
Ein Mädchen läuft mit einem Kind auf dem Arm zwischen Zelten entlang

Als Mushir Sheikho, seine Frau Dilshan und seine Kinder aus ihrem Haus in Dschinderis im Nordwesten Syriens fliehen wollten, um sich in Sicherheit zu bringen, war es bereits zu spät. “Ich spürte, wie die Erde zu beben begann, dann kam mir die Hauswand entgegen”, erzählt Mushir Sheikho. Das nächste woran er sich erinnert, ist, dass er auf einer Krankenstation aufgewacht ist.

Um 4.17 Uhr am 6. Februar brachte ein Erdbeben der Stärke 7,7 im Südosten der Türkei Häuser zum Einsturz, Zehntausende wurden unter den Trümmern begraben. Auf das erste Beben folgte am Nachmittag desselben Tages eines der Stärke 7,6 – und mehrere Nachbeben.

Angehörige werden vermisst

Die offizielle Zahl der Todesopfer des Erdbebens liegt bei 50.000 in der Türkei, im Norden Syriens sollen es schätzungsweise 7000 Tote sein. Experten gehen jedoch davon aus, dass die Zahlen in beiden Ländern weitaus höher liegen. Besonders in Syrien fehlte es an Bergungsgeräten, viele Helfer zogen Opfer mit bloßen Händen aus den Trümmern.

Auch in der Familie Sheikho haben nicht alle überlebt. Für fast niemanden in Dschinderis geht das Leben normal weiter. Kaum einer hatte Glück, wenn überhaupt, dann Glück im Unglück. Zwischen Leben und Tod lagen häufig nur Meter, ein paar Sekunden. Das Erdbeben hat eine Zerstörung angerichtet, wie sie hier noch niemand erlebt hat – und in Syrien herrscht seit 2011 Krieg. 60 Prozent von Dschinderis liegen in Trümmern, 90 Prozent aller Gebäude sind nach Angaben von Ärzte ohne Grenzen beschädigt. Heute sind schätzungsweise 90 Prozent der 4,6 Millionen Menschen im Nordwesten Syriens auf humanitäre Hilfe angewiesen.

Die meisten Menschen in Dschinderis leben in Zelten unter schwierigen Bedingungen, sagt die Politologin Radwa Khaled-Ibrahim, die bei der Organisation Medico International als Referentin für kritische Nothilfe arbeitet. Wer nicht selbst Haus und Habe verloren hat, hat keine Arbeit mehr oder vermisst Angehörige. So wie Mushir Sheikho. Der 35-Jährige vermisst bis heute einen Sohn.

Sheikho leidet seit dem Beben unter Gedächtnislücken. Er kann sich nicht mehr an alles erinnern, vergisst immer wieder Ereignisse, die in der Gegenwart passieren. Dass seine Frau Dilshan und zwei seiner vier Kinder tot geborgen wurden, hat ihm die Familie erst einige Wochen nach dem Beben erzählt. “Wir hatten Angst, dass es seine sowieso schon angeschlagene Gesundheit weiter beeinträchtigten könnte“, sagt seine Schwester Intisar. “Wir mussten ihn zum Friedhof bringen, damit er uns glaubt, dass sie tot sind.” Ihre Gräber liegen neben Dutzenden Gräbern, einige davon ohne Namen, auf dem Friedhof von Dschinderis. 

Keine psychosoziale Unterstützung für Erdbeben-Überlebende

Doch Familie Sheikho stand vor einer weiteren Herausforderung: Mushir Sheikhos ältester Sohn überlebte, doch der 13-jährige Mustafa gilt weiterhin als vermisst. “Als wir bei einem erneuten Krankenhaus-Aufenthalt an seinem Bett saßen, sah er auf dem Handy seines ältesten Sohnes ein Video des vermissten Sohnes Mustafa und begann nach ihm zu fragen”, erzählt Intisar. Die Ärzte hatten ihnen geraten, ihm die Wahrheit zu sagen.

Suche nach dem Sohn geht weiter 

“Das war ein großer Schock für meinen Bruder Mushir, er hatte einen Nervenzusammenbruch”, sagt Intisar. Weil er Probleme mit dem Gedächtnis hat, vergisst er manchmal, dass ein Großteil seiner eigenen Familie tot ist, dass ein Sohn weiterhin vermisst wird. “Aber wenn er sich dann wieder erinnert, geht es ihm unglaublich schlecht.” Strukturen für eine psychosoziale Unterstützung seien so gut wie nicht existent, sagt Medico-Referentin Radwa Khaled-Ibrahim. Die Kräfte, die in der Region vorhanden sind, kümmerten sich meist um die Kinder. Dabei sei der Bedarf auch bei Erwachsenen sehr groß.

Auch mehr als zwei Monate nach dem verheerenden Erdbeben gibt Mushirs Familie die Suche nach Mustafa nicht auf. Dabei können sie auf die Unterstützung der Behörden von Dschinderis bauen. Die Stadtverwaltung, die sich in Absprache mit internationalen Organisationen eigentlich um die Wasser- und Gesundheitsversorgung kümmert, dokumentiert seit dem Beben auch die Leichen, die nicht sofort identifiziert werden können.

“Wir versuchen, alle zu dokumentieren und Fotos von ihnen zu machen, bevor wir sie beerdigen. Aber einige sind so stark entstellt, dass es nicht einfach ist, sie zu erkennen“, sagt der Direktor des Gemeinderates Yazan al-Naser. “Wir werden weiterhin nach den Angehörigen suchen, die vermisst werden.”

Bis 2018 wurde Dschinderis von kurdischen Kämpfern kontrolliert, dann nahmen von der Türkei unterstützte Oppositionskämpfer die Stadt ein.

Auch die Sheikhos erhalten immer wieder Fotos von Leichen. Allein der Anblick dieser Bilder ist für sie jedes Mal eine Herausforderung für sie. Bisher konnten sie Mustafa auf keinem der Bilder erkennen. Die Suche nahm ihm wollen sie nicht aufgeben, denn nur so könne der Trauerprozess beginnen, sagt Intisar.

Mushirs Gesundheitszustand ist bis heute nicht stabil. Sein Haus, das er mit seinen eigenen Händen gebaut hat, liegt in Schutt und Asche. Das Leben in dem Zelt auf engstem Raum unter schlechten hygienischen Bedingungen hat ihm so zugesetzt, dass er es jetzt verlassen hat. Und: Er vermisst seine verstorbene Frau und seine Kinder. Seine Angehörigen versuchen trotz aller Widrigkeiten, für ihn zu sorgen. Gleichzeitig suchen sie weiter nach Mustafa, in der Hoffnung, ihn vielleicht sogar lebend zu finden oder zumindest seine Leiche zu bergen, um ihn beerdigen zu können – bei seiner Mutter und seinen Geschwistern.

Syrien: Intisar Sheikho steht vor den Trümmern der Stadt

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