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Demenz wird zu immer größerer Herausforderung in Nahost und Nordafrika

Bis 2050 drohen in der MENA-Region rund 400 Millionen ältere Menschen an Demenz zu erkranken. Auf diese Herausforderung ist die Region nur unzureichend vorbereitet. Die Gründe dafür sind vielfältig.

Das Verhalten ihres Vaters wurde immer unberechenbarer. So entschloss sich Mahbouba el-Hidri, medizinische Hilfe zu holen. Doch die Ärzte stellten ganz unterschiedliche Diagnosen. “Die meisten verschrieben nur Schmerzmittel”, erinnert sich die 51-jährige Tunesierin. “Schließlich suchten wir keine weiteren Ärzte mehr auf, sondern kümmerten uns selbst um unseren Vater. Zu dieser Zeit wussten wir noch nichts von Organisationen, die sich um Alzheimer-Patienten kümmern.”

Ähnliche Erfahrungen hat auch die Palästinenserin Leila gemacht. “Als meine Mutter erstmals erkrankte, war mir nicht klar, woran sie litt”, so Leila, die ihren richtigen Namen in der Öffentlichkeit nicht nennen möchte.

Das Verhalten ihres Vaters wurde immer unberechenbarer. So entschloss sich Mahbouba el-Hidri, medizinische Hilfe zu holen. Doch die Ärzte stellten ganz unterschiedliche Diagnosen. “Die meisten verschrieben nur Schmerzmittel”, erinnert sich die 51-jährige Tunesierin. “Schließlich suchten wir keine weiteren Ärzte mehr auf, sondern kümmerten uns selbst um unseren Vater. Zu dieser Zeit wussten wir noch nichts von Organisationen, die sich um Alzheimer-Patienten kümmern.”

Zu Beginn der Krankheit fragte Leilas Mutter nach Haushaltsgegenständen, die sich bereits seit Jahren im Haus befanden. “Zuerst ging mir das auf die Nerven, so Leila. “Aber dann begann ich über die Symptome zu lesen und begriff, dass sie auf Demenzzurückgehen könnten.”

Enormer Anstieg erwartet

In den Palästinensischen Autonomiegebieten gebe es einen Mangel an medizinischen Fachkräften, sagte Leila. Darum habe sie es äußerst schwierig gefunden, sich um ihre Mutter zu kümmern, die zudem noch an Diabetes litt.

Laut wissenschaftlichen Studien dürften in Nahost und Nordafrika künftig noch mehr Menschen mit ähnlichen Problemen zu kämpfen haben. In einem Anfang Februar in der britischen Fachzeitschrift “The Lancet” veröffentlichten Bericht entwarfen Forscher auf Grundlage demografischer und gesundheitspolitischer Daten ein Szenario zur künftigen Verbreitung von Demenz in der Region. Die Zahl betroffener Patienten in der Region und weltweit dürfte auch  anderen Erhebungen zufolge steigen. Eines der besorgniserregenden Ergebnisse: Während die Zahl der Demenzfälle in Westeuropa demnach bis 2050 um 74 Prozent steigen wird, könnte sie in der MENA-Region (Nahost und Nordafrika) um mehr als 360 Prozent zunehmen. Bis zu 403 Millionen Menschen könnten dort im genannten Zeitraum an Demenz erkranken. Allein im Jahr 2018, so eine Schätzung der “Global Coalition on Aging”, litten bereits rund zwei Millionen Menschen im Nahen Osten an der Krankheit.

Die Gründe für den Anstieg sind in erster Linie demografischer Natur. Vereinfacht gesagt: Je mehr Menschen in einer Region leben und je älter sie werden, desto höher wird statistisch auch die Zahl der Demenzerkrankungen sein.

Aber es gibt auch andere, regionalspezifische Risikofaktoren. So ist es in den westlichen Staaten besser gelungen, die für die Entwicklung von Demenz bedeutsamen Zivilisationskrankheiten einzudämmen. Herzkrankheiten, Rauchen, Diabetes, Fettleibigkeit im mittleren Lebensalter, dazu wenig körperliche Betätigung, soziale Isolation und Luftverschmutzung: All dies lässt die Wahrscheinlichkeit für eine Demenzerkrankung im Alter steigen. In der Zurückdrängung vieler dieser Phänomene sind die westlichen Industriestaaten weiter als die meisten Länder der MENA-Region.

Auch geringe Bildung und Analphabetismus spielen nach Einschätzung von Ärzten bei der Demenzerkrankung eine Rolle. Dies hat mit der Entwicklung kognitiver Fähigkeiten zu tun. Als Faustregel gilt hier: Wer nicht liest, trainiert sein Gehirn weniger und hat ein dreifach höheres Risiko, später an Demenz zu erkranken.

So verstanden, ist Analphabetismusim Nahen Osten ein gesundheitlicher Risikofaktor. Während die durchschnittliche Alphabetisierungsrate weltweit bei rund 86 Prozent liegt, hinkt sie im Nahen Osten mit einer Rate von 79 Prozent (Daten aus dem Jahr 2019) hinterher. Allerdings verzeichnet auch die MENA-Region Fortschritte: 1973 lag die Alphabetisierungsrate dort noch bei 43 Prozent.

Tatsächlich gibt es im Nahen Osten nur wenige Statistiken über Demenz und zudem nur wenige geriatrische Fachärzte oder Pflegeeinrichtungen, so das Ergebnis einer Studie des auf Altenpflege spezialisierten Arztes Abdulrazak Abyad aus dem Libanon. Abyad hat mehrere fachspezifische Institutionen gegründet, so etwa die “Middle East Association on Aging and Alzheimer’s”.

“In Ägypten, wo Statistiken verfügbar sind, treten altersbedingte Krankheiten wie Schlaganfall und Herzkrankheiten bis zu 10 Jahre früher auf als im Westen”, so Abyad in einer Studie aus dem Jahr 2014. “Leider deutet dies darauf hin, dass der Nahe Osten möglicherweise viel früher als der Westen mit der Last der Alzheimer-Krankheit und verwandter Demenzerkrankungen konfrontiert wird.”

Hinzu kommen weitere Probleme. So mangelt es in der Region etwa an fachspezifischem Wissen, nicht zuletzt in vielen der ärmeren Länder dort. Fachleuten zufolge ist Demenz im Allgemeinen dort häufig wenig bekannt und wird von lokalen oder regionalen Gesundheitsbehörden oft als solche nicht erkannt. Auch mangelt es vielerorts an medizinischen Fachkräften und Pflegeeinrichtungen.

Auch kulturelle Umstände erschweren mitunter eine angemessene Versorgung in spezifischen Einrichtungen dafür. “Ältere Erwachsene genießen in der arabischen Kultur hohes Ansehen” heißt es in einer Studie saudische Mediziner aus dem Jahr 2019. “Darum wird die Unterbringung älterer Angehöriger außerhalb des Hauses als Vernachlässigung der familiären Pflichten angesehen.”

Viele Menschen seien nicht hinreichend über Demenz informiert und könnten sich darum auch nicht angemessen um Erkrankte kümmern, so die jemenitische Medizinerin Amal Saif. Nachdem sie 10 Jahre lang ihre demenzkranke Mutter gepflegt hatte, gründete sie die “Yemen Foundation against Alzheimer Dementia” (YFAAD).

“Die Zeit der Pflege war sehr schwierig”, erinnert sich Saif im DW-Interview. “Es gibt im Jemen nur sehr wenige Orte, die an Alzheimer erkrankte Personen aufnehmen oder an die man sich zwecks Unterstützung wenden kann”, sagt die ausgebildete Hämatologin.

“Manche Familien sprechen zwar offen darüber. Aber sie sind verunsichert.” Viele betrachteten die Erkrankung als natürlichen Teil des Alterungsprozesses. “Allerdings wissen manche nicht, wie sie mit den psychologischen Veränderungen umgehen sollen und sperren den Angehörigen einfach in ein Zimmer ein. Andere Familien betrachten die Erkrankung als Schande, die dem Ruf der Familie schade.”

Auch die gesellschaftliche Modernisierung trage zur Verschärfung der Probleme bei, sagt Abdulrazak Abyad. “Die Arbeitsmigration junger Menschen und das Bildungsgefälle zwischen den Familienmitgliedern sind mit für die Erosion des familiären Unterstützungssystems verantwortlich”, so der libanesische Mediziner. “Infolgedessen haben die Familien große Schwierigkeiten, ihre abhängigen älteren Menschen zu unterstützen”.

Das sieht auch Mahboubael-Hidri so. Sie pflegte ihren Vater 25 Jahre lang. “Wir vermissen ihn sehr. Trotz seiner Krankheit hatte er einen besonderen Platz bei uns.”

Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.

Jemen Frauen Gesellschaft Politik Gesundheit
Jemen Frauen Gesellschaft Politik Gesundheit
Amal Saif Jemen Foundation

Das Verhalten ihres Vaters wurde immer unberechenbarer. So entschloss sich Mahbouba el-Hidri, medizinische Hilfe zu holen. Doch die Ärzte stellten ganz unterschiedliche Diagnosen. “Die meisten verschrieben nur Schmerzmittel”, erinnert sich die 51-jährige Tunesierin. “Schließlich suchten wir keine weiteren Ärzte mehr auf, sondern kümmerten uns selbst um unseren Vater. Zu dieser Zeit wussten wir noch nichts von Organisationen, die sich um Alzheimer-Patienten kümmern.”

Ähnliche Erfahrungen hat auch die Palästinenserin Leila gemacht. “Als meine Mutter erstmals erkrankte, war mir nicht klar, woran sie litt”, so Leila, die ihren richtigen Namen in der Öffentlichkeit nicht nennen möchte.

Enormer Anstieg erwartet

Zu Beginn der Krankheit fragte Leilas Mutter nach Haushaltsgegenständen, die sich bereits seit Jahren im Haus befanden. “Zuerst ging mir das auf die Nerven, so Leila. “Aber dann begann ich über die Symptome zu lesen und begriff, dass sie auf Demenzzurückgehen könnten.”

In den Palästinensischen Autonomiegebieten gebe es einen Mangel an medizinischen Fachkräften, sagte Leila. Darum habe sie es äußerst schwierig gefunden, sich um ihre Mutter zu kümmern, die zudem noch an Diabetes litt.

Laut wissenschaftlichen Studien dürften in Nahost und Nordafrika künftig noch mehr Menschen mit ähnlichen Problemen zu kämpfen haben. In einem Anfang Februar in der britischen Fachzeitschrift “The Lancet” veröffentlichten Bericht entwarfen Forscher auf Grundlage demografischer und gesundheitspolitischer Daten ein Szenario zur künftigen Verbreitung von Demenz in der Region. Die Zahl betroffener Patienten in der Region und weltweit dürfte auch  anderen Erhebungen zufolge steigen. Eines der besorgniserregenden Ergebnisse: Während die Zahl der Demenzfälle in Westeuropa demnach bis 2050 um 74 Prozent steigen wird, könnte sie in der MENA-Region (Nahost und Nordafrika) um mehr als 360 Prozent zunehmen. Bis zu 403 Millionen Menschen könnten dort im genannten Zeitraum an Demenz erkranken. Allein im Jahr 2018, so eine Schätzung der “Global Coalition on Aging”, litten bereits rund zwei Millionen Menschen im Nahen Osten an der Krankheit.

Die Gründe für den Anstieg sind in erster Linie demografischer Natur. Vereinfacht gesagt: Je mehr Menschen in einer Region leben und je älter sie werden, desto höher wird statistisch auch die Zahl der Demenzerkrankungen sein.

Vielfältige Gründe

Aber es gibt auch andere, regionalspezifische Risikofaktoren. So ist es in den westlichen Staaten besser gelungen, die für die Entwicklung von Demenz bedeutsamen Zivilisationskrankheiten einzudämmen. Herzkrankheiten, Rauchen, Diabetes, Fettleibigkeit im mittleren Lebensalter, dazu wenig körperliche Betätigung, soziale Isolation und Luftverschmutzung: All dies lässt die Wahrscheinlichkeit für eine Demenzerkrankung im Alter steigen. In der Zurückdrängung vieler dieser Phänomene sind die westlichen Industriestaaten weiter als die meisten Länder der MENA-Region.

Mangelndes Wissen

Auch geringe Bildung und Analphabetismus spielen nach Einschätzung von Ärzten bei der Demenzerkrankung eine Rolle. Dies hat mit der Entwicklung kognitiver Fähigkeiten zu tun. Als Faustregel gilt hier: Wer nicht liest, trainiert sein Gehirn weniger und hat ein dreifach höheres Risiko, später an Demenz zu erkranken.

So verstanden, ist Analphabetismusim Nahen Osten ein gesundheitlicher Risikofaktor. Während die durchschnittliche Alphabetisierungsrate weltweit bei rund 86 Prozent liegt, hinkt sie im Nahen Osten mit einer Rate von 79 Prozent (Daten aus dem Jahr 2019) hinterher. Allerdings verzeichnet auch die MENA-Region Fortschritte: 1973 lag die Alphabetisierungsrate dort noch bei 43 Prozent.

Tatsächlich gibt es im Nahen Osten nur wenige Statistiken über Demenz und zudem nur wenige geriatrische Fachärzte oder Pflegeeinrichtungen, so das Ergebnis einer Studie des auf Altenpflege spezialisierten Arztes Abdulrazak Abyad aus dem Libanon. Abyad hat mehrere fachspezifische Institutionen gegründet, so etwa die “Middle East Association on Aging and Alzheimer’s”.

Eine Frage der Ehre?

“In Ägypten, wo Statistiken verfügbar sind, treten altersbedingte Krankheiten wie Schlaganfall und Herzkrankheiten bis zu 10 Jahre früher auf als im Westen”, so Abyad in einer Studie aus dem Jahr 2014. “Leider deutet dies darauf hin, dass der Nahe Osten möglicherweise viel früher als der Westen mit der Last der Alzheimer-Krankheit und verwandter Demenzerkrankungen konfrontiert wird.”

Hinzu kommen weitere Probleme. So mangelt es in der Region etwa an fachspezifischem Wissen, nicht zuletzt in vielen der ärmeren Länder dort. Fachleuten zufolge ist Demenz im Allgemeinen dort häufig wenig bekannt und wird von lokalen oder regionalen Gesundheitsbehörden oft als solche nicht erkannt. Auch mangelt es vielerorts an medizinischen Fachkräften und Pflegeeinrichtungen.

Scham und Unsicherheit

Auch kulturelle Umstände erschweren mitunter eine angemessene Versorgung in spezifischen Einrichtungen dafür. “Ältere Erwachsene genießen in der arabischen Kultur hohes Ansehen” heißt es in einer Studie saudische Mediziner aus dem Jahr 2019. “Darum wird die Unterbringung älterer Angehöriger außerhalb des Hauses als Vernachlässigung der familiären Pflichten angesehen.”

Auflösung familiärer Bande

Viele Menschen seien nicht hinreichend über Demenz informiert und könnten sich darum auch nicht angemessen um Erkrankte kümmern, so die jemenitische Medizinerin Amal Saif. Nachdem sie 10 Jahre lang ihre demenzkranke Mutter gepflegt hatte, gründete sie die “Yemen Foundation against Alzheimer Dementia” (YFAAD).

VAE Dubai | Mutter und Kinder am Strand von al-Mamzer

“Die Zeit der Pflege war sehr schwierig”, erinnert sich Saif im DW-Interview. “Es gibt im Jemen nur sehr wenige Orte, die an Alzheimer erkrankte Personen aufnehmen oder an die man sich zwecks Unterstützung wenden kann”, sagt die ausgebildete Hämatologin.

“Manche Familien sprechen zwar offen darüber. Aber sie sind verunsichert.” Viele betrachteten die Erkrankung als natürlichen Teil des Alterungsprozesses. “Allerdings wissen manche nicht, wie sie mit den psychologischen Veränderungen umgehen sollen und sperren den Angehörigen einfach in ein Zimmer ein. Andere Familien betrachten die Erkrankung als Schande, die dem Ruf der Familie schade.”

Auch die gesellschaftliche Modernisierung trage zur Verschärfung der Probleme bei, sagt Abdulrazak Abyad. “Die Arbeitsmigration junger Menschen und das Bildungsgefälle zwischen den Familienmitgliedern sind mit für die Erosion des familiären Unterstützungssystems verantwortlich”, so der libanesische Mediziner. “Infolgedessen haben die Familien große Schwierigkeiten, ihre abhängigen älteren Menschen zu unterstützen”.

Das sieht auch Mahboubael-Hidri so. Sie pflegte ihren Vater 25 Jahre lang. “Wir vermissen ihn sehr. Trotz seiner Krankheit hatte er einen besonderen Platz bei uns.”

Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.

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