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Polen/Ungarn: Die EU bestraft und erpresst uns

Die Regierungen Polens und Ungarns sehen hinter dem EuGH-Urteil zum Rechtsstaatsmechanismus einen politischen Angriff. Ungarn kündigt ein winziges Zugeständnis an.

Wenn die Regierung eines Landes vor Gericht in einer bestimmten Angelegenheit klagt und verliert, ist sie aller Wahrscheinlichkeit nach nicht erfreut. Und womöglich auch sehr unzufrieden – verständlicherweise. Aber eine zurückgewiesene Klage in einer Sachfrage als Angriff des Gerichts auf die eigene Nation zu werten, erscheint recht weit hergeholt. Doch genau in dieser Weise reagierten Vertreter Ungarns und Polens, nachdem der Europäische Gerichtshof (EuGH) am Mittwoch (16.02.2022) die Klage der Regierungen beider Länder gegen den neuen EU-Rechtsstaatsmechanismus zurückgewiesen hatte. Der ermöglicht es der Brüsseler EU-Kommission, finanzielle Sanktionen gegen Mitgliedsstaaten zu initiieren, wenn sie in Bereichen, in denen EU-Gelder impliziert sind, rechtsstaatliche Werte der Union verletzt sieht.

Der EuGH habe ein politisches Urteil gefällt, sagte die ungarische Justizministerin Judit Varga am Mittwoch nach der Bekanntgabe der Entscheidung. Das Urteil sei der “lebende Beweis dafür, dass Brüssel seine Macht missbrauche”. In Polen sprach Vargas Amtskollege Zbigniew Ziobro davon, dass die EU Polen mit dem Rechtstaatsmechanismus “wirtschaftlich erpressen” würde. Brüssel übe Druck aus, um Polens Souveränität einzuschränken, “zum Beispiel im Bereich Recht und Werte”.

Wenn die Regierung eines Landes vor Gericht in einer bestimmten Angelegenheit klagt und verliert, ist sie aller Wahrscheinlichkeit nach nicht erfreut. Und womöglich auch sehr unzufrieden – verständlicherweise. Aber eine zurückgewiesene Klage in einer Sachfrage als Angriff des Gerichts auf die eigene Nation zu werten, erscheint recht weit hergeholt. Doch genau in dieser Weise reagierten Vertreter Ungarns und Polens, nachdem der Europäische Gerichtshof (EuGH) am Mittwoch (16.02.2022) die Klage der Regierungen beider Länder gegen den neuen EU-Rechtsstaatsmechanismus zurückgewiesen hatte. Der ermöglicht es der Brüsseler EU-Kommission, finanzielle Sanktionen gegen Mitgliedsstaaten zu initiieren, wenn sie in Bereichen, in denen EU-Gelder impliziert sind, rechtsstaatliche Werte der Union verletzt sieht.

Die Regierungen Ungarns und Polens dürften erwartet haben, dass ihre Klage zurückgewiesen wird. Ein Rechtsgutachten war vor wenigen Wochen zu dem Schluss gekommen, dass die Beschwerde beider Länder unbegründet sei. Der EuGH urteilt überwiegend im Sinne solcher Gutachten. Überrascht schien daher in Budapest und Warschau niemand.

Keine Überraschung

Ungarische Regierungsvertreter kommentierten das EuGH-Urteil im Sinne der bei ihnen seit längerem vorherrschenden Lesart, der zufolge Brüssel Ungarn dafür bestrafe, dass es seine eigenen Werte und Prinzipien hochhalte. Der EuGH habe ein politisches Urteil wegen des Kinderschutzgesetzes getroffen, schrieb die Justizministerin Judit Varga auf Facebook und wiederholte das später auf einer Pressekonferenz. Die “bürokratische Elite” der EU könne die “freie Entscheidung und Meinung der Ungarn nicht akzeptieren”, so Varga.

Der Verweis auf den Kinderschutz bezieht sich auf ein 2021 verabschiedetes Gesetz, das sogenannte “LGBTQ-Propaganda” in Bildungseinrichtungen, Medien und in der Öffentlichkeit verbietet, wenn Minderjährige dazu Zugang haben könnten. Deswegen hat die Europäische Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn eingeleitet. Das hat allerdings nichts mit dem jetzigen EuGH-Urteil und dem Rechtsstaatsmechanismus zu tun.

In einer Stellungnahme von Fidesz, der Partei des ungarischen Premiers Viktor Orban, hieß es dennoch, das Urteil sei eine Strafe für den Versuch Ungarns, die “LGBTQ-Propaganda zu stoppen”. “Deshalb haben sie den Rechtsstaats-Dschihad begonnen, deshalb wollen sie unsere Heimat brandmarken, verurteilen und bestrafen”, so der Text.

Ein interessantes Eingeständnis kam derweil von Viktor Orbans Kanzleichef, dem Staatsminister Gergely Gulyas. Er sagte während einer Pressekonferenz, Brüssel kritisiere zu Recht den hohen Anteil an öffentlichen Ausschreibungen in Ungarn, bei denen jeweils nur ein einziges Angebot abgegeben werde. In dieser Angelegenheit werde die Regierung “tätig werden”. Wie, das präzisierte er nicht.

Ungarns Opposition hingegen sieht in dem EuGH-Urteil eine “riesige Ohrfeige für Orban”, wie es mehrere ihrer Vertreter ausdrückten. “Orban hat eine Niederlage erlitten, Ungarn hat gesiegt”, schrieb die ungarische Europaabgeordnete Katalin Cseh in einer Stellungnahme.

Während die Reaktionen auf das EuGH-Urteil in Ungarn in die beginnende heiße Wahlkampfphase fallen, könnten sie in Polen eine Regierungs- und Koalitionskrise auslösen. Der Regierungssprecher Piotr Mueller äußerte sich zunächst vorsichtig und riet von vorschnellen Kommentaren ab. Aus der Urteilsbegründung gehe hervor, dass die neuen Regeln nur in ganz speziellen und genau definierten Fällen angewendet werden dürften. Deswegen gebe es auch weder eine faktische noch rechtliche Grundlage, Polen finanzielle Mittel zu streichen.

Der polnische Regierungschef Mateusz Morawiecki kritisierte das Gerichtsurteil als ein “weiteres Kapitel im Buch der Erweiterung der Kompetenzen” der Europäischen Union, die damit in Domänen der Mitgliedsländer eingreife. Zugleich versuchte er, den Justizminister und Generalstaatsanwalt Zbigniew Ziobro zu beschwichtigen. Denn der hatte Morawiecki einen “historischen Fehler” vorgeworfen und scharf kritisiert, dass der polnische Regierungschef vor zwei Jahren in Brüssel dem Rechtstaatsmechanismus zugestimmt hatte.

Morawiecki sagte in diesem Zusammenhang, es wäre ein fundamentaler Fehler, wenn das EuGH-Urteil zu irgendwelchen “Streitigkeiten und Missverständnissen im Rahmen der Vereinigten Rechten führen” würde. Kommentatoren sprechen von einem Affront Ziobros, dem Chef der kleinen Partei Solidarisches Polen (SP), gegenüber Premier Morawiecki. Sie spekulieren darüber, dass nun die Zusammenarbeit der Koalitionspartner in Gefahr sei.

Unterdessen trat – am Tag der EuGH-Entscheidung – auch das polnische Verfassungsgericht zusammen und beriet über dasselbe Thema wie der Europäische Gerichtshof. Initiiert hatte das ebenfalls der Justizminister Ziobro – es ist unklar, inwieweit der Regierungschef Morawiecki darüber vorab informiert war. Auf Ziobros Antrag soll das polnische Verfassungsgericht prüfen, ob der EU-Rechtstaatsmechanismus mit der polnischen Verfassung vereinbar ist.

“Es ist ein politisches Spiel und kein Zufall, dass das Verfassungsgericht am gleichen Tag und beinahe zur gleichen Zeit in der gleichen Sache tagt”, sagt Robert Grzeszczak, Jurist und Rechtswissenschaftler an der Universität Warschau, der DW. Er betont, das polnische Verfassungsgericht habe gar nicht die Kompetenz, über den EU-Rechtsstaatsmechanismus zu urteilen. Seine Rechtsprechung habe letztlich keine Bedeutung für die europäischen Institutionen. “Genauso gut könnte es urteilen”, so Grzeszczak, “dass ein am Himmel leuchtender Mond mit der polnischen Verfassung unvereinbar ist.”

Ungarn Pál Völner mit Varga Judit im Parlament in Budapest
Ungarn l LGBT Demonstration in Budapest
Ungarn Gergely Gulyas PK zu EU

Wenn die Regierung eines Landes vor Gericht in einer bestimmten Angelegenheit klagt und verliert, ist sie aller Wahrscheinlichkeit nach nicht erfreut. Und womöglich auch sehr unzufrieden – verständlicherweise. Aber eine zurückgewiesene Klage in einer Sachfrage als Angriff des Gerichts auf die eigene Nation zu werten, erscheint recht weit hergeholt. Doch genau in dieser Weise reagierten Vertreter Ungarns und Polens, nachdem der Europäische Gerichtshof (EuGH) am Mittwoch (16.02.2022) die Klage der Regierungen beider Länder gegen den neuen EU-Rechtsstaatsmechanismus zurückgewiesen hatte. Der ermöglicht es der Brüsseler EU-Kommission, finanzielle Sanktionen gegen Mitgliedsstaaten zu initiieren, wenn sie in Bereichen, in denen EU-Gelder impliziert sind, rechtsstaatliche Werte der Union verletzt sieht.

Der EuGH habe ein politisches Urteil gefällt, sagte die ungarische Justizministerin Judit Varga am Mittwoch nach der Bekanntgabe der Entscheidung. Das Urteil sei der “lebende Beweis dafür, dass Brüssel seine Macht missbrauche”. In Polen sprach Vargas Amtskollege Zbigniew Ziobro davon, dass die EU Polen mit dem Rechtstaatsmechanismus “wirtschaftlich erpressen” würde. Brüssel übe Druck aus, um Polens Souveränität einzuschränken, “zum Beispiel im Bereich Recht und Werte”.

Keine Überraschung

Die Regierungen Ungarns und Polens dürften erwartet haben, dass ihre Klage zurückgewiesen wird. Ein Rechtsgutachten war vor wenigen Wochen zu dem Schluss gekommen, dass die Beschwerde beider Länder unbegründet sei. Der EuGH urteilt überwiegend im Sinne solcher Gutachten. Überrascht schien daher in Budapest und Warschau niemand.

Ungarische Regierungsvertreter kommentierten das EuGH-Urteil im Sinne der bei ihnen seit längerem vorherrschenden Lesart, der zufolge Brüssel Ungarn dafür bestrafe, dass es seine eigenen Werte und Prinzipien hochhalte. Der EuGH habe ein politisches Urteil wegen des Kinderschutzgesetzes getroffen, schrieb die Justizministerin Judit Varga auf Facebook und wiederholte das später auf einer Pressekonferenz. Die “bürokratische Elite” der EU könne die “freie Entscheidung und Meinung der Ungarn nicht akzeptieren”, so Varga.

Der Verweis auf den Kinderschutz bezieht sich auf ein 2021 verabschiedetes Gesetz, das sogenannte “LGBTQ-Propaganda” in Bildungseinrichtungen, Medien und in der Öffentlichkeit verbietet, wenn Minderjährige dazu Zugang haben könnten. Deswegen hat die Europäische Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn eingeleitet. Das hat allerdings nichts mit dem jetzigen EuGH-Urteil und dem Rechtsstaatsmechanismus zu tun.

In einer Stellungnahme von Fidesz, der Partei des ungarischen Premiers Viktor Orban, hieß es dennoch, das Urteil sei eine Strafe für den Versuch Ungarns, die “LGBTQ-Propaganda zu stoppen”. “Deshalb haben sie den Rechtsstaats-Dschihad begonnen, deshalb wollen sie unsere Heimat brandmarken, verurteilen und bestrafen”, so der Text.

“Ohrfeige für Orban”

Ein interessantes Eingeständnis kam derweil von Viktor Orbans Kanzleichef, dem Staatsminister Gergely Gulyas. Er sagte während einer Pressekonferenz, Brüssel kritisiere zu Recht den hohen Anteil an öffentlichen Ausschreibungen in Ungarn, bei denen jeweils nur ein einziges Angebot abgegeben werde. In dieser Angelegenheit werde die Regierung “tätig werden”. Wie, das präzisierte er nicht.

Koalitionsstreit in Polen

Ungarns Opposition hingegen sieht in dem EuGH-Urteil eine “riesige Ohrfeige für Orban”, wie es mehrere ihrer Vertreter ausdrückten. “Orban hat eine Niederlage erlitten, Ungarn hat gesiegt”, schrieb die ungarische Europaabgeordnete Katalin Cseh in einer Stellungnahme.

Während die Reaktionen auf das EuGH-Urteil in Ungarn in die beginnende heiße Wahlkampfphase fallen, könnten sie in Polen eine Regierungs- und Koalitionskrise auslösen. Der Regierungssprecher Piotr Mueller äußerte sich zunächst vorsichtig und riet von vorschnellen Kommentaren ab. Aus der Urteilsbegründung gehe hervor, dass die neuen Regeln nur in ganz speziellen und genau definierten Fällen angewendet werden dürften. Deswegen gebe es auch weder eine faktische noch rechtliche Grundlage, Polen finanzielle Mittel zu streichen.

Der polnische Regierungschef Mateusz Morawiecki kritisierte das Gerichtsurteil als ein “weiteres Kapitel im Buch der Erweiterung der Kompetenzen” der Europäischen Union, die damit in Domänen der Mitgliedsländer eingreife. Zugleich versuchte er, den Justizminister und Generalstaatsanwalt Zbigniew Ziobro zu beschwichtigen. Denn der hatte Morawiecki einen “historischen Fehler” vorgeworfen und scharf kritisiert, dass der polnische Regierungschef vor zwei Jahren in Brüssel dem Rechtstaatsmechanismus zugestimmt hatte.

Verfassungsgericht tagt am selben Tag zum selben Thema

Morawiecki sagte in diesem Zusammenhang, es wäre ein fundamentaler Fehler, wenn das EuGH-Urteil zu irgendwelchen “Streitigkeiten und Missverständnissen im Rahmen der Vereinigten Rechten führen” würde. Kommentatoren sprechen von einem Affront Ziobros, dem Chef der kleinen Partei Solidarisches Polen (SP), gegenüber Premier Morawiecki. Sie spekulieren darüber, dass nun die Zusammenarbeit der Koalitionspartner in Gefahr sei.

Unterdessen trat – am Tag der EuGH-Entscheidung – auch das polnische Verfassungsgericht zusammen und beriet über dasselbe Thema wie der Europäische Gerichtshof. Initiiert hatte das ebenfalls der Justizminister Ziobro – es ist unklar, inwieweit der Regierungschef Morawiecki darüber vorab informiert war. Auf Ziobros Antrag soll das polnische Verfassungsgericht prüfen, ob der EU-Rechtstaatsmechanismus mit der polnischen Verfassung vereinbar ist.

“Es ist ein politisches Spiel und kein Zufall, dass das Verfassungsgericht am gleichen Tag und beinahe zur gleichen Zeit in der gleichen Sache tagt”, sagt Robert Grzeszczak, Jurist und Rechtswissenschaftler an der Universität Warschau, der DW. Er betont, das polnische Verfassungsgericht habe gar nicht die Kompetenz, über den EU-Rechtsstaatsmechanismus zu urteilen. Seine Rechtsprechung habe letztlich keine Bedeutung für die europäischen Institutionen. “Genauso gut könnte es urteilen”, so Grzeszczak, “dass ein am Himmel leuchtender Mond mit der polnischen Verfassung unvereinbar ist.”

Polen Zbigniew Ziobro

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